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Sogar die Sendung mit der Maus hat schon erklärt, was eine trans* Person ist: Im März 2022 wurde dort die Geschichte von Katja erzählt, die vorher Erik hieß. Doch der Beitrag stieß in den sozialen Medien auf viel Ablehnung, zahlreiche Medien berichteten über die anschließenden Diskussionen. Und Mitte Oktober warf die politische Opposition der Bundesregierung vor, sie würde auf ihrer Info-Seite Regenbogenportal.de Kindern die bei trans* Personen eingesetzten Pubertätsblocker wie Hustenbonbons empfehlen. Die Angst hinter solchen Reaktionen ist meist: Kinder könnten dazu angeregt werden, zu leichtfertig das Geschlecht wechseln zu wollen.

Doch hier beruhigt Dr. Angela Rölver, Leiterin der Spezialsprechstunde für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz oder Geschlechtsdysphorie (trans*) sowie Varianten der geschlechtlichen Entwicklung (inter*) am Universitätsklinikum Münster: „Man kann Kinder nicht trans* machen. Zwillingsstudien zeigen, dass es eine starke biologische Komponente gibt.“ Sprechstunden wie die ihre verzeichnen zwar seit Jahren steigenden Zulauf. Doch das liegt laut Rölver vermutlich an den besseren Informationsmöglichkeiten durch das Internet und an der höheren Präsenz des Themas in der Gesellschaft. „Je offener im Umfeld damit umgegangen wird, desto eher haben Kinder und Jugendliche Begrifflichkeiten dafür“, sagt Psychotherapeutin Rölver.

Prozentual gesehen nur wenige Betroffene

Betroffen sind vermutlich weniger als ein Prozent der Menschen: Der Verein dgti geht von 0,6 Prozent der Bevölkerung in Deutschland aus, die sich als transgender definieren. „Niemand sucht sich das absichtlich aus“, erklärt Rölver. Jugendliche in ihrer Sprechstunde haderten oft selbst mit ihrem Schicksal und fragen „Warum passiert mir das jetzt?“ Spätestens in der Pubertät steige der Leidensdruck. „Wird das Gefühl, nicht dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht anzugehören unterdrückt, drohen Depressionen und Suizidgedanken“, erklärt Rölver. Studien haben gezeigt, dass die vermehrten psychischen Probleme von trans* Personen nach einer medizinischen Behandlung zurückgingen, teilweise auf die Rate der Allgemeinbevölkerung. „Die Behandlung zu verwehren, halte ich daher für unethisch“, sagt Dr. Chris Reinert, Kinder- und Jugendärzt*in an der Universitätsmedizin Göttingen und dort in der hormonmedizinischen Begleitung von trans* Kindern und -Jugendlichen tätig.

Ausprobieren hilft bei der Orientierung

Doch wie sollen Eltern reagieren, wenn das fünfjährige Mädchen sagt „Ich bin ein Junge“? „Es ist wichtig, die Wünsche und Gefühle des Kindes zu diesem Thema ernst zu nehmen und zu akzeptieren“, sagt Chris Reinert. „Wenn das Kind zum Beispiel mit einem anderen Namen angesprochen werden will, sollten Eltern es dies ausprobieren lassen. Dann sieht es: Fühlt sich das stimmig an? Und man kann schauen, wie es sich weiter entwickelt.“

Auch in Kindergarten oder Schule könne das Kind mit dem gewählten Namen auftreten, wenn sein Wunsch danach groß ist. „Das ist nie unumkehrbar“, so Reinert. „Bei jedem Wechsel, zum Beispiel in die Schule oder eine andere Klasse, kann sich das Kind auch wieder im Geburtsgeschlecht vorstellen, wenn es dies möchte.“ Eltern sollten ihrem Kind dies erklären, sagt Prof. Georg Romer. Er ist Vorsitzender der Leitlinienkommission, die derzeit an der „S3-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter“ arbeitet. „Eine Aussöhnung mit dem Geburtsgeschlecht ist dann trotzdem genauso möglich“, so der Experte. Eltern sollten wissen, dass sie durch solche Maßnahmen den Wunsch ihres Kindes in keine Richtung beeinflussen. Aber stattdessen Stress vermeiden: „Kindern, die hier unterstützt werden, geht es laut Studien psychisch genauso gut wie ihren Altersgenossen, die nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht hadern.“

Hilfe holen können sich die Eltern bei Beratungsstellen, in der kinderärztlichen Praxis oder – vor allem, wenn zusätzlich Probleme in der Familie oder im Kindergarten auftreten – auch bei Psychotherapeut*innen.

