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Musiker Axel Bosse singt in seinem Lied „Vier Leben“: „Und ich laufe und sprinte wie wild durch die Stadt. Und seh’ die Büros, sind alle hell in der Nacht. Alles angeschossene Tiere, genauso wie ich. Ach, man sieht doch das Leben vor lauter Leben nicht.“ Menschen, die suchthaft arbeiten, kennen dieses Gefühl nur zu gut: immer an, nie aus. Immer höher, schneller, weiter. ­Immer 200 Prozent, unzählige Aufgaben gleichzeitig. Nur noch schnell dies, gleich noch das, nur diese eine Aufgabe noch. Bis der Körper irgendwann sagt: „Mir reicht’s!“

Arbeiten bis zum Infarkt

So war es bei Holger Laudeley aus Ritterhude. Der 60-Jährige ist selbstständig, Chef ­eines kleinen Handwerksbetriebs, der sich auf erneuerbare Energien spezialisiert hat. Die Folge seiner Sucht: Zuerst war er niedergeschlagen, bald konnte er sich kaum noch zu etwas aufraffen. Was dahintersteckte – dass er durch seinen Job an seine Grenzen ­gekommen war –, begriff er nicht. Stattdessen drückte er die Gefühle weg. Machte weiter. Schuftete, rackerte. „Ich bin doch die Lokomotive, die den Zug anzieht. Ich muss“, sagt er selbst heute noch, nachdem ihn ­etliche Zusammenbrüche, ein Herzinfarkt und die Angst vor einem neuen Infarkt ­wieder und wieder in die Knie gezwungen haben.

Holger Laudeley ist „multiinteressiert“: Als er mit seiner Firma noch nicht genug verdiente, war er als Discjockey tätig.

Holger Laudeley ist „multiinteressiert“: Als er mit seiner Firma noch nicht genug verdiente, war er als Discjockey tätig.

Immer dann, wenn ihm die Arbeit ­buchstäblich über den Kopf wächst, fängt sein Herz an zu rasen, es stolpert und ­überschlägt sich. Was daraus folgt, ist nicht nur Panik – es ist Todesangst. „Ich denke wirklich jedes Mal, dass ich einen neuen Herzinfarkt bekomme“, erzählt der Unternehmer. In der Vergangenheit, in ganz schlimmen Phasen, musste er deshalb mehrmals wöchentlich den Notarzt ­rufen. Nie wurde ein erneuter Infarkt ­festgestellt. Ursache der Symptome war Überarbeitung, weshalb ihm irgendwann ein Aufenthalt in der Psychiatrie angeraten wurde. „Da war ich dann drei Monate, wie auf einer kleinen Insel. Und bin erfrischt wieder durchgestartet“, erzählt Laudeley lachend.

Ständiger Drang nach Leistung

Ein Teufelskreis, den Arbeitssüchtige kennen. Denn im Gegensatz zu anderen Abhängigkeiten kann man auf das Suchtmittel nicht einfach verzichten. Alkohol etwa könne man weglassen. Aber Arbeit gehöre zum Leben dazu, erläutert Psychologe Dr. Stefan Poppelreuter aus Bonn. Er hat zum Thema „Workaholics“ promoviert: „Arbeiten ist für uns Menschen etwas existenziell Notwendiges. Etwas hervorzubringen, ­gebraucht zu werden. Zudem geht es um gesellschaftliche Teilhabe.“ Bei anderen Suchterkrankungen ist die Abstinenz das Ziel – im Job ist das komplizierter.

Das weiß auch Friederike nur zu gut. Sie stammt aus dem Süden Deutschlands, ist ­Ende 40 und möchte anonym bleiben. Friederike arbeitet in der IT-Branche. Seit ihrem Jurastudium kämpft sie mit sich und ihrem Drang, etwas leisten zu müssen: „Da ist ständig dieses Gefühl, Dinge im Alleingang retten zu müssen, und dass jegliche Verantwortung bei mir liegt. Sich sein Lebensrecht durch Arbeit verdienen zu müssen.“

