Borderline (Borderline-Persönlichkeitsstörung)
Borderline bedeutet übersetzt Grenzlinie. „Der Begriff stammt aus einer Zeit, in der man Borderline noch im Grenzbereich zwischen Neurose und Psychose verortete“, erklärt Professor Christian Schmahl vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Eine längst überholte Einschätzung: Von Neurosen spricht heute kaum jemand mehr und auch mit schweren psychischen Krankheiten wie Schizophrenie hat Borderline nichts zu tun. Trotzdem hat sich der Begriff gehalten und wird selbst von der Weltgesundheitsorganisation verwendet. Dort gilt Borderline als Unterform einer „emotional instabilen Persönlichkeitsstörung“: Betroffene leiden unter starken und unkontrollierbaren Emotionen, sind impulsiv und tun sich schwer damit, stabile Beziehungen zu pflegen. „Das bringt sie oft an ihre Grenzen, so dass der Begriff doch wieder ganz gut passt“, sagt Schmahl.
Was ist Borderline?
„Borderline ist genau genommen keine Krankheit, sondern eine besondere Ausprägung der Persönlichkeit“, erklärt Professor Tilman Steinert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm. So wie andere Menschen besonders ängstlich, ordentlich, reizbar oder misstrauisch sein können, sind Menschen mit Borderline besonders impulsiv. Allerdings in einem behandlungsbedürftigen Ausmaß, denn für Betroffene ist Borderline nicht nur mit einem erheblichen Leidensdruck verbunden, sondern auch gefährlich: Etwa 70 Prozent versuchen mindestens einmal, sich das Leben zu nehmen. Ohne Behandlung sterben etwa fünf Prozent der Betroffenen tatsächlich durch Suizid. Eine frühzeitige Therapie ist deshalb wichtig. Auch, weil professionelle Hilfe die Chance auf ein normales Leben birgt. „Eine Therapie ermöglicht Betroffenen wichtige Schritte der sozialen Integration wie etwa den Eintritt ins Erwerbsleben, Berufstätigkeit und Partnerschaft“, so Steinert.
Wie äußert sich eine Borderline-Störung?
Charakteristisch ist das chaotische und unvorhersehbare Gefühlsleben der Betroffenen. Mal sind sie euphorisch und überschwänglich, dann wieder gereizt, wütend oder niedergeschlagen – oft von einem Moment auf den anderen. „Starke Stimmungsschwankungen, fehlende Impulskontrolle und heftige Wutausbrüche sind ebenso typisch wie große innere Anspannung und Ängste, mangelndes Selbstwertgefühl und eine gestörte Körperwahrnehmung“, sagt Schmahl. Viele Betroffene fühlen sich innerlich zerrissen und leer, ertragen es nur schwer, allein sein und haben dennoch massive Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Insbesondere mit Partnerschaften tun sie sich schwer, weil sie oft zwischen extremer Idealisierung und Abwertung des Lebenspartners schwanken.
Suizidgedanken und Selbstverletzung kommen bei Betroffenen so häufig vor, dass beides zu den Diagnosekriterien zählt. „Oft geht Borderline zudem mit anderen Problemen oder Krankheitsbildern einher, etwa Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen oder Suchtverhalten“, sagt Schmahl. Den „typischen Borderliner“ gibt es dennoch nicht, das Spektrum der Auffälligkeiten und Symptome ist groß. „Pauschal von Borderlinern zu sprechen, macht aus bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen eine Identität, das ist für Betroffene eher schädlich als nützlich“ gibt Steinert zu bedenken. Treffender findet der Psychiater deshalb Formulierungen wie „Menschen mit überschießenden Gefühlsreaktionen“ oder „Menschen mit schlechtem Selbstwertgefühl“.
Wie viele sind betroffen?
