Stress: Keiner will ihn, fast jeder hat ihn

Stress im Büro kann aggressiv machen
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Fast jeder hat ihn, keiner will ihn – obwohl er auch positive Seiten hat: Stress besitzt ein schlechtes Image. Nicht ganz zu Unrecht, denn er kann zerstörerische Kräfte freisetzen. Schon alltägliche Belastungen wie ein Ehekrach schaden der Gesundheit. Das geht aus einer US-amerikanischen Studie der Universität Ohio hervor, die in dem Fachblatt Archives of General Psychiatry veröffentlicht wurde. Sie zeigte, dass Streit mit dem Partner das Immunsystem so deutlich verändert, dass Vorgänge wie die Wundheilung verzögert ablaufen.
Kleine Hautverletzungen, die Ärzte den 42 teilnehmenden Ehepaaren vor der Untersuchung zugefügt hatten, verheilten nach einem Streit deutlich langsamer als nach einem harmonischen Beisammensein. Die Ursache dafür war eine verminderte Produktion von Zytokinen im Bereich der kleinen Hautwunden, wenn die Probanden sich stritten. Diese körpereigenen Botenstoffe spielen bei der Abwehr von Krankheitserregern eine wichtige Rolle.
Um den fließenden Übergang von Dauerstress in die Depression zu beschreiben, spricht er von "Stressdepression". Deren Symptome sind Erschöpfung, sozialer Rückzug und Antriebslosigkeit. Sie erhöht auch die Anfälligkeit für das metabolische Syndrom, ein "tödliches Quartett" aus erhöhten Blutfett- und Blutzuckerwerten, Bluthochdruck sowie bauchbetontem Übergewicht. Übergewicht und Bauchfett sind häufige Begleiterscheinungen von chronischem Stress.
Auch in diesem Punkt überschneiden sich seine Auswirkungen in gewisser Weise mit denen einer Depression. "Bei depressiven Menschen ist die Fettablagerung im Bauchgewebe ebenfalls auffällig, bei Männern genauso wie bei Frauen. Das heißt nicht, dass die Patienten einen dicken Bauch haben müssen. Viele verlieren sogar Gewicht.
Aber sie haben eine massive Fettverlagerung in das Bauchgewebe", erklärt Benkert. Dieses Gewebe wiederum produziert Botenstoffe, die wie Hormone wirken. Verantwortlich dafür sind Fehlsteuerungen der Stresshormone und des vegetativen Nervensystems.
Stresshormone machen dick
Die Hormone Kortisol und Adrenalin mobilisieren in Belastungssituationen mehr Fett und Glukose, um den Körper reaktionsschneller zu machen. Sie befähigen ihn zu einer entwicklungsgeschichtlich angelegten Kampf- oder Fluchtreaktion, die unseren Vorfahren das Überleben garantierte. Jeder kennt diese kurzzeitige Aktivierung, das "Hochfahren" aller Reaktionssysteme unter Stress.
Wer durch eine Vollbremsung gerade noch einen Auffahrunfall vermeiden konnte, hat zum Beispiel einen beschleunigten Puls, feuchte Hände und einen trockenen Mund. Klingt der Reiz nicht ab, bleiben sowohl die Kortisol-Ausschüttung als auch das Angebot von Fett und Glukose erhöht – und damit die Anspannung von Körper und Geist.
Stress gilt als Motor für die Entwicklung des Menschen und seine Anpassung an die sich ständig ändernden Umweltbedingungen. Hätten unsere Ahnen sich niemals Stress ausgesetzt, säßen wir alle vielleicht noch immer in unwirtlichen Höhlen um spärlich wärmende Holzfeuer. Erst Stress befähigt uns dazu, die Anforderungen des Alltags zu bewältigen, meint Dr. Sabine Schonert-Hirz, Internistin und Stress-Expertin aus Brühl. "Durch die Fähigkeit, Stress aufzubauen, sind wir überhaupt erst in der Lage, mit Anstrengungen umzugehen. Nur durch ihn können wir auf Veränderungen reagieren."
Stressreaktionen helfen ihrer Ansicht nach dabei, passende Lösungen für aktuelle Probleme zu finden oder – anders ausgedrückt – den Unterschied auszugleichen zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte. Wer friert, holt sich eine Jacke aus dem Schrank. Wer unter Zeitdruck steht, weil er eine dringende Aufgabe rechtzeitig abschließen muss, verschiebt Unwichtigeres auf einen späteren Zeitpunkt. Damit hilft Stress uns, einen Schritt weiterzukommen.
Anerkennung hält gesund
Stress kann also auch das Leben würzen. Er belebt, regt an, reißt uns aus der Routine und Langeweile des Tagesgeschäfts heraus. Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach haben 70 Prozent der Bevölkerung in Westdeutschland und 59 Prozent der Ostdeutschen positive Stresswirkungen schon am eigenen Leib erlebt. Am häufigsten empfinden sie Freiberufler und Selbstständige (45 Prozent) – Berufsgruppen also, für die Stress im Job häufig mit einer guten Auftragslage einhergeht.
