Logo der Apotheken Umschau

Mehr als eine Reflexion auf dem Wasser braucht es nicht, um Ben* zurück aufs Meer vor der libanesischen Küste zu katapultieren. Es reichen schon Sonnenstrahlen, die sich beim Schwimmtraining im Hallenbad auf der Wasseroberfläche brechen und Ben zurück ins Jahr 2010 bringen: Er ist damals Soldat auf Zeit und dient als Rettungsassistent auf einem Versorgungsschiff der deutschen Marine. Als Oberbootsmann ist er an einem Einsatz der Vereinten Nationen beteiligt, der den Schmuggel von Waffen in den Libanon unterbinden soll. Eines Tages zerschellt in der Nähe seines Versorgungsschiffes ein Flugzeug. Im Wasser treiben Verwundete und Leichen.

„Ich bestimme die Krankheit“

Heute erinnern die Lichtreflexe auf dem Wasser Bens Unterbewusstsein vermutlich an die Suchscheinwerfer, die damals das Meer nach Verletzten absuchten. Sie sind ein sogenannter Trigger, der bei Ben zu einem Wiedererleben der schrecklichen Ereignisse von damals führen kann. 2015 wurde bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. Seitdem ist er in Therapie, kämpft gegen die traumatischen Erinnerungen.

Sport als Therapie: Ben musste zusehen, wie vor seinen Augen Menschen ertranken. Helfen durfte er ihnen nicht. Das belastet ihn bis heute. Beim Radfahren bekommt er den Kopf frei.

Sport als Therapie: Ben musste zusehen, wie vor seinen Augen Menschen ertranken. Helfen durfte er ihnen nicht. Das belastet ihn bis heute. Beim Radfahren bekommt er den Kopf frei.

Nun tritt er als Athlet im Schwimmen und Radfahren bei den Invictus Games in Düsseldorf an: „Ich will beweisen, dass ich die Krankheit bestimme und nicht die Krankheit mich.“ Die Wettkämpfe werden im Bundeswehr-Jargon auch „Versehrtenspiele“ genannt und wurden 2014 auf die Initiative von Prinz Harry ins Leben gerufen.

Etwa 20 % der Heimkehrenden leiden an PTBS

Die Spiele, an denen Versehrte aus 22 Nationen teilnehmen, sollen die Leistungen von Soldatinnen und Soldaten sowie deren Schicksale sichtbar machen. Sie sollen verdeutlichen, wie wichtig Sport für die Rehabilitation ist. In Zeiten, in denen viel über die künftige Rolle der Bundeswehr in der Welt gesprochen wird, werfen sie auch ein Schlaglicht darauf, wie Veteraninnen und Veteranen nach ihrem Einsatz in der Heimat medizinisch versorgt werden. Alle, die an den Invictus Games teilnehmen, wurden im Einsatz verletzt. Den meisten von ihnen sieht man das nicht an. Sie leiden wie Ben an PTBS und gehören damit zu einer großen Gruppe von Soldatinnen und Soldaten mit einsatzbedingten psychischen Folgeerkrankungen.

Davon sind gut 20 Prozent aller Heimkehrenden betroffen, wie die sogenannte „Dunkelzifferstudie“ am Beispiel des Afghanistan-Einsatzes und im Auftrag des Bundestags gezeigt hat. Bei mehr als 500.000 Bundeswehrangehörigen, die seit Anfang der 1990er Jahre zu Auslandseinsätzen entsendet wurden (90.000 davon nach Afghanistan), wären das gut 100.000 Menschen.