Experten schätzen, dass zwei bis drei Prozent der Bevölkerung unter einer Borderline-Störung leiden. Die meisten davon sind jung, meist zeigt sich die Störung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Obwohl bis zu 80 Prozent der Patienten in Therapie weiblich sind, sind Männer und Frauen gleichermaßen betroffen. Die verzerrten Zahlen haben zwei Gründe: Zum einen suchen sich Frauen eher Hilfe als Männer, zum anderen äußert sich eine Borderline-Störung je nach Geschlecht offenbar unterschiedlich. „Frauen internalisieren Probleme eher, etwa durch Selbstwertprobleme, Ängste, Selbstverletzung oder Rückzug. Männer hingegen externalisieren Probleme, indem sie zum Beispiel Streit suchen“, erklärt Steinert. Salopp gesagt landeten Frauen deshalb häufiger bei einem Therapeuten und Männer bei der Polizei.
Woher der Hang zur Selbstverletzung?
Etwa 90 Prozent der Betroffenen zeigen selbstschädigendes Verhalten. „Das kann sich allerdings sehr unterschiedlich äußern“, sagt Schmahl. Viele Betroffene ritzen, verbrennen, schneiden oder kratzen sich zum Beispiel, andere suchen das Risiko, etwa durch schnelles Autofahren oder halsbrecherische Hobbys, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Auch exzessives Essen oder promiskuitive Sexualität sind Formen, in denen sich die Selbstschädigung äußern kann. Solche Strategien lindern die innere Anspannung und bieten Betroffenen einen Ausweg für ihre quälend starken Emotionen. Das Thema Schmerz ist dabei mittlerweile gut untersucht. MRT-Aufnahmen des Gehirns zeigen etwa, dass die für Emotionen zuständigen Hirnregionen bei Borderline-Patienten oft überaktiv sind, Schmerz sie aber dämpft. „Sich zu ritzen oder anderweitig zu verletzen, verschafft Betroffenen also tatsächlich messbar Erleichterung“, sagt Schmahl. Auch die Suchtanfälligkeit – knapp 80 Prozent der Betroffenen entwickeln in ihrem Leben eine substanzbezogene Störung bis hin zur Abhängigkeit – lässt sich ein stückweit erklären: „Wenn man sich ständig schlecht fühlt, erhöht das die Neigung, die eigene Befindlichkeit mit Substanzen regulieren oder manipulieren zu wollen. Das können Medikamente sein, aber auch Drogen aller Art und Alkohol“, erklärt Steinert. Kurzfristig könne das Erleichterung verschaffen, mittelfristig schaffe es aber ein zusätzliches Problem, das nicht selten irgendwann das Hauptproblem wird.
Ursachen
„Wie die meisten psychischen Störungen ist auch Borderline multifaktoriell bedingt“, sagt Schmahl. Soll heißen: In der Regel kommen als Auslöser mehrere Gründe zusammen. Eine Rolle spielt zum Beispiel die genetische Veranlagung. Es gibt eine angeborene Neigung zu wechselhaften Gefühlen und einem instabilen Selbstbild. Eine Persönlichkeitsstörung entwickelt sich daraus aber meist erst dann, wenn zusätzlich ungünstige Umweltbedingungen vorliegen. Dazu gehören insbesondere traumatische Erfahrungen in Kindheit und Jugend. „Häufig sind etwa Missbrauch, Gewalterfahrungen oder Vernachlässigung in der Kindheit“, erklärt Schmahl. Einmalige traumatische Erlebnisse lösen die Störung normalerweise aber nicht aus. „Es sind eher anhaltende ungünstige Umstände in der Jugend und vor allem Kindheit. Das muss nicht unbedingt sexueller Missbrauch sein, sondern es kann auch anhaltende emotionale Abwertung und mangelnde fürsorgliche Zuwendung durch Bezugspersonen sein“, sagt Steinert.
