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Einen der orangen Automaten, die die Wartenummern ausspuckten, gibt es noch. Er hängt in einem Raum des ehemaligen Notaufnahmelagers Marienfelde in Berlin, heute eine Erinnerungsstätte. Gerade führt Anna Haase eine Schulklasse hindurch. Die 1,60 Meter kleine Frau mit grau-weißem Haar und schwarzem Halstuch erzählt den Schülerinnen und Schülern die Geschichte der vier Millionen Menschen, die aus der DDR in die Bundesrepublik flüchteten. Für 1,35 Millionen von ihnen war Marienfelde die erste Anlaufstelle im Westen. Und das Ziehen der Wartenummer für viele das Erste, was sie in der Bundesrepublik taten.

Aus dem Dienst entbunden

So war es auch bei Anna Haase. 1989 hatte sie die DDR verlassen. Oder besser gesagt: Sie hatte sie verlassen müssen, nachdem sie genau dies jahrelang nicht gedurft hatte. Stattdessen schikanierte man sie. „Das Ziel war, mich fertigzumachen, unbrauchbar“, meint sie. „Zersetzen“, so nannte es die Stasi. Dabei war es für Anna Haase lange nur bergauf gegangen.

Als Ingenieurin für Bekleidungstechnik und Dolmetscherin für Russisch brachte sie es bis zur Abteilungsleiterin im Modeinstitut der DDR. Sie durfte sogar ihren früheren Mann, der beim Fernsehen arbeitete, eine Zeit lang nach Westdeutschland begleiten. Dann aber fiel sie in Ungnade. „Mein Mann hatte sich einen Fehler geleistet“, sagt Haase und fügt knapp hinzu: „Sippenhaft.“ Dass man sie ihrer Aufgaben entband, hatte aber wohl noch zwei weitere Gründe: Erstens hatte sie gesehen, wie viel mehr im Westen in der Mode möglich war – und sprach darüber. Und zweitens war sie nie der SED beigetreten. Das erzeugte Misstrauen. „‚Frau Haase, wir wissen ja nicht, was Sie Gästen sagen‘, meinte man zu mir“, erzählt sie heute.

Ausreise mit Schwierigkeiten

Anna Haase stellte einen Ausreiseantrag – und tat das noch einige weitere Male. Denn auf dem Amt verhörte man sie zwar stundenlang dazu, behauptete aber gleichzeitig, es läge kein Antrag vor. „Ich war, wie alle, die rauswollten, Staatsfeind Nummer eins.“ Oft sei sie von Stasi-Mitarbeitern verfolgt und ihr Telefon abgehört worden. Nach ihrem Wechsel an die Komische Oper, wo sie zunächst für die Kostüme verantwortlich war, änderte sich alles: „Ich wurde degradiert, Kolleginnen und Kollegen mieden mich. Und ich musste Strafarbeit leisten, zum Beispiel Tausende Beintrikots auf Laufmaschen absuchen oder Schuhe sortieren“, erinnert sie sich. „Am Ende war ich Garderoben- und Toilettenfrau, für 500 Mark weniger Lohn im Monat.“

Schweres Leid noch 34 Jahre nach Mauerfall

Wenn Jens Planer-Friedrich über Schicksale wie das von Anna Haase spricht, dann teilt er den Umgang der SED-Diktatur mit missliebigen Personen in zwei Phasen ein: „In der ersten sperrte man sie vor allem weg. In der zweiten, ab etwa Mitte der 1970er-Jahre, griff man zunehmend zu anderen Maßnahmen, um die Menschen zu zermürben. Man zerstörte Karrieren, verfolgte und verhörte Menschen oder drang in Wohnungen ein, manchmal nur, um ein paar Möbelstücke zu verstellen und damit Verunsicherungen und Ängste auszulösen“, erklärt der Leiter der Bürgerberatung beim Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Ähnliche Stellen gibt es in allen neuen Bundesländern. Sie beraten Betroffene unter anderem zu Rehabilitierungs- und Entschädigungsmöglichkeiten.