Sport als Therapie

Rückblick: ein Mittwoch im Juni. Ben trainiert in der Sportschule der Bundeswehr in Warendorf für die anstehenden Spiele. Er sitzt auf einer Bank neben den Volleyballplätzen. Sein Trikot im Camouflage-Stil spannt sich um seine muskulösen Oberarme. Der 44-Jährige trägt Dreitagebart und Halbglatze, er schwäbelt ein wenig. Neben ihm liegen Kopfhörer, über die er Musik hören wird, wenn er am Wettkampftag zum Startblock am Schwimmbecken läuft. Im Wettkampf und beim Training steht außerdem eine Psychologin am Beckenrand, die ihn ins Hier und Jetzt zurückholen kann, wenn die traumatischen Erinnerungen beim Schwimmen wiederkehren sollten: „Aus einem Flashback komme ich alleine nicht raus. Im schlimmsten Fall schwimme ich in Düsseldorf bei den Wettkämpfen zwischen Leichenteilen.“

Für Ben sind die Spiele vor allem eins: Teil seiner Therapie. „Ich will erleben, dass das, was ich mir über Jahre an Strategien angeeignet habe, um mit meiner Krankheit umzugehen, auch in einer Extremsituation funktioniert“, sagt er. Gerade eben ist er noch ein Testrennen auf seinem Liegerad gefahren. Das Radfahren hilft ihm, den Kopf freizubekommen. Vor allem wenn er zuvor geschwommen ist – immer mit der Angst vor den Bildern, die ihn seit seinem Einsatz vor dem Libanon begleiten. Dabei traumatisierten ihn wohl nicht die Körperteile, die im Meer trieben. Sondern die Tatsache, dass er, der erfahrene Rettungsassistent, zunächst nichts tun durfte. „Man warnte uns, der Absturz könnte ein Lock-manöver sein“, erzählt Ben. Die Anspannung sei groß und jede Einfahrt in den Beiruter Hafen von der Gefahr durch Seeminen und Schnellbootangriffen begleitet gewesen.

Selbstvertrauen wieder herstellen

Am Ende stellte die Besatzung nur sicher, dass die Einzelteile des Flugzeugs und die der Menschen Richtung Küste trieben. Für Ben war das ein Trauma, durch das er das Vertrauen in sich und andere verlor. Zurück in Deutschland, schottete er sich ab, lebte nur noch für den Job – auch weil er auf seinem Schiff morgens, mittags und abends eine Mahlzeit bekam. So musste er kaum einkaufen gehen. Fremde Menschen, viele Menschen auf einmal – das ertrug er nicht. Oder nur, wenn er reichlich Alkohol getrunken hatte. Durch Sport können Erkrankte wie Ben wieder Vertrauen aufbauen.

„Die Soldatinnen und Soldaten setzen sich wieder Ziele, verfolgen diese und lernen an Erfolgen und Misserfolgen“, erklärt Katja Schadow. Die Truppenpsychologin begleitet das zweite deutsche Team bei den Invictus Games und arbeitete mehrere Jahre im Bereich Sporttherapie, die die Sportschule der Bundeswehr Betroffenen in Warendorf anbietet. In der Therapie gehe es genauso wenig um Leistung wie bei den Spielen um Medaillen, so die Psychologin. „Es geht darum, parallel zu herkömmlichen Therapieansätzen Ressourcen wie soziale Kompetenzen, Selbstvertrauen und Motivation wieder aufzubauen. Dabei können die beim Sport gesammelten Erfahrungen auf andere Bereiche wie Gesundheit, Familie und Arbeit übertragen werden“, so Schadow.

In der Traumatherapie, einem klassischen Verfahren im Umgang mit PTBS, wird diese durch die wiederholte Konfrontation mit dem Trauma behandelt. Ergänzt werden kann die Maßnahme durch Stabilisierungs- und Verhaltenstherapien und eine begleitende medikamentöse Therapie. „Da eine PTBS in den seltensten Fällen vollständig heilt, lernen die Betroffenen mithilfe der verschiedenen Therapien, mit ihrer Erkrankung zu leben und sich neuen Herausforderungen zu stellen“, sagt Schadow.

Trauma in Afghanistan

Andreas Eggert kam 2015 nach Warendorf zur Sporttherapie, 2017 nahm er im kanadischen Toronto an den Invictus Games teil. „Der Sport hat mir gezeigt, dass ich imstande bin, noch etwas zu leisten“, sagt er. Auch Eggert war als Soldat im Einsatz. In den Jahren 1999 und 2000 stand er im Kosovo vor Massengräbern. Die Bilder und der Geruch lassen ihn bis heute nicht los. Zwischen 2006 und 2013 war er sieben Mal in Afghanistan. Für den Militärischen Abschirmdienst sorgte er für die Sicherheit der Truppe. Er erlebte Raketenangriffe, Selbstmordanschläge und Väter, die ihre Töchter verbrühten – in der Hoffnung, ins deutsche Lager zu gelangen und selbst medizinisch versorgt zu werden.