Unterschieden wird im Kindesalter zwischen zwei Formen: Der sogenannten Geschlechtsinkongruenz und der zu diesem Zeitpunkt noch nicht so häufigen Geschlechtsdysphorie. Bei letzterer leiden Betroffene besonders unter ihren körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Trans* Mädchen äußern beispielweise, ihren Penis weghaben zu wollen und trans* Jungen fragen, wann sie denn einen bekämen. „Die Geschlechtsinkongruenz bleibt laut Studien über das Einsetzen der Pubertät hinweg nur in einem Viertel der Fälle bestehen“, sagt Angela Rölver.

Behandlungsmöglichkeiten ab Pubertätsbeginn

Medizinische Maßnahmen sind erst mit Einsetzen der Pubertät möglich. „Eltern können ihr Kind bei ersten körperlichen Pubertätszeichen in der kinderendokrinologischen Sprechstunde vorstellen“, sagt Reinert. Doch wann ist Pubertätsbeginn? „Bei Unsicherheit über einen möglichen Pubertätsbeginn kann auch eine Vorstellung vor der Pubertät helfen, bei der Arzt oder Ärztin erklären, auf welche Anzeichen Eltern und Kind achten und wann sie wiederkommen sollen.“

Mit den pubertätsbedingten körperlichen Veränderungen steige bei den meisten auch der Leidensdruck. „Viele Jugendliche wenden sich erst zu diesem Zeitpunkt an uns“, so Reinert. Reinert empfiehlt, bereits parallel nach einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten zu suchen, da diese oder dieser vor einer entsprechenden Behandlung mit einbezogen wird. „Das ist zwar rechtlich nicht vorgeschrieben“, erklärt Georg Romer. „Aber gemäß nationaler und internationaler Empfehlungen sollte sich Arzt oder Ärztin selbst zu einer sorgfältigen Indikationsstellung verpflichten und wird deshalb immer so vorgehen.“ Denn die größte Schwierigkeit sei oft, die Einwilligungsfähigkeit des Kindes festzustellen.

Auch das Aufsuchen einer Beratungsstelle kann hilfreich sein, nicht nur für die Kinder und Jugendlichen. „Die Kinder haben sich teilweise schon jahrelang alleine mit dem Thema auseinandergesetzt, bevor sie sich den Eltern gegenüber geoutet haben“, sagt Reinert. „Da haben die Eltern oft Nachholbedarf beim Informationsstand.“

Sofern das Kind es wünscht, beide Expert*innen – Psychotherapeut*in und Endokrinolog*in – es für angezeigt halten und die Eltern einverstanden sind, kann der oder die Kinderendokrinolog*in mit Beginn der Pubertät – nicht vorher – Pubertätsblocker verabreichen. „Die Medikamente sorgen dafür, dass das Kind nicht weiter den körperlichen Veränderungen durch die Pubertät ausgesetzt ist, unter denen es leidet, und so Zeit gewinnt, sich mit seinen Gefühlen und Wünschen auseinanderzusetzen“, erklärt Reinert.

