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Sie ritzen sich mit einer Rasierklinge, schneiden sich mit einem Messer oder stechen sich mit einem spitzen Gegenstand – Hauptsache, der Schmerz bringt Erleichterung, weiß Jakob Maske aus Erfahrung. Der Kinderarzt arbeitet in Berlin in einer Kinder- und Jugendarztpraxis und ist Pressesprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte BVJK.

Vor allem in den Jugendvorsorgeuntersuchungen fällt ihm immer wieder auf, dass sich Teenager selbst verletzen. „Es ist immer irgendein Druck, den Jugendliche nicht aushalten, den Schule, Eltern, das Umfeld, den schlichtweg das Leben auf sie ausübt. Dem fühlen sie sich nicht gewachsen“, sagt Maske.

So oder so ist das selbstverletzende Verhalten Mittel der Wahl, um mit Stress, Anspannung und auch „unguten“ Gefühlen umzugehen.

Wie verbreitet ist Ritzen bei Kindern und Jugendlichen?

Mehrere, großangelegte Untersuchungen an deutschen Schulen ergaben, dass selbstverletzendes Verhalten sehr weit verbreitet ist: Fast jeder oder jede vierte Jugendliche hat sich schon einmal absichtlich selbst verletzt, regelmäßig tun es ein bis fünf Prozent.

Im Alter von etwa zehn bis elf Jahren geht das Ausprobieren los. Der Höhepunkt ist bei den 15- bis 16-Jährigen erreicht, berichtet Prof. Dr. Marcel Romanos, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.

Was steckt hinter regelmäßigem Ritzen?

Wenn Eltern bei ihrem Kind Narben an Oberschenkeln, Knöcheln oder Armen entdecken, sollten sie sich in jedem Fall ärztliche Hilfe holen. Es kann zwar sein, dass der oder die Jugendliche das Ritzen nur ausprobiert, weil es Freunde auch machen oder weil er oder sie es beispielsweise auf dem Videokanal TikTok gesehen hat.

Hinter regelmäßigem Ritzen kann aber auch eine ernstzunehmende psychische Erkrankung stecken. Das kann eine Depression, aber auch eine Borderline-Störung, Angsterkrankung oder posttraumatische Belastungsstörung sein. „Diese Kinder können ihre Emotionen nicht regulieren und erleben Stress und Anspannungszustände um ein Vielfaches ausgeprägter als Gesunde“, erläutert Romanos.

Wenn sich die Betroffenen absichtlich selbst verletzen, erleben sie eine kurzzeitige Entlastung. „Dieser positive Effekt hat natürlich zur Folge, dass sie es immer wieder tun“, so Romanos weiter. Dann wird das selbstverletzende Verhalten chronisch, es wird also über eine lange Zeit beibehalten.

Mein Kind ritzt sich – was soll ich tun?

Eltern, deren Kind sich ritzt, sollten in jedem Fall das Gespräch suchen, vor allem aber schnellstmöglich einen Termin beim Kinder- und Jugendarzt vereinbaren, empfiehlt Maske: „Wir sind die Vertreter der Kinder und Jugendlichen und sind für sie da. Wir können in der Regel ganz gute Gespräche mit den Heranwachsenden führen, um sie vielleicht für eine Therapie zu öffnen.“

Kinderarzt oder Jugendärztin stellen gezielte Fragen, wie sich der oder die Jugendliche im Alltag fühlt und ob es Ereignisse in der Vergangenheit gab, die verarbeitet werden müssen etc. Die Antworten können helfen, die Ursachen aufzudecken und letztlich zu behandeln. Meist wird dafür dann weiter überwiesen an einen Kinder- und Jugendpsychiater oder eine Psychotherapeutin.

Wann hilft meinem Kind eine Therapie?

Damit eine Therapie beginnen kann, müssen die Betroffenen zuallererst selbst ein Anliegen haben. Therapie geht nur freiwilig. „Das stellt sich manchmal schwierig dar, weil das Ritzen ja für die Kinder ihre bisherige Strategie ist, um mit ihren Emotionen umzugehen“, sagt Experte Romanos. Für die Eltern und das familiäre Umfeld, das sich Sorgen macht, ist das sehr belastend, oft ist da auch die Angst, das Kind könnte sich selbst etwas antun. Romanos versucht hier zu beruhigen: „Die Selbstverletzung an sich ist nicht Ausdruck eines Wunsches der Kinder und Jugendlichen tatsächlich sterben zu wollen.“

Akute Krise: Was tun bei Selbstmordgedanken?