Denn auch heute, 34 Jahre nach dem Mauerfall, wirken die Folgen der SED-Willkür bei vielen Menschen noch nach: „Sie leiden häufig nicht nur unter einer schwierigen sozialen Lage, sondern auch unter einer schlechten gesundheitlichen Situation“, sagt Evelyn Zupke, die SED-Opferbeauftragte des Deutschen Bundestags. Sie spricht von mindestens 250.000 Menschen in politischer Haft, von denen viele davor und auch danach „zersetzt“ wurden – sowie von 134.000 angeblich schwer erziehbaren Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die zum Beispiel in Spezialheimen untergebracht waren. Hinzu kommt die Gruppe „reiner“ Zersetzungsopfer wie Anna Haase, deren Größe sich nur schwer bestimmen lässt.

Traumabewältigung für Betroffene

Zupke hat sich zuletzt schwerpunktmäßig mit den verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden der Opfer beschäftigt. Ihr Jahresbericht zeigt auf, wie schwer es für diese ist, zu ihrem Recht zu kommen. „Die Situation“, sagt sie, „ist dramatisch.“ Schon an der Rehabilitierung, also der Anerkennung des erlittenen Unrechts durch offizielle Stellen, würden viele scheitern. Aber auch bei Rehabilitierten, die in einem zweiten Schritt Anträge auf Versorgungsleistungen wie medizinische Hilfen oder finanzielle Unterstützung stellen können, läge die Ablehnungsquote bei gut 80 Prozent. „Das Grundproblem ist, dass sie quasi beweisen müssen, dass ihre Probleme Folgen von Maßnahmen in der DDR sind“, sagt Zupke. Gerade bei psychischen Erkrankungen sei das aber schwierig.

Was das mit Betroffenen macht, weiß auch Anne Maltusch. Sie beschäftigt sich in einer Studie an der Universitätsmedizin Rostock mit den gesundheitlichen Spätfolgen des SED-Unrechts an Menschen, die ausschließlich von Zersetzung betroffen waren – und sucht dafür auch noch Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer. „Die Verfahren ziehen sich oft über Jahre und beinhalten Gespräche mit Gutachterinnen und Gutachtern, die auf die Männer und Frauen oft wie Verhöre wirken“, sagt sie. „Viele der Menschen leiden neben körperlichen auch an psychischen Erkrankungen, also unter Angststörungen, Depressionen, sozialen Phobien, oder haben Angst vor Ämtern. Gerade für die ist das Verfahren furchtbar.“

Einer, der Betroffene auf diesem Weg begleitet, ist Dr. Stefan Trobisch-Lütge. Der Psychologe und Traumatherapeut leitet die Beratungsstelle Gegenwind in Berlin, die Opfer entweder selbst psychosozial begleitet oder an geeignete Expertinnen und Experten vermittelt. „Viele Betroffene sind schon älter und leiden an komplexen Traumata, die nicht gut verarbeitet sind“, sagt er. Gegenwind hilft während der Verfahren, aber auch generell. Anna Haase macht dort eine Gesprächstherapie und nimmt an einer therapeutischen Yoga- und Malgruppe teil. Sie spricht von Angstzuständen und dem täglichen Kampf, nicht depressiv zu werden.

Bürger zweiter Klasse

Nachdem Haase die DDR verlassen hatte, lebte sie zunächst in einem Asylbewerberheim. Eine Stelle in ihrem Berufsfeld fand sie nicht. Also fing sie im damaligen Fremdenverkehrsamt an. „Wir aus dem Osten waren dort Kolleginnen und Kollegen zweiter Klasse.“ Anfang der 1990er-Jahre wurde das Amt privatisiert – und Haase verlor ihren Job. Schließlich wurde sie freiberufliche Stadtführerin. „Die Therapie half mir, einen Umgang damit zu finden, dass mein Leben anders verlaufen ist, als ich es mir gewünscht hätte, ich meine Ziele nicht erreicht habe und das, was ich konnte, im Westen plötzlich nichts wert war“, sagt sie. „Ich habe viele Demütigungen erlebt.“ Auch ihre Arbeit in der Gedenkstätte half ihr dabei, ihr Schicksal einzuordnen.

Degradiert, schikaniert und verfolgt: Anna Haase war beruflich lange erfolgreich. Bis sie bei der SED-Regierung in Ungnade fiel.