Die Pubertätsblocker werden mit einer Spritze alle ein bis drei Monate gegeben. „Mögliche Nebenwirkungen sind zum Beispiel Entzündungen an der Einstichstelle oder eventuell Hitzewallungen, wenn der Östrogenspiegel schon recht hoch, also die „weibliche“ Pubertät schon etwas fortgeschritten ist“, so Reinert. Bei längerer Anwendung könnten Pubertätsblocker negative Effekte auf die Knochenentwicklung haben. Doch „die Behandlung erfolgt meist nur für einen Zeitraum von einem bis drei Jahren. Bei einer solchen Behandlungsdauer sind keine negativen gesundheitlichen Folgen zu befürchten“, so Reinert. In der Kinderendokrinologie werden die pubertätsbremsenden Medikamente bereits seit rund 30 Jahren zur Behandlung einer zu frühen Pubertätsentwicklung (Pubertas praecox) eingesetzt, so dass entsprechende Langzeiterfahrungen vorliegen, erläutert Reinert. "Durch die vorläufige Blockade der Pubertät bleiben zwar erstmal Wachstumsschübe aus, später wird das Wachstum dann aber beim Durchlaufen der Pubertät, egal welcher, wieder aufgeholt“, sagt Reinert.

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Engmaschige ärztliche und psychologische Begleitung

In der nun entstandenen „Pause“ informiert die Ärztin oder der Arzt Eltern und Kind über die weiteren Möglichkeiten und die Folgen der Behandlungen. Parallel erhält das Kind weiterhin psychologische Hilfe zu Fragen zu seiner Geschlechtsidentität. Das soziale Outing wird begleitet oder vorbereitet: Indem es Namen und Äußeres anpasst, probiert es zunächst aus, wie es sich anfühlt, im anderen Geschlecht zu leben.

„Wir schauen da genau hin, ob wirklich eine Geschlechtsinkongruenz oder -dysphorie vorliegt und nicht nur eine vorübergehende oder generelle Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper“, erklärt Rölver. Auch gehe es darum festzustellen, ob das Kind oder der Jugendliche eine so weitreichende Entscheidung treffen könne. Manchmal stünden Zweifel eventuell noch im Raum, würden vom Jugendlichen aber nicht ausreichend reflektiert, erläutert Romer. Die Aufgabe des oder der Psychotherapeut*in sei hier, die nötigen Abwägungen mit den Jugendlichen sorgfältig zu begleiten.

„Wir begleiten ergebnisoffen und beraten zu vielen weiteren Themen, zum Beispiel auch dazu, was passiert, wenn sich die Person später noch einmal umentscheiden sollte.“ Reinerts und Rölvers Erfahrung nach kommt dieser Fall aber kaum vor. Einer Studie aus Amsterdam zufolge bereuten 0,6 Prozent der trans* Frauen und 0,3 Prozent der trans* Männer den Schritt.

Und was, wenn die Pubertät nicht mehr am Anfang steht? „Wenn die Pubertät schon zu körperlichen Veränderungen geführt hat, dann können diese nicht mehr rückgängig gemacht werden“, erklärt Reinert. Betroffene würden dann häufig stärker darunter leiden. Trotzdem können Pubertätsblocker auch später noch dabei helfen, dass die Pubertät nicht noch weiter fortschreitet oder, bei bereits durchlaufener Pubertät, die Wirkung der Sexualhormone unterdrückt wird. „Auch bei 16- oder 17-Jährigen können sie die Periode unterdrücken oder verhindern, dass noch mehr Bartwuchs auftritt.“

Entscheidung für Hormontherapie nur mithilfe von Expert*innen

Nach einiger Zeit haben Arzt oder Ärztin, Psychotherapeut*in, Eltern und Jugendliche dann erarbeitet: Will das Kind die Pubertätsblocker wieder absetzen und die Pubertät im ursprünglichen Geschlecht durchlaufen oder will es mithilfe von entsprechenden Hormonen die Pubertät im anderen Geschlecht erleben? Fällt die Entscheidung für eine Hormontherapie, holt der oder die Endokrinolog*in wieder ein befürwortendes Schreiben des oder der behandelnden Therapeut*in ein. Laut Chris Reinert ziehen viele sogar noch eine/n weitere/n Psychologische/n Psychotherapeut*in oder Kinder- und Jugendpsychiater*in hinzu. In spezialisierten Sprechstunden, wie beispielsweise der in Münster, wird dies alles an einem Ort abgedeckt.