Zu seinem Job gehörte auch die Informationsbeschaffung, die Arbeit mit sogenannten Informationsträgern – Menschen, die er später mitunter auf Enthauptungsvideos identifizieren musste. „Dass ich mich verändert habe, merkte ich bereits nach dem Kosovo-Einsatz“, erinnert sich Eggert. Der Leidensdruck verstärkte sich in den Folgejahren. Während er als Soldat im Einsatz funktionierte, weil der Feind klar benannt war und ihm seine Waffe, seine Weste und die Zäune der Lager
Sicherheit gaben, erschien ihm zu Hause irgendwann alles gefährlich. Jede Autofahrt, jeder Einkauf machte ihm zu schaffen, auch laute Geräusche – besonders Kindergeschrei. „Ich fand keine Ruhe, schlief nicht mehr durch“, erzählt Eggert.

Andreas Eggert war im Kosovo und in Afghanistan stationiert. Während er im Dienst funktionierte, erschien ihm zu Hause alles gefährlich.

Andreas Eggert war im Kosovo und in Afghanistan stationiert. Während er im Dienst funktionierte, erschien ihm zu Hause alles gefährlich.

Späte Diagnose

Die Diagnose PTBS erhielt er 2013, heute ist der 47-Jährige aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig im Ruhestand und engagiert sich im Bund Deutscher EinsatzVeteranen (BDV). Wenn Andreas Eggert an die Invictus Games in Toronto denkt, fallen ihm als Erstes seine beiden Kinder ein, die dabei sein durften. „Die waren so stolz, als sie sahen, dass ihr Papa noch etwas leisten kann, auch wenn meine Wettkampfzeiten wirklich nicht gut waren“, erzählt Eggert und lacht. Er hofft, dass die Wahrnehmung und Anerkennung von Veteraninnen und Veteranen durch die Spiele steigt – und sich damit auch ihre Versorgung verbessert, vor allem die der psychisch erkrankten und nicht mehr aktiven Zeitsoldatinnen und -soldaten.

Zwar ist die Sensibilität in der Gesellschaft und in der Bundeswehr gestiegen, der Einsatz von Soldatinnen und Soldaten wird mehr gewürdigt. Auch das Hilfsangebot ist größer geworden. Doch es bleiben Probleme: vor allem wenn es um den Umgang mit psychischen Belastungen nach einem Einsatz geht. PTBS entwickelt sich meist schleichend, eine Diagnose erfolgt häufig erst Jahre nach dem eigentlichen Trauma. Für die Betroffenen ist es nicht einfach nachzuweisen, dass ihre Probleme auf den Einsatz zurückzuführen sind. Zeitsoldatinnen und -soldaten, bei denen sich die Folgen der psychischen Belastungen erst nach Dienstzeitende zeigen, erreichen die Hilfsangebote oft nicht, so die Erfahrung von Eggert, der Betroffene für den BDV berät: „Viele von ihnen verlieren alles und fallen ins soziale Nichts.“

Schwere Rückkehr in den Beruf

Eigentlich soll dies ein Gesetz verhindern, das den sperrigen Titel „Einsatzweiterverwendungsgesetz“ trägt. Es soll sowohl noch aktiven als auch bereits ausgeschiedenen Zeitsoldatinnen und -soldaten ein Anrecht auf Weiterbeschäftigung geben. „Nur dauern die Anerkennungsverfahren oft so lange, dass viele Ausgeschiedene in die Sozialhilfe rutschen“, so Eggert. Auch nach einem positiven Bescheid ist der Weg für Betroffene nicht leicht. Zwar erhalten die, die noch bei der Bundeswehr sind, einen Schutzstatus – und Ausgeschiedene werden erneut angestellt, finanziell versorgt und haben privilegierten Zugang, etwa zu den Bundeswehrkrankenhäusern.

