„Lasst uns alt werden!“
Frau Schiff, was ist das Schöne am Altern?
Man geht in eine große Freiheit: Viele familiäre Pflichten sind abgeschlossen. Natürlich nicht für jeden, besonders nicht für die, die Angehörige pflegen. Trotzdem beginnt eine Phase neuer Möglichkeiten. Das ist ein Vorteil dieses langen Lebens!
Die meisten reifen auch charakterlich: In jungen Jahren beschäftigen uns viele Unsicherheiten. Ist man engagiert genug, gut genug, schön genug? Alles gelaufen! Wer sagen kann: Ich befreie mich von diesen Sorgen, bin, wie ich bin, lebe so, wie ich möchte, geht einen wichtigen Schritt.
Kommen diese Einsichten von allein?
Grundsätzlich ist es gut, bewusst durchs Leben zu gehen. Das heißt, die Dinge, die ich erlebe, zu verarbeiten. Durch eine Krise zu gehen und zu überlegen, wie ich daran wachsen kann. Hinzuschauen, wo das Hinschauen wehtut. Es ist okay, wenn das mal nicht geht.
Selbst Menschen, die nicht bewusst durchs Leben gehen, kommen zu bestimmten Schlüssen. Ob reflektiert oder nicht, eine Tumordiagnose wird mir vorhalten, wie kostbar das Leben ist. Ich bin da voller Vertrauen ins Leben: Das lehrt uns alles, was wir brauchen. Mein Tipp: sich helfen lassen, wenn man an einem Problem hängen bleibt. Gefühle sind so nicht weniger schmerzhaft, man geht aber anders mit ihnen um.
Kann man so jung bleiben?
Lassen Sie uns lieber das Wort „alt“ nicht so negativ sehen! Viele verbinden damit Sturheit oder zwanghafte Versuche, jung zu bleiben. Dabei gibt es genug starrsinnige und frustrierte junge Menschen und hochflexible, neugierige alte Menschen.
Wir müssen nicht jung bleiben, sondern einen anderen Bezug zum Alter herstellen. Falten liften lassen zum Beispiel: Das ist vollkommen in Ordnung, aber auch so, als würden Sie einen Baum, dessen Blätter sich verfärben, anmalen wollen. Bei uns selber tun wir das, weil wir uns vor dem Altern fürchten. Diese Angst hindert uns daran, die großartigen Seiten auszuleben.
Zum Beispiel?
Eine gelernte Gärtnerin kam zu mir mit der Feststellung, dass ihr die untätige Rente nicht guttut, hielt sich aber mit der Frage auf: Darf ich noch arbeiten? Es existiert schließlich auch die Vorstellung, man sollte sich bestimmte Dinge im Alter nicht mehr antun. Sie hat dann eine Schule aufgebaut, in der sie Menschen in Floristik unterrichtet.
Ein Paar in meiner Beratung, frisch in Rente, hatte vorher überhaupt nicht miteinander geredet, wie es sich die Zeit vorstellt. Ziemlich unterschiedlich, wie sich herausstellte: Der Mann war eher häuslich, sie wollte reisen. Die beiden erkannten, dass sie nicht alles zusammen machen müssen.
Alt zu werden braucht also Vorbereitung – besonders gemeinsam?
Auf jeden Fall! Wie Sie mit 80 leben, ist das Ergebnis dessen, wie Sie vorher gelebt haben. Wer in Rente geht, verliert viele soziale Kontakte über die Arbeit. Menschen mit Kindern sind vielleicht etwas besser vernetzt. So oder so, wenn ich mich nicht gut vorbereite, soziale Kontakte vernachlässige, dann kann es sein, dass ich mit 80 beim Tod meiner Partnerin oder meines Partners völlig allein bin.
Leider ist Altersvorbereitung eher ein Frauenthema. Trotzdem scheinen Frauen große Kompromisse in Bezug auf ihre Rentengestaltung einzugehen. Stehen Sie also zu Ihren Wünschen, reden Sie miteinander: Wie finden wir einen Weg, dass jeder Zeit für sich und seine Lebensziele hat?
Und wenn man nicht übereinkommt? Ist Scheidung im Alter ein Tabu?
Selten sind Scheidungen im Alter nicht. Viele haben schon das sogenannte Empty-Nest-Syndrom, wenn die Kinder aus dem Haus sind, arbeiten dann aber zumindest noch. In der Rente haben sie auch die Arbeit nicht mehr und merken, dass sie einander eigentlich nicht mehr mögen. Da gibt es unzählige Grauzonen: Ich kenne Leute, die sich nicht scheiden lassen aus Wertschätzung vor der langen gemeinsamen Zeit, dann aber nach dem Tod des Partners selbstbestimmt von vorne beginnen.
Eine Frau beendete nach 50 Jahren ihre funktionierende Ehe, weil sie noch mal eigenständig leben wollte. Sie und ihr Ex-Partner sind weiterhin gute Freunde. Zugleich ist es auch okay, Kompromisse zu machen: Es reicht ja schon zu wissen, warum Sie diese eingehen. Und: „Weil ich die Person liebe“ reicht auch als Antwort.
Wird man überhaupt reif für die Rente?
Wen seine Arbeit erfüllt, den sollte niemand abhalten. Rein wissenschaftlich kann es in manchen Fällen sogar gesünder sein, weiterzuarbeiten. Arbeit geht über Geld verdienen hinaus, sie stellt uns vor Herausforderungen, bedeutet Weiterbildung, soziale Integration. Niemand muss also reif für die Rente werden.
Auf der anderen Seite ist „Mir reicht es jetzt“ auch ein legitimer Gedanke! Überprüfen Sie, welches Bild Sie von der Rente haben. Bin ich mir bewusst, dass diese Zeit sehr lange dauern kann? Planen Sie Ihre Freizeit und Ihren Alltag. Und betrügen Sie sich nicht selbst: Sie werden nicht 25 Jahre täglich wandern gehen.
Wie geht man am besten mit diesen großen Veränderungen um?
Die Umbrüche betreffen soziale Kontakte, die viele Zeit, die wir plötzlich haben, und die Partnerschaft. Das Allerwichtigste ist ein friedvoller Abschied.
Ich habe Leute erlebt, die zehn Jahre später noch erzählen, wie sehr sie die eine Versetzung vor der Rente gekränkt hat. Sie landen nicht in der Zukunft. Ein richtiger Abschied von einer langen Arbeitszeit bedeutet, positiv zu sein, zurückzuschauen und sich bewusst zu werden: Wer bin ich eigentlich geworden?