Betroffene verlieren Kontrolle über Arbeitsverhalten

Arbeitssucht als solche ist keine Diagnose, auch wenn sich die Symptome wie bei anderen Süchten beschreiben lassen, so Poppelreuter. Zum einen fokussierten sich die Betroffenen zunehmend nur auf eine Sache – ihren Job. Heißt, der oder die Arbeitssüchtige ist permanent mit ­seiner oder ihrer Arbeit befasst, egal ob am Arbeitsplatz oder in der Freizeit. „Selbst wenn die Betroffenen krank sind oder im Urlaub, können sie nicht von der Arbeit ­lassen“, sagt der Psychologe. Mobiles Arbeiten macht das nicht besser, denn es birgt die große Gefahr, in die Sucht abzurutschen, weil sich Privates und Job noch mehr vermischen und die Grenzen verschwinden.

Das zweite wichtige Merkmal der Arbeitssucht ist der Kontrollverlust. Bedeutet: Süchtige verlieren jegliche Kontrolle über ihr Arbeitsverhalten. Ihr Job bestimmt sie. Die Arbeit und Anforderungen von ­außen erschienen ihr oft unabweisbar, ­beschreibt es Friederike: „Oft fühlt es sich an, als ob ES mich arbeitet.“

Ein ­weiteres Schlüsselsymptom sind Entzugserscheinungen. Poppelreuter: „Das kann sich durch Schweißausbrüche, Angst und Panik bemerkbar machen, Schlafstörungen, Unruhe und aggressives Verhalten.“ An der reinen Arbeitszeit könne man diese Sucht dagegen nicht unbedingt festmachen. Es ist also nicht nur der Manager, der 60 Wochenstunden im Büro sitzt, es kann genauso die Zweifachmutter treffen, die in Teilzeit im Supermarkt kassiert und Regale befüllt.

Etwa 10% der Deutschen sind arbeitssüchtig

Zu diesem Ergebnis kam auch Beatrice van Berk vom Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn, die mit ihrem Team rund 8000 Erwerbstätige zum Thema Arbeitssucht befragte. Die Forschenden untersuchten, welche Berufsgruppen von suchthaftem Arbeiten betroffen sind, welche Beschwerden auftreten und, vor allem, wie viele Deutsche Workaholics sind. „Wir haben herausgefunden, dass kein Zusammenhang von Bildungsniveau oder Geschlecht besteht“, berichtet van Berk. Jüngere seien etwas häufiger betroffen, ebenso Personen, die in Führungspositionen arbeiten, und Selbstständige.

Im Schnitt arbeitet aber jeder und jede Zehnte exzessiv und zwanghaft. Mit Spaß im Job und einer gesunden Balance zwischen Arbeit und Freizeit hat das wenig zu tun. „Diese Arbeitsweise beinhaltet, dass man häufig im Wettlauf mit der Zeit ist und mehrere Dinge gleichzeitig tut. Zudem fühlt man sich angetrieben und verpflichtet, hat ein schlechtes Gewissen, wenn man sich mal freinimmt“, so van Berk. Das können sowohl Holger Laudeley als auch Friederike bestätigen. Überrascht hat van Berk und ihr Team, dass diejenigen, die lediglich Hilfs- und Anlerntätigkeiten ausführen, mit 10,3 Prozent nur geringfügig weniger betroffen sind als diejenigen, deren ­Beruf hochkomplexe Tätigkeiten beinhaltet. Von ihnen leiden 10,5 Prozent an Arbeitssucht.

Einfluss des sozialen Umfelds

Stefan Poppelreuter beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit dem Thema. Er weiß, dass es auch die Rahmenbedingungen eines Berufs sein können, die Menschen in die Sucht treiben: „Wenn ich schlicht und ergreifend zu wenig verdiene, einen zweiten oder dritten Job brauche, um meinen Lebensunterhalt zu ­sichern, bin ich ja gezwungen, viel zu arbeiten.“ Außerdem würden Personen zur ­Arbeitssucht neigen, die einen sehr hohen Leistungsanspruch an sich selbst haben und sowohl wettbewerbsorientiert als auch perfektionistisch veranlagt sind. „Diese Verhaltensweisen sind in der Regel gelernt, sie kommen aus dem Elternhaus oder aus dem sozialen Umfeld. Die Grundlagen für eine Arbeitssucht werden also häufig schon früh gelegt.“

