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„Mein Leben hab ich schon gelebt, da kommt nichts mehr.“ Eckehard Pioch sitzt in seiner Berliner Praxis immer wieder älteren Männern gegenüber, die Sätze sagen wie diesen. Was für ein Irrtum! „Der ,Best Ager‘ mit 65 hat oft noch ein Drittel seines Lebens vor sich“, sagt der ­Psychoanalytiker, der viele Patienten jenseits der 70 behandelt. Denn: Die Menschen werden immer älter. Laut Statistischem Bundesamt wächst die Gruppe der über 80-Jährigen rasant. Mehr als sechs Millionen leben ­derzeit in Deutschland. Bis 2050 wird ihre Zahl voraussichtlich nochmals um mehr als die Hälfte steigen. Da­runter zunehmend mehr Männer.

Verlust alter Weggefährten

An sich erfreuliche Aussichten. Zumal es mit dem Wohlbefinden im Alter nicht zwangsläufig bergab geht. Fragt man Hochbetagte über 80, wie sie sich fühlen, sind die Antworten im Schnitt überraschend positiv. Dennoch versteht Pioch die Nachdenklichkeit vieler seiner Klienten. Alter kann auch einsam machen. Die Kinder haben oft längst eigene Familien, leben kilometerweit weg in einer anderen Stadt.

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Gleichzeitig verliert man alte Weggefährten, Bekannte, Freunde, Angehörige durch Krankheit oder gar Tod. Die Lücken wieder zu füllen, gelingt im „dritten Lebensalter“ oft noch. So nennen Forscher die Phase nach Beruf und Familie, in der man das Leben noch einmal aktiv anpackt. Viele reisen mehr, entdecken ein neues ­Hobby. Weniger Arbeit und ­Verpflichtungen – da blüht manch einer noch mal regelrecht auf. „Aber es ist eine Frage der Zeit. Dann muss sich jeder dem Thema Abschied­nehmen stellen“, sagt Pioch.

Einen großen Einschnitt bedeutet für Männer oft der Tod der Partnerin. Gerade im Alter wachsen viele Paare noch stärker zusammen, beobachtet Pioch. Frauen übernähmen in dieser Lebensphase gerne eine besonders fürsorgliche Rolle. Umso gravierender erleben Männern dann den ­Verlust, auch bei einer Trennung.

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Das Zusammenleben mit meiner Freundin Ingrid hat nicht so recht funktioniert. Ich wollte nach Feierabend mit meinen Freunden zum Tennis, sie wartete. Wir trennten uns, blieben aber Freunde. Kino, Wandern, Kunstausstellungen – in vielem machten wir weiter wie zuvor. Bis Ingrid plötzlich starb. Das erste Jahr war schwer. Als mein Hausarzt meine Leberwerte sah, sagte er: „Wenn Sie so weitermachen, sind Sie bald bei Ihrer Freundin im Himmel.“ Ich machte einen radikalen Schritt: Jetzt war ich es, der die Führung in meinem Leben übernahm. Ich habe ein Faible für Kunst, spiele gerne Schach und Tischtennis mit Freunden im Park. Über die Jahre habe ich gelernt, mit dem Alleine­sein richtig gut klarzukommen: Ich mache es mir schön, kann genießen. Etwa beim Mittagstisch beim Griechen, ganz alleine. Da ruhe ich in mir. Eigentlich gute Voraussetzungen für eine Partnerschaft. Wenn ich jünger wäre.

Horst Kobialka, 67, Rechnungsprüfer im Ruhestand aus Karlsruhe

Wenig enge Vertraute

Professor Karl-Heinz Ladwig von der Klinik für Psychosomatische ­Medizin und Psychotherapie des Münchner TU-Klinikums rechts der Isar forscht seit Jahren zu den Themen Einsamkeit und Alter. Demnach leiden Männer und Frauen in fortgeschrittenen Jahren etwa gleich häufig darunter. Das Ergebnis überrascht. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit für eine Frau, die letzten Lebensjahre allein zu verbringen, deutlich höher. ­

Frauen leiden auch öfter an Krankheiten, die ihre Kontakte einschränken, ebenso an Depressionen und Ängsten. „Sie können das offenbar aber besser ausgleichen als Männer“, folgert Ladwig. Einen Grund sieht er in einem Klischee, in dem offenbar viel Wahrheit steckt: Frauen haben ein besseres soziales Netz, pflegen oft lange, enge Freundschaften. Zwar haben auch Männer Kontakte, doch eher zu Arbeits- oder Vereinskollegen. Enge Vertraute sind kaum ­­­­darunter.

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Ich hörte übers Internet von einem internationalen Män­nerkochclub, dem CC-Club. Ich wurde Mitglied und gründete in Delmenhorst eine eigene Gruppe. Als meine Frau vor sechseinhalb Jahren starb, hat mich die Gemeinschaft sehr gestützt. Wir treffen uns einmal im Monat in einer Schulküche, etwa zehn Männer jeden Alters. Fünf bis sechs Gänge, das ist Standard. Wachtelbrüstchen mit Kirschkuchen, Zanderfilet auf Berglinsen mit Balsamicoschaum. Geredet wird dabei über alles Mögliche, Politik, aber auch sehr Persönliches. Die Einsamkeit, von der manche