Nach der Reha-Phase müssen sie sich aber ein halbes Jahr lang auf einem normalen Posten für Berufssoldatinnen und -soldaten beweisen. „Das sind immer noch schwer kranke Menschen. Viele machen sich in dieser Zeit kaputt“, kritisiert Eggert. Für die, die scheitern, bleibt nur der Weg in den zivilen Bereich. „Dabei erhalten sie auch Unterstützung, etwa eine Ausbildung. Aber dann stehen sie mit ihrem Handicap im Wettbewerb mit gesunden Menschen“, erklärt er. Berufssoldaten, wie er es war, hätten diese Probleme nicht: „Ich war und bin vergleichsweise gut versorgt.“

Einer, der auf einen Posten als Berufssoldat nach seiner Reha hofft, ist Milan*. Seine PTBS-Diagnose erhielt er noch während seines Dienstes als Zeitsoldat, der eigentlich 2018 geendet hätte. Jetzt ist er in einem „Wehrdienstverhältnis besonderer Art“, so wie es das Einsatzweiterverwendungsgesetz vorsieht. Auch Milan hat als Sanitäter gedient und tritt bei den Invictus Games im Rudern, Schwimmen und Bogenschießen an. „Ich hatte 13 Jahre lang einen Beruf, den ich jetzt nicht mehr ausüben kann“, sagt Milan. „Die Invictus Games geben mir eine Perspektive, eine Aufgabe.“

Im Hier und Jetzt leben

Milan war ab 2009 auf einer Fregatte eingesetzt, die vor Somalia unter anderem Handelsschiffe vor Piraterie schützen sollte. Er gehört zu einer Gruppe, die den Überfall auf ein Containerschiff miterlebte. Als sein Schiff damals bei dem gekaperten Riesen ankam, brannte es auf der Brücke. Die Angreiferinnen und Angreifer schossen mit Panzerfäusten. Milan war an Bord, nachdem das Schiff und die Besatzung freigekauft waren. Um sich zu versorgen, hatten die Piratinnen und Piraten Lebendvieh an Bord gebracht, zum Beispiel Ziegen.

Sport hilft Milan dabei, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und seinen Körper wieder zu spüren.

Sport hilft Milan dabei, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und seinen Körper wieder zu spüren.

Der Stallgeruch, den er damals erlebte, wurde zu seinem Trigger. „Das merkte ich, als ich unsere Kinder zum Reiten bringen wollte“, erinnert er sich. „Heute kann ich das wieder.“ Auch einkaufen geht er – und natürlich zum Sport, den er als sein Tagesziel beschreibt. „Sport war mir immer wichtig, doch nach den Erlebnissen vor der somalischen Küste war ich extrem aktiv, weil ich mich und meinen Körper wieder spüren wollte. Das will ich jetzt auch, aber indem ich ihn genieße“, erzählt er. Auch darum geht es bei der Sporttherapie: eine richtige Balance zwischen An- und Entspannung zu finden. Die braucht Milan neben Konzentration auch fürs Bogenschießen. „Ich muss im Hier und Jetzt sein“, sagt er, „sonst treffe ich kein Ziel.“

Die Spiele werden eine Herausforderung sein, glauben Milan und Ben. Beide hoffen, dass sie daran wachsen. In Düsseldorf werden Tausende Fans erwartet. Ben hofft, dass unter ihnen auch viele Politikerinnen und Politiker sein werden: „Mir ist es wichtig, dass diejenigen, die darüber abstimmen, ob die Bundeswehr in einen Einsatz geht, sehen, dass das Auswirkungen hat.“

*Name von der Redaktion geändert

Wie Therapiehunde traumatisierten Soldaten helfen

Die Zahl der im Einsatz traumatisierten Soldatinnen und Soldatensteigt seit Jahren. Viele schaffen es erst nach langer Zeit, sich Hilfe zu suchen. Bei der Therapie können auch speziell ausgebildete Hunde unterstützen zum Artikel