Das war auch bei Friederike so. Sie erinnert sich noch genau daran, wie sie in der Grundschule Mathe gehasst hat: „Ich habe mir dann vorgestellt, ich bin die Königin und bin verantwortlich für all meine Untertanen. Von mir hängt ab, dass diese Aufgaben gelöst werden.“ Noch heute macht sie sich schnell die Sorgen und Probleme anderer zu eigen und glaubt, schwierige Aufgaben unbedingt lösen zu müssen.

Unterstützung durch Gesprächstherapie

Im Gegensatz zu Holger Laudeley, der seine Arbeitssucht jahrelang nicht erkannte, merkte Friederike früh, dass etwas nicht stimmte. Ihre „ungesunde“ Einstellung zum Studium war ihr bewusst und sie suchte, ohne zu zögern, eine Selbsthilfegruppe auf. Friederike vermutet, dass sie deshalb so reflektiert war, weil sie durch eine Magersucht schon Therapieerfahrung hatte. Nicht selten kommen zu einer Sucht weitere hinzu. Sei es, dass man sich nur noch mit Alkohol entspannen kann oder Aufputschmittel ­konsumiert, um noch mehr Leistung zu bringen. Holger Laudeley etwa war acht ­Jahre abhängig von Beruhigungsmitteln, um Ängste und Panik zu unterdrücken.

Um seine Arbeitssucht in den Griff zu bekommen, versuchte es der Ingenieur mit ­Gesprächstherapien. Doch erst ein Klinikaufenthalt im vergangenen Herbst half ihm nachhaltig: „Die hatten einen ganz anderen Ansatz dort. Die haben mich einfach gelassen.“ Er meint damit: Wenn er zum Beispiel ständig seinen Blutdruck messen wollte, durfte er das. Auch sein Herz ließ er regelmäßig beim Arzt per EKG überprüfen. Es beruhigte ihn, immer und immer wieder zu sehen: Alles ist okay mit meinem Körper. Vor allem aber half ihm ein Tagesablauf ­ohne enges Korsett. „Ich habe doch im ­Arbeitsalltag schon einen straffen Zeitplan, der mich unter Druck setzt, da brauche ich das nicht auch noch in der Klinik.“

Hohe Rückfallquote unter Betroffenen

Carmen von Nasse hat Laudeley in dieser Phase ­behandelt. Sie ist Chefärztin der Habichtswald Privat-Klinik, einer Akutklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Kassel. Ihr Ansatz: Erst müssten sich Betroffene ihrer Problematik bewusst werden. Im nächsten Schritt wolle man Menschen wie Holger Laudeley aufzeigen, dass das ­Leben noch mehr bereithält als Arbeit. Das können Sport und kreative Tätigkeiten sein, aber auch Entspannungsmethoden, um ­endlich mal abzuschalten. „Wir ­versuchen, die Patienten von verschiedenen Seiten zu berühren und zu schauen, wo sie erreichbar sind. Es geht darum, die Sinne für anderes wieder frei zu machen.“ Keine leichte Aufgabe: Die Rückfallquote liege bei über 60 ­Prozent, so von Nasse.

Carmen von Nasse ist Fachärztin für Psychiatrie.

Carmen von Nasse ist Fachärztin für Psychiatrie.

Vollkommen geheilt hat Laudeley die Klinik Anfang des Jahres nicht verlassen. Aber mittlerweile nimmt er nicht mehr alle Aufträge an, fährt ­sogar ab und an mit dem Fahrrad oder sitzt im Garten und hört Musik. ­Richtig zu entspannen fällt ihm aber nach wie vor schwer. Das beschreibt auch ­Friederike. Ihr helfen allerdings die ­regelmäßigen Treffen der „Anonymen ­Arbeitssüchtigen“ (Internetseite: www.arbeitssucht.de). Die 12-Schritte- Meetings sind angelehnt an das Programm der Anonymen Alkoholiker.

