Suizidprävention: „Depressionen sind generell gut behandelbar“
Professor Ulrich Hegerl ist Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Er erklärt den Zusammenhang zwischen Suiziden und Depressionen, und wie man frühzeitig gegensteuern kann:
Professor Hegerl, geht einem Suizid stets eine psychische Erkrankung wie eine Depression voraus?
Ulrich Hegerl: Wenn man rückblickend bei Suizidopfern nachforscht, finden sich bei über 90 Prozent Hinweise auf eine vorhergehende psychische Erkrankung. Bei psychisch Gesunden hat die Natur einen starken Riegel vorgeschoben: Selbst Menschen mit großen Problemen nehmen sich normalerweise nicht das Leben. Sie sind noch in der Lage, Hoffnung zu empfinden, was in der Depression nicht möglich ist.
Was ist bei einer Depression anders?
Hegerl: Die falsche Überzeugung, es gäbe keinerlei Ausweg aus der aktuellen Lage, ist typisch für Depressionen. Dieses tiefe Gefühl der Hoffnungslosigkeit in Verbindung mit Schlafstörungen, übertriebenen Schuldgefühlen, tiefer Freudlosigkeit und Erschöpfung erzeugen einen hohen Leidensdruck. So entsteht der Wunsch, dieser unerträglichen Situation wie auch immer zu entkommen, bis hin zu den Gedanken, sich etwas anzutun.
Fällt die Entscheidung zu einem Suizid plötzlich, oder gibt es einen Vorlauf?
Hegerl: Das ist unterschiedlich. Bei manchen Menschen mit psychischen Erkrankungen kann der Entschluss zur Selbsttötung sehr spontan einschießen, so dass sie sofort versuchen, sich das Leben zu nehmen. Andere planen wochenlang ihren Suizid.
Könnte man die meisten Suizide verhindern?
Hegerl: Tatsächlich sind in Deutschland die Selbsttötungen schon entscheidend zurückgegangen von über 18.000 vor 40 Jahren auf jetzt etwa 9.000. Der Hauptgrund dürfte sein, dass sich mehr psychisch Erkrankte Hilfe holen, und dass psychische Erkrankungen besser erkannt und behandelt werden.
Gibt es heutzutage mehr Depressionen als früher?
Hegerl: Aus bevölkerungsbasierten Studien wissen wir, dass Depressionen mit den Jahrzehnten nicht wesentlich häufiger geworden sind. Was deutlich zugenommen hat, ist dagegen die Zahl der Menschen, die eine Diagnose erhalten, aus der Isolation herauskommen und mit Psychotherapie oder Antidepressiva behandelt werden.
Wen kann eine Depression treffen?
Hegerl: Die Krankheit kann nicht nur Menschen in schwierigen Lebenssituationen treffen. Die äußeren Faktoren werden überschätzt. Entscheidender ist oft, ob jemand die Veranlagung dazu hat. An einer Depression können also auch erfolgreiche Menschen erkranken, denen es objektiv gesehen gut geht.
Welche Auswirkungen hat eine Pandemie, wie Corona?
Hegerl: Insbesondere durch die Maßnahmen gegen die Pandemie hatten viele Menschen berufliche Sorgen, gesundheitliche Ängste, häusliche Konflikte. Sie waren demoralisiert durch fehlenden Sport, ungesundes Schlafverhalten oder sozialen Rückzug. Das sind zunächst keine krankhaften, sondern ganz menschliche Reaktionen. Bei Menschen ohne Veranlagung führen sie zu keiner depressiven Erkrankung. Für Menschen mit Veranlagung können die Folgen immens sein. Das hat eine Befragung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe in Kooperation mit der Deutsche Bahn Stiftung ergeben: Fast die Hälfte der Befragten berichtete über depressive Rückfälle, Suizidgedanken, einige sogar über Suizidversuche in den vorhergehenden sechs Monaten.
Diese Verschlechterungen standen im klaren Zusammenhang mit der Abnahme der medizinischen Versorgungsqualität (zum Beispiel stationäre Behandlungen wurden abgesagt, Versorgungsangebote heruntergefahren, Selbsthilfegruppen gecancelt); aber auch mit anderen Folgen der Corona-Maßnahmen wie weniger Bewegung und längeren Bettzeiten, von denen bekannt ist, dass sie ganz spezifisch Depressionen verschlechtern können. Hochgerechnet könnte es bei circa zwei Millionen Menschen zur Verschlechterung ihrer Depression gekommen sein. Hier wurde sehr viel Leid und ich denke auch Tod verursacht. Eine stille Katastrophe. Die Politik muss die negativen Folgen der Maßnahmen deshalb sorgfältig und systematisch zusammentragen, um künftige Maßnahmen gegebenenfalls zu optimieren. Meine Sorge ist, dass das nicht passiert.