Befürworten alle den Beginn einer Behandlung, bekommt der oder die Jugendliche die Geschlechtshormone Testosteron oder Östrogen, letzteres in Kombination mit Testosteronblockern. Die Medikamente führen zu den Veränderungen, die wir aus der Pubertät bei verschiedenen Geschlechtern kennen. Aber wie sieht es mit Nebenwirkungen aus? „Die Hormone haben wir alle im Körper, weshalb es fraglich ist, ob man zum Beispiel eine mögliche Glatzenbildung durch Testosteron oder eine Gewichtszunahme durch Östrogene als Nebenwirkungen ansehen will“, sagt Reinert. Allerdings müsse auf die richtige Dosierung geachtet werden, deshalb sei immer eine ärztliche Begleitung mit regelmäßigen Verlaufskontrollen notwendig. Wegen eines höheren Thromboserisikos bei höheren Östrogenspiegeln erfolgt vor Behandlungsbeginn außerdem eine Erfassung von möglichen Risikofaktoren.

Einen wichtigen Nachteil haben die Hormone: Sie beeinträchtigen die Fruchtbarkeit zu einem gewissen Grad, insbesondere bei langfristiger Einnahme. „Dazu beraten wir vorher“, erklärt Reinert. „Es gibt Möglichkeiten, Spermien oder Eizellen einfrieren zu lassen. Bei Eizellen ist das aber etwas schwieriger, weil zuvor eine Stimulation mit Hormonen nötig ist, um mehrere Eizellen zu gewinnen.“ Außerdem dürfen die Eizellen nach bisheriger Gesetzeslage nur verwendet werden, um sie sich selbst einsetzen zu lassen, für viele trans* Männer kommt aber eine eigene Schwangerschaft nicht in Frage. Die Kosten für die Hormonbehandlungen übernimmt, genau wie für die Behandlung mit den Pubertätsblockern, die Krankenkasse immer, das Einfrieren von Spermien oder Eizellen muss bisher meist komplett selbst bezahlt werden – „auch, wenn sich die Gesetzeslage dazu kürzlich geändert hat und die Krankenkassen eigentlich die Kosten übernehmen müssen“, so Reinert.

Die Hormone müssen anschließend ein Leben lang genommen werden – sofern die Wirkung weiterhin erwünscht ist. „Es ist aber jederzeit möglich, sie abzusetzen oder niedriger zu dosieren, wenn der Effekt der Person dann ausreicht oder nicht zu der erhofften Verbesserung des Befindens mit sich und dem eigenen Körper führt“, sagt Reinert. Wird Testosteron bei einem trans* Mann zum Beispiel reduziert, bleibt die Stimme zwar tief, aber der Muskelanteil im Körper geht wieder etwas zurück und die Regelblutung kann (wieder) einsetzen.

Geschlechtsangleichende Operationen im Jugendalter nicht häufig

Bei Weitem nicht alle trans* Personen entscheiden sich außerdem für eine geschlechtsangleichende Operation. „Die meisten trans* Männer wollen sich die Brust entfernen lassen – aber auch nicht alle“, erklärt Reinert. Solche Operationen finden teilweise auch schon vor dem 18. Geburtstag statt. Genitalangleichende Operationen sind seltener. „Das sind große Eingriffe, die vergleichsweise kompliziert sind“, so Reinert. „Wird eine entsprechende Operation gewünscht, wird diese meist erst nach dem 18. Geburtstag durchgeführt.“ Ähnliches gelte für Operationen an Kehlkopf oder Gesicht oder dem Brustaufbau bei trans* Frauen. Abgesehen von Nebenwirkungen und möglichen Komplikationen, die bei jeder größeren Operation drohen, mache die Entfernung von Eierstöcken oder Hoden dauerhaft unfruchtbar. Die Kostenübernahme der OP muss bei der Krankenkasse beantragt werden und wird laut Reinert erfahrungsgemäß nicht immer sofort bewilligt. „Dann ist, wie bei vielen Schritten der Transition, Durchhaltevermögen gefragt“, so Reinert. Bei Schwierigkeiten könne man sich auch hier an Beratungsstellen wenden.