Daneben gibt es mittlerweile auch Untersuchungen zu hirnorganischen Veränderungen, die eine Borderline-Störung begünstigen könnten. Bei manchen Betroffenen sind etwa Hirnregionen verkleinert, die mit der Emotionsverarbeitung zu tun haben. Auch der Einfluss eines Ungleichgewichts von Botenstoffen wie Serotonin oder Acetylcholin wird als Einflussfaktor diskutiert.
Diagnose
Eine Borderline-Störung wird mithilfe von Diagnosekriterien gestellt. Das ist letztlich ein Fragebogen, der auffällige Verhaltensweisen erfassen soll. Manche Fälle sind eindeutig, andere kompliziert: „Zum Beispiel hat nur ein Teil der Menschen mit kindlichen Traumatisierungen und komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen auch eine Borderline-Störung. Und viele, aber eben nicht alle Menschen mit Borderline-Störung, haben eine Traumavorgeschichte“, sagt Steinert.
Ein wichtiges Kriterium sei zudem, ob Probleme dauerhaft und regelmäßig auftreten. „In Krisensituationen und unter Stress reagieren fast alle Menschen unreif und tun Dinge, die sie sonst nicht tun würden. Das rechtfertigt nicht gleich die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung. Stattdessen muss man schauen, ob solche Verhaltensweisen über lange Zeit relativ konstant immer wieder zu beobachten sind“, so Steinert.
Therapie
Für Borderline-Patienten gibt es gleich zwei gute Nachrichten. Zum einen schwächt sich die Störung oft mit zunehmendem Alter ab oder verschwindet sogar ganz – schon ab 40 Jahren sind nur noch sehr wenige Menschen betroffen. Zum andern kann sie nachweislich wirksam behandelt werden. „Lange galt Borderline als unheilbar und eine Therapie nur als Krisenmanagement. Doch heute wissen wir, dass man die Störung sehr gut behandeln kann“, sagt Schmahl. Das Mittel der Wahl sind dabei Psychotherapien, in denen Betroffenen lernen, besser mit ihren Emotionen umzugehen, soziales Miteinander zu lernen und sich Strategien für den Umgang mit Krisen aneignen. Gut bewährt haben sich zum Beispiel die Übertragungsfokussierte Therapie, die Mentalisierungsbasierte Psychotherapie und die Dialektisch-Behaviorale Therapie. In einigen Fällen hilft auch eine traumaorientierte Behandlung.
Allerdings teilen alle psychotherapeutischen Ansätze ein Problem: „Sie erfordern eine gute und anhaltende Motivation zur Mitarbeit. Doch gerade Durchhaltevermögen und Belastbarkeit mit unangenehmen Gefühlszuständen sind typische Schwächen der Menschen mit Borderline“, sagt Steinert. Es kann deshalb schwierig sein, ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis zwischen Patient und Therapeut aufzubauen. Auch die Kombination mit Suchterkrankungen erfordert eine besondere therapeutische Herangehensweise – Therapieabbrüche sind in dieser Gruppe häufiger. Dennoch: Die Chancen, mithilfe einer Therapie eine deutliche Besserung zu erzielen und ein normales Leben zu führen, stehen gut.
Medikamente spielen bei der Therapie eine untergeordnete Rolle. Einerseits, weil lange Zeit wenig zu ihrem Einsatz bei Borderline geforscht wurde. Andererseits, weil sich damit die ursächlichen Auslöser nicht behandeln lassen. In vielen Fällen eignen sie sich dennoch zur Ergänzung einer Psychotherapie. Etwa, um extreme Ausschläge von Gefühlen und Reaktionen etwas zu dämpfen oder zur Behandlung von Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Schlafstörungen. „Das gilt es je nach Einzelfall abzuwägen“, sind sich die Experten einig.
Beratende Experten
Professor Tilman Steinert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm (Weissenau)
Professor Christian Schmahl, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann eine ärztliche Beratung nicht ersetzen. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir keine individuellen Fragen beantworten.