Hilfe in Gruppen suchen

Durch die zwischenzeitlich auch online stattfindenden Gruppentreffen lernte Friederike Lydia (Name geändert) aus Wien kennen. Die ehemalige Lehrerin ist Anfang 60 und ebenso wie Friederike schon viele Jahre dabei. „Bei den Treffen gibt man viel von sich preis“, erzählt Lydia, „aber die anderen kommentieren meinen Wortbeitrag nicht. Das ist sehr angenehm. Und trotzdem nehme ich durch die Beiträge der anderen ganz viel für mich mit.“

Beide Frauen haben zudem sogenannte Sponsorinnen, die sie auf dem Weg aus der Sucht begleiten und mit denen sie ihre Themen besprechen können. Friederike spürt auch nach so vielen Jahren immer noch, dass sie gern ihre Grenzen überschreitet und zum Beispiel Pausen nicht einhält. Oder dass sie ihre Freizeit ständig füllen muss, und seien es noch so kleine Lücken: „Dann greife ich ganz schnell zum Handy und denke, das ­könntest du noch erledigen.“

Lydia kann das nur unterstreichen: „Die ­Pensionierung war eine ganz besondere Herausforderung für mich. Und selbst nach sieben Jahren ohne die tägliche Arbeit ist er immer noch da, dieser Zwang, etwas tun zu müssen.“ Lydia hat ebenso wie Friederike häufig mehrere Bälle in der Luft. Sie lernt Spanisch, arbeitet tageweise in einem Fair- Trade-Laden und nimmt Gesangsunterricht. Sie wünscht sich sehr, dass sie es ­irgendwann einmal schafft, unverplante Zeit auszuhalten.

Friederikes größter Wunsch ist es, mehr im Hier und Jetzt zu sein, mit der Aufmerksamkeit ganz bei ihrem Kind. „Ich glaube, dass ich es ­eines Tages bereuen werde, dass ich so wenig mit ihm gespielt habe.“

Im Hier und Jetzt leben

Holger Laudeley findet oft keinen Schlaf, wenn er ans Aufhören denkt. In zwei bis drei Jahren will er seinen Betrieb abgeben. Schon jetzt grübelt er, was er dann machen möchte. Bis auf die Tatsache, dass er sich mehr um seine Freundschaften bemühen will, hat er noch keine Ideen. Urlaub hält er kaum aus, Hobbys geben ihm wenig. Oldtimer hat er schon gesammelt, an Hi-Fi-Geräten gebastelt: „Aber ich mache halt am liebsten Angebote, Kostenermittlungen und gehe besonders schwierige Projekte an. Wenn ich einen Vertrag abschließe, fühlt es sich an wie ein Rausch. Aber es schadet mir. Das weiß ich.“ Dann versucht Holger Laudeley, sich zu sagen, dass er mehr ­erreicht hat, als er sich je vorstellen konnte. „Zufriedenheit“ heißt sein persönliches ­Zauberwort. Und das zweite wichtige Wort sei ein klares „Nein“– nein zu noch mehr Aufträgen und Projekten.

Im Liedtext von Axel Bosse heißt es im Refrain: „Und ich renn, ich renn, ich renn, als hätten wir vier Leben. Doch wir haben nur eins.“ Holger Laudeley, Friederike und Lydia ist das mehr als bewusst. Sie haben die Arbeitssucht erkannt, sind auf die Bremse getreten und haben einen Gang ­zurückgeschaltet. Jeden Tag bemühen sie sich darum, dass das Hamsterrad irgendwann einmal zum Stillstand kommt.


Quellen:

  • Reihe Study der Hans-Böckler-Stiftung

  • AAS Interessengemeinschaft e.V. : Homepage der Anonymen Arbeitssüchtigen. Online: http://www.arbeitssucht.de (Abgerufen am 07.06.2023)
  • Julian Habermann, Techniker Krankenkasse: Arbeits­sucht: Symptome und Beschwerden. Online: https://www.tk.de/... (Abgerufen am 07.06.2023)
  • IKK Classic: Arbeitssucht erkennen: Symptome und Therapie. Online: https://www.ikk-classic.de/... (Abgerufen am 07.06.2023)