Degradiert, schikaniert und verfolgt: Anna Haase war beruflich lange erfolgreich. Bis sie bei der SED-Regierung in Ungnade fiel.

Auch Lutz Krusius nimmt die Hilfe von Gegenwind in Anspruch. Der Berliner gehört zur Gruppe der politisch Inhaftierten, die zuvor von der Stasi zersetzt wurden. „Ich wurde moralisch niedergemacht, von innen ausgeschält und sollte menschlich gebrochen werden“, sagt er. Krusius galt dem System schon früh als Querulant. In die Jungpionier-Organisation für Kinder, die offiziell freiwillig und inoffiziell Pflicht war, trat er zwar ein. Auf die Pionier-Nachmittage hatte er aber wenig Lust. Auch später absolvierte Krusius die vormilitärische Ausbildung in der Gesellschaft für Sport und Technik erst, als mit dem Abbruch seiner Schlosserlehre gedroht wurde. „Als ich dann 18 Jahre alt war und auf das Drängen des Wehrkreiskommandos, drei statt eineinhalb Jahre Wehrdienst zu leisten, den Wunsch äußerte, mich bitte an der Grenze einzusetzen, war der Spaß vorbei“, erzählt er. Auf jede Andeutung von Republikflucht reagierte man allergisch.

Inhaftiert wegen Landesverrat

Nach dem Wehrdienst bekam der heute 63-Jährige beruflich keinen Fuß auf den Boden. Krusius stellte einen Ausreiseantrag, sollte diesen begründen und tat das auch: mit Kritik an der Partei, an der DDR, am Mauerbau. Der Staat reagierte: mit Verfahren wegen Republikflucht, Verächtlichmachung der DDR und – noch schlimmer – landesverräterischer Nachrichtenübermittlung. Zwischenzeitlich hatte Krusius sich nämlich bei der sogenannten Ständigen Vertretung rechtlich beraten lassen – so hieß damals die Botschaft der BRD.

Eines Tages wurde er in ein Auto gezogen und auf eine Polizeiwache verschleppt. Nächste Station: Stasi-Gefängnis Pankow. Eine enge Zweierzelle ohne Tageslicht. „Täglich gab es stundenlange Verhöre und eine 20-minütige ‚Freistunde‘ in einem Drahtkäfig“, erinnert sich Krusius. Nach vier Monaten kam es zur Verhandlung. „Der Prozess dauerte 15 Minuten und endete mit dreieinhalb Jahren Zuchthaus.“ Die sollte er in Brandenburg-Görden absitzen.

Im Zuchthaus Görden durchlebte Lutz Krusius als politischer Gefangener eine Tortur. Die Erfahrungen haben sein Leben geprägt.

Im Zuchthaus Görden durchlebte Lutz Krusius als politischer Gefangener eine Tortur. Die Erfahrungen haben sein Leben geprägt.

Für diesen Artikel kehrt Lutz Krusius das erste Mal wieder in das Gefängnis zurück, wo heute ebenfalls eine Gedenkstätte ist. Eigentlich waren nur Fotoaufnahmen außerhalb des Gebäudes geplant. Krusius befürchtete, womöglich zusammenzubrechen, sollte er hineingehen. Es gab Zeiten, in denen das Wort „Brandenburg“ reichte, um Erinnerungen zu wecken und Beklemmungen bei ihm auszulösen. Als Krusius in Görden ankommt, geht er spontan hinein. Er betritt das Gefängnis, nimmt den Lichteinfall wahr, meint sogar, die Zelle wiederzuerkennen, in der er saß, mit 18 Personen auf 20 Quadratmetern, darunter verurteilte Mörder. „Die hatten das Sagen und bestimmten sogar darüber, ob man kacken gehen durfte oder nicht“, sagt er. Elf Monate blieb er, dann wurde er an die Bundesrepublik verkauft.

