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Das kleine Mädchen rennt zur Erzieherin, Tränen kullern ihr übers Gesicht, sie jammert: "Mein Schmetterling tut so weh!". Die Erzieherin ist ratlos. Was könnte dieser Schmetterling sein? Hat sich die Dreijährige ernsthaft verletzt? Aber wo? Zum Glück kommen die Eltern kurz darauf zum Abholen und klären auf: Mit "Schmetterling" bezeichnet das Mädchen ihre Scheide. Anscheinend war sie am Klettergerüst abgerutscht und hatte sich gestoßen.

Geschlechtsteile beim Namen nennen

Die Erzieherin ist heute Sexualpädagogin in Augsburg. Claudia Schmitt erzählt die Geschichte vom Schmetterling, um zu zeigen, wie wichtig es nicht nur ist, überhaupt Namen für die Geschlechtsteile zu haben – sondern vor allem allgemein verständliche: Worte wie "Penis", "Scheide" oder "Vulva" laut auszusprechen kostet viele Erwachsene Überwindung. "Das hat viel mit der eigenen Erziehung zu tun", sagt Beate Martin, Dozentin am Institut für Sexualpädagogik und Sexualpädagogin bei pro familia in Münster. Wer mit Sprachlosigkeit aufgewachsen ist, was den eigenen Körper und seine Bedürfnisse betrifft, tut sich schwer. Das zeigen auch Studien: Vor allem Vätern möchten es oft besser machen, aber ihnen fehlen Orientierung und Vorbilder.

Eltern sind verunsichert

In einer Studie der Universität Southampton gaben Eltern zudem an: Mein Kind ist zu jung, es versteht das noch nicht, ich möchte es schützen." Dass Eltern verunsichert sind, ist nachvollziebar, da wir in einer sexualisierten Alltags- und Medienwelt leben", sagt Beate Martin. Leichter tun sich die meisten Mütter und Väter daher, wenn sie die Geschlechtsteile verniedlichen. Der Penis wird zum Pullermann, die Scheide zu Muschi oder Mumu. "Kinder brauchen diese Verniedlichungen aber nicht", sagt Sexualpädagogin Claudia Schmitt. "Es sind eher die Großen, die dadurch verschleiern: Erwachsene haben das auch." Beate Martin findet verniedlichende Begriffe wie Pipimann oder Pullermann problematisch. "Das reduziert den Penis auf die Ausscheidung." Jungen haben wenigstens einigermaßen verständliche Begriffe zur Auswahl. Mädchen wachsen häufig mit Sprachlosigkeit auf, verschleiernden Verniedlichungen wie "Schmetterling" oder "Mumu", oder ihr Geschlecht wird abwertend als "da unten" bezeichnet, als gehöre es nicht dazu.

Korrekte Worte finden

"Im Gegensatz zu Jungen können Mädchen ihr Geschlechtsteil nicht so einfach anschauen. Umso mehr Probleme haben sie wahrzunehmen, dass sie eine Scheide beziehungsweise eine Vulva besitzen, wenn sie dafür keine passenden Wörter kennen", sagt Claudia Schmitt. Aber genau die sind wichtig: Auch allgemeingültige Bezeichnungen wie "Scheide" sind nicht so neutral, wie sie klingen, und werden nicht korrekt verwendet. "Scheide" meint auch die Scheide, in die das Schwert gesteckt wird. Immer mehr Frauen lehnen daher diesen Begriff ab. "Scheide" und "Vagina" werden zudem für das gesamte weibliche Geschlecht verwendet, auch für alle außen sichtbaren Teile – korrekterweise bezeichnen sie aber nur das innen liegende Geschlechtsorgan. "Vulva" meint hingegen das ganze äußere und sichtbare Geschlechtsorgan, wird immer häufiger verwendet und von Sexualpädagogen als korrekter Begriff empfohlen.

Vielfalt statt Verschleierung

Überhaupt raten die Expertinnen, Kindern eine Vielfalt an Begriffen mitzugeben. Zum Beispiel "Das ist deine Scheide, dazu kannst du aber auch Vulva sagen." Oder: "Das ist dein Pullermann, aber der heißt auch Penis oder Glied." Gewohnte und auch lieb gewonnene Verniedlichungen schließt diese Vielfalt nicht aus. "Zu Hause ist eine persönliche, intime Familiensprache völlig in Ordnung", sagt Beate Martin. "Aber draußen, in der Schule, beim Arzt zum Beispiel, sollte das Kind Begriffe kennen, mit denen es sich allgemein verständigen kann, ohne stigmatisiert oder diskriminiert zu werden." Denn: "Wer sich in Kindheit und Jugend eine bestimmte Sprache angeeignet hat, kann dies als Erwachsener schwer umstellen", so Martin. Für Kinder ist die Vielfalt an Begriffen erst einmal interessant. Es sind schlicht Bezeichnungen für einen Körperteil, nicht mehr und nicht weniger. Claudia Schmitt sieht die Grenze zwischen Familien- und Alltagssprache fließend: "Wichtig ist, dass Kinder dazu befähigt werden, ihre Körperteile zu benennen." Mehr Wörter zur Auswahl zu haben kann es auch Eltern leichter machen, bestimmte Dinge zu erklären. So finden zum Beispiel Kinder "miteinander schlafen" für Sex eher verwirrend. "Sie können die unterschiedlichen Bedeutungen noch nicht auseinanderhalten", sagt Beate Martin. "Geschlechtsverkehr" mag fast steril klingen, macht aber klar: Das tun Erwachsene. Wichtig ist: Es gibt kein Richtig oder Falsch. Wenn etwa der Vierjährige weiter vom "Pullermann" spricht: nicht korrigieren oder belehren, sondern alternative Begriffe anbieten. Und wenn das Kind mit vulgären Begriffen aus der Kita kommt? "Sachlich einordnen und erklären, was andere als verletzend empfinden und was als Schimpfwort gebraucht wird", sagt Schmitt.

Die eigene Scham ablegen

Reden hilft – mit dem Partner, mit Freunden. Für viele bedeutet das wahrscheinlich die größte Herausforderung: die eigene Scham ablegen, sich dem stellen, was aus der selbst erfahrenen Erziehung nachwirkt. "Die eigene Sprache zu reflektieren ist der erste Schritt", sagt Beate Martin. "Von da an können Sie nach und nach die neuen Wörter dazunehmen." Und Claudia Schmitt rät: "Eltern können überlegen: Was weiß das Kind schon, was hat es aufgeschnappt, womit fühlen wir uns wohl?" Und dann: einfach mal aussprechen. Ob das kleine Kita-Mädchen statt des "Schmetterlings" später andere Begriffe verwendet hat, weiß Claudia Schmitt nicht. Aber die Episode hat ihr gezeigt, wie wichtig die richtigen Wörter schon für ganz Kleine sind: "Solange wir Kinder befähigen, ihre Körperteile verständlich für alle zu benennen, ist schon viel gewonnen – vor allem für Mädchen!"