Sind bestimmte Altersgruppen besonders anfällig für Depressionen?
Hegerl: Von der Pubertät bis ins hohe Alter sind Depressionen häufige Krankheiten, in Deutschland erkranken jedes Jahr 5,3 Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression. Es gibt aber keine großen Unterschiede, was das Alter angeht. Obwohl ältere Menschen ja wegen Verlusterlebnissen oder körperliche Erkrankungen oft mehr Gründe hätten depressiv zu sein, erkranken sie sogar eher seltener.
Wie erkennen Angehörige, dass ein Mensch in ihrem Umfeld an Depressionen leidet?
Hegerl: Da gibt es einige Warnsignale: Der Mensch zieht sich zurück und lässt seine Hobbies ruhen. Er neigt zu Schuldgefühlen und äußert unter Umständen, er sei eine Belastung für seine Mitmenschen. Ihn quälen hartnäckige Schlafstörungen und eine innere Unruhe. Er isst nicht mehr richtig und verliert an Gewicht. Seine Stimme wird leiser, er will nichts mehr unternehmen und verliert auch das Interesse am Austausch von Zärtlichkeiten.
Was können Angehörige und Betroffene tun?
Hegerl: Den Weg in eine professionelle Behandlung bahnen.
Und falls der Betroffene sich dazu nicht aufraffen kann?
Hegerl: Das ist ein großes Problem, dass die Menschen nicht mehr die Energie haben und auch keine Hoffnung haben, dass ihnen geholfen werden kann. Umso wichtiger ist es, dass die Angehörigen sich dieser Last annehmen, einen Arzttermin vereinbaren und den Betroffenen nach Bedarf auch dorthin begleiten.
Welcher Arzt ist zuständig?
Hegerl: Der Facharzt für psychische Erkrankungen ist der Psychiater. Auch der Hausarzt kann ein erster Ansprechpartner sein und erfolgreich mit Antidepressiva behandeln. Wichtig ist aber, dass der Patient ihm auch seine psychischen Beschwerden wie finstere Gedanken und Schuldgefühle mitteilt, nicht nur die körperlichen Symptome. Manche Depression versteckt sich hinter körperlichen Beschwerden wie Schlafstörungen, Verdauungsstörungen oder Kopfschmerzen und kann dann übersehen werden. Eine weitere Anlaufstelle sind die Psychologischen Psychotherapeuten, die Psychotherapie anbieten und wie Ärzte über die Behandlung über die Krankenkasse abrechnen können.
Wer behandelt die Patienten weiter?
Hegerl: Der Großteil der Behandlungen erfolgt durch die Hausärzte. Bei schwereren und hartnäckigen Depressionen sollte dann aber ein Facharzt hinzugezogen werden, also ein Psychiater oder Nervenarzt. Neben den Antidepressiva ist die Psychotherapie die zweite wichtige Säule der Behandlung. Diese wird von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten angeboten. Mit den Ärzten sollte besprochen werden, ob im Einzelfall eine Psychotherapie, eine medikamentöse Behandlung oder beides sinnvoll ist.
Was sollen Angehörige tun, wenn die betroffene Person eine akute Krise hat?
Hegerl: Entweder gleich mit ihm in eine Klinik fahren. Oder den Notarzt holen, oder auch die Polizei, wenn die Angst besteht, dass sich der Betroffene unmittelbar etwas antun will.
Welche weiteren Hilfsangebote gibt es?
Hegerl: Es gibt auch ein Infotelefon von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe mit der Telefonnummer 0800-3344533. Unter www.diskussionsforum-depression.de betreibt die Stiftung auch ein Diskussionsforum, in dem Patienten und Angehörige ihre Erfahrungen austauschen, und das professionell moderiert wird.
Was möchten Sie den Lesern mit auf den Weg geben?
Hegerl: Depressionen sind generell gut behandelbar. Deshalb sollte man den Betroffenen unbedingt Mut machen, sich Hilfe zu holen! Ich kenne zahllose Menschen, die trotz der Erkrankung Depression ein erfolgreiches und erfülltes Leben führen.