Langanhaltende psychische Belastung

Anders als Anna Haase, die erst jetzt ihre Rehabilitierung anstrebt, ging Krusius diesen Weg kurz nach seiner Ankunft im Westen. Andernfalls hätte er auch dort als vorbestraft gegolten. „Klappte problemlos“, sagt er. Er versuchte, sein Abitur nachzuholen, doch dafür fehlte ihm die Konzentration. Zudem litt er unter Flashbacks, plötzlichen Erinnerungen an die Zeit in Haft – Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er erlitt drei Herzinfarkte. „Die langjährige psychische Belastung“, meint er, „hat sich körperlich ausgewirkt.“ Ab 2015 bemühte er sich schließlich darum, eine Opferrente und einen Berufsschadensausgleich zu bekommen. Mit dem Antrag auf Opferrente hatte er im dritten Anlauf Erfolg. Mit dem Ausgleich für den verbauten Berufsweg erst, nachdem er das Land Berlin verklagt hatte. 2022 war das, 40 Jahre nach seiner Verhaftung.

Anlaufstellen für Betroffene

Betroffene können sich an die Aufarbeitungsbeauftragten wenden, die es in allen ostdeutschen Bundesländern gibt. Hilfe bieten außerdem regionale sowie überregionale Opferverbände und Beratungsstellen. Eine Übersicht finden Sie hier.

Mehr Unterstützung für SED-Opfer

Für Jens Planer-Friedrich liegt ein Hauptproblem darin, dass die Gesetze teils großen Interpretationsspielraum lassen und über Versorgungsleistungen Stellen entscheiden, die zu wenig über die Methoden des SED-Regimes wissen – Versorgungsämter in der westdeutschen Provinz zum Beispiel. „Die sind überfordert.“ Psychologe Stefan Trobisch-Lütge erzählt, dass er mit seinem Team deshalb schon viele Infoveranstaltungen für Versorgungsämter angeboten habe – eine Arbeit, die die Opferbeauftragte Evelyn Zupke heute für gescheitert erklärt. Sie hofft, dass die Politik einschreitet, um die Situation der SED-
Opfer zu verbessern, so, wie es auch im Koalitionsvertrag steht.

Zupke schlägt vor, sich bei einer gesetzlichen Regelung am Umgang mit in Auslandseinsätzen versehrten Soldatinnen und Soldaten zu orientieren. Bei ihnen wird unter klar festgelegten Voraussetzungen davon ausgegangen, dass bestimmte psychische Störungen mit dem Einsatz in Verbindung stehen. Entsprechend sollten Rehabilitierte, die an bestimmten Erkrankungen leiden, ebenfalls automatisch einen Mindestgrad an Schädigung zugesprochen bekommen. „Für die Mehrheit der Opfer ist das Finanzielle gar nicht das Entscheidende, selbst wenn viele darauf angewiesen sind“, sagt Zupke. „Es geht ihnen um Anerkennung.“

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Quellen:

  • Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur beim Deutschen Bundestag: Jahresbericht 2023 70 Jahre DDR-Volksaufstand. An die Opfer der SED-Diktatur erinnern – die Betroffenen heute unterstützen. https://dserver.bundestag.de/... (Abgerufen am 25.08.2023)
  • Stiftung Berliner Mauer: Teilung & Flucht . https://www.stiftung-berliner-mauer.de/... (Abgerufen am 25.08.2023)
  • Freyberger H, Frommer J, Maercker A, et al.: Gesundheitliche Folgen politischer Haft in der DDR. https://www.landesbeauftragter.de/... (Abgerufen am 25.08.2023)
  • Die Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur / Berliner Institut für Sozialforschung : Sozialstudie. https://aufarbeitung.brandenburg.de/... (Abgerufen am 25.08.2023)
  • Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde: https://www.stiftung-berliner-mauer.de/de/notaufnahmelager-marienfelde

  • Gedenkstätte Zuchthaus Brandenburg-Görden: https://www.brandenburg-zuchthaus-sbg.de/

  • Interview mit Anne Maltusch, Demografin an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Rostock.

  • Interview mit Dr. Stefan Trobisch-Lütge, Psychologe und Leiter der Beratungsstelle Gegenwind - Beratungssstelle für politische Traumatisierte der SED-Diktatur.

  • Interview mit Jens Planer-Friedrich, Leiter Bürgerberatung und Beratung öffentlicher Stellen beim Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (BAB).

  • Interview mit Evelyn Zupke, SED-Opferbeauftragte beim Deutschen Bundestag.