Allerdings erhöht selbstverletzendes Verhalten das Risiko, in echte „suizidale Krisen“ zu geraten. Hinweise auf solche Krisen können immer wiederkehrende Gedanken sein, nicht mehr leben zu wollen oder auch, dass die Selbstverletzungen immer schwerwiegender werden und nicht mehr nur oberflächlich geritzt wird. Dann sollten Eltern laut Romanos umgehend handeln. Also: Entweder einen Notarzt rufen oder das Kind in die nächstgelegene Klinik bringen, damit ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie die Frage der akuten Suizidalität klären kann.

Laut Romanos ist so eine akute Phase meist nach wenigen Tagen vorüber. Dann sei es nicht notwendig, die Heranwachsenden gegen ihren Willen stationär zu behandeln, meint Romanos: „Angesichts der Chronifizierung des Problems und da es auch oft lange dauert, bis es erkannt wird, braucht es eher eine langfristige ambulante Therapie.“

Welche Strategien helfen gegen das Ritzen?

Damit das Kind gesund werden kann und die Therapie auch Erfolg bringt, sei es außerdem wichtig, sich realistische Therapieziele zu setzen, meint der Kinder- und Jugendpsychiater Romanos: „Eltern sollten nicht erwarten, dass ihr Kind von heute auf morgen aufhören kann, sich selbst zu verletzen.“

Er rät dazu, sich auf einzelne Therapieschritte zu konzentrieren: Als Erstes also daran arbeiten, dass sich die Kinder nicht mehr so häufig ritzen. Das kann gelingen, indem Jugendliche mit therapeutischer Hilfe Alternativen zum Ritzen ausprobieren, die ihnen dabei helfen, emotionalen Druck abzubauen. Gemeinsam wird auch nach Wegen gesucht, die dabei helfen, dass der Druck gar nicht erst so groß wird „Es geht darum, Strategien zu entwickeln, wie man seine Emotionen in den Griff bekommen kann, also so, dass man nicht von einer Gefühlswelle mitgerissen wird und dann die Kontrolle verliert“, erläutert Romanos.

Wie können Eltern darüber hinaus unterstützen?

Sollte es trotz Krankheitseinsicht und Therapie dennoch passieren, dass sich der oder die Jugendliche wieder verletzt, hilft es wenig, wenn Eltern ihrem Sprössling Vorwürfe machen, erklärt Romanos: „Das setzt das Kind nur noch mehr unter Druck und kann das Verhalten verstärken.“

Als wichtigsten Tipp kann der Experte betroffenen Familien nur mit auf den Weg geben, da zu sein, Gespräche anzubieten und zuzuhören. „Und falls es Eltern nicht gelingt, mit ihrem Kind zu sprechen, etwa, weil es sich zurückzieht, kann der Weg über Dritte, wie den Kinder- und Jugendarzt, gut funktionieren“, rät Maske. Zudem können sich Eltern auch Hilfe suchen, etwa bei Familienberatungsstellen oder Selbsthilfegruppen in ihrer Nähe.

Prävention: Wie selbstverletzendem Verhalten vorbeugen?

Prävention könnte selbstverletzendes Verhalten sogar von vorneherein verhindern. Darauf deuten zumindest die Ergebnisse eines Schulprogramms hin, das Romanos gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Team um Dr. Arne Bürger entwickelt hat. Bürger ist Leitender Psychologe der Ambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Würzburg

In „DUDE – Du und deine Emotionen“ sollen Schülerinnen und Schüler lernen, ihre Gefühle zu erkennen, zu deuten, Frühwarnzeichen für Stress wahrzunehmen und psychisch gesund zu bleiben – indem sie mit Anspannung besser klarkommen.Wie das funktioniert, kann bei jeder und jedem unterschiedlich sein: Dem einen hilft es, Musik zu hören, einen anderen entspannt ein Telefonat mit einer Freundin und ein Dritter baut mit Sport Druck ab. „Ziel ist es, dass man eben nichts macht, was einem schadet.“

Noch sind die Ergebnisse der Untersuchung nicht veröffentlicht. Ab 2024 wird DUDE in vielen Bundesländern in Schulen angeboten werden.


Quellen:

  • Ärzteblatt: Ritzen bei jungen Mädchen ist „epidemisches Problem“. Online: https://www.aerzteblatt.de/... (Abgerufen am 24.10.2023)
  • Plener P L, Kaess M, Schmahl C et al.: Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter. Online: https://www.aerzteblatt.de/... (Abgerufen am 24.10.2023)
  • Plener P L, Kaess M, Bonenberger M et al.: Umgang mit nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) im schulischen Kontext . In: Online: 02.12.2011, https://doi.org/...