Je anspruchsloser dagegen die Arbeit und je geringer die berufliche Verantwortung sind, umso seltener ist die Erfahrung, dass Stress auch Spaß machen kann. "Angelernte Arbeiter erleben nur zu 16 Prozent positiven Stress im Beruf", heißt es in dem Umfragebericht.
Das hat damit zu tun, dass Menschen in abhängigen Positionen oft nicht das Gefühl haben, ihre berufliche Situation entsprechend ihren Bedürfnissen gestalten zu können. Auch Lehrer, Alleinerziehende und Menschen, die kranke Angehörige pflegen, kennen das Gefühl, sich in einem Teufelskreis aus Anstrengung und fehlender Anerkennung zu bewegen. Insofern ist das gängige Bild vom gestressten Manager ein Klischee.
"Stress wird besser toleriert, wenn er Erfolg, Macht und gesellschaftliche Anerkennung sichert", sagt Benkert. Forscher der Universität Pittsburgh (USA) zeigten in Tests mit 200 Freiwilligen, dass der Kortisolspiegel bei Menschen mit höherem Einkommen und damit meist auch besserer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Position deutlich niedriger ist als bei schlechter bezahlten Personen.
Wenn Stress den eigenen Zielen oder der Selbstverwirklichung dient, dann nehmen wir ihn klaglos in Kauf. Wenn etwa eine Sekretärin nach der Arbeit noch in die City hetzt, um vor Ladenschluss die tollen Stiefel zu kaufen, die sie beim letzten Stadtbummel im Schaufenster entdeckt hat, wird sie diese objektiv anstrengende Tätigkeit nicht als Stress erleben und nach dem Kauf zufrieden nach Hause fahren.
Hätte stattdessen der Chef ihr aufgetragen, noch einen späten Botengang in der Stadt zu erledigen, sähe die Sache anders aus. Stress auslösende Faktoren, sogenannte Stressoren, führen erst dann zu belastenden Symptomen, wenn sie negativ bewertet werden. Die eigene Beurteilung ist ausschlaggebend.
Dabei spielt es keine Rolle, ob der Stress von außen oder durch die eigenen Gedanken und Vorstellungen entsteht. "Stressaktivität wird erst dann als anstrengend erlebt, wenn wir mit dem, was wir gerade tun, nicht zum Ziel kommen", sagt Schonert- Hirz. "Wenn die Ergebnisse unserer Bemühungen auf Dauer nicht zu einem positiven Ende führen, stellen sich negative Gefühle wie Frust, Ärger, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ein." Das angenehme Gefühl "Ich habe es geschafft" und die anschließende verdiente Entspannung bleiben aus.
Niemand ist den vielfältigen Belastungen durch Dauerstress hilflos ausgeliefert, denn man kann ihnen jederzeit die verletzende Spitze nehmen. "Das Wissen, dass falsche Gedankengänge bewusst korrigiert werden können, ist beim Umgang mit Stress sehr wichtig", betont Benkert.
Selbstkontrolle gegen Stress
Der Schlüssel für eine gelungene Stressbewältigung ist die Überzeugung, eine Situation kontrollieren und aus eigener Kraft zum Guten wenden zu können: "Ich bewältige das", "Ich kriege das schon hin", "Beim letzten Mal hat es schließlich auch geklappt". Angst, Ärger und Wut haben dann keine Chance. Manchmal steht aber auch eine größere Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit an: Eingeschliffene Einstellungen und Verhaltensweisen zu ändern oder neue Lebensziele zu definieren, das kann möglicherweise über eine Krise hinweghelfen. Einen weiteren Schutzwall gegen chronischen Stress bildet ein intaktes soziales Netz. Wer aus sich selbst und aus den Beziehungen zu Freunden und Familie Kraft schöpfen kann, ist gut gegen Belastungen gewappnet.
Die banalen Stressoren des Alltags lassen sich oft durch ein verbessertes Zeitmanagement ausschalten. In Situationen, die über längere Zeit mit extremen Belastungen verbunden sind – etwa Trennung, Scheidung, Tod des Partners, finanzielle Sorgen, Jobverlust oder Arbeitslosigkeit –, gibt es ebenfalls Ansätze für eine erfolgreiche Bewältigung. Ein Rettungsanker kann es sein, Unterstützung zuzulassen und sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen.
Ein Alarmzeichen dafür, dass Hilfe von außen notwendig wird: "Wenn man merkt, dass man nicht mehr in der Lage ist, positive Gefühle zu entwickeln. Wenn Dinge, die früher Kraft und Freude geschenkt haben, nur noch automatisch absolviert werden und sich zu einer neuen Stressquelle entwickeln. Wenn das, was man tut, in der Seele nicht mehr ankommt", sagt Schonert-Hirz.
Gelungene Stressbewältigung erhebt dabei nicht den Anspruch, alle negativen Gefühle wegzutrainieren. "Denn diese helfen uns, das Leben zu bewältigen. Wenn wir keine Angst hätten, würden wir blindlings über die Straße laufen oder unsere Kinder nicht von der Schule abholen." Für die Ärztin persönlich ist es erstrebenswert, eine Balance zwischen guten und schlechten Gefühlen zu erreichen. "100 Prozent Entspannung, das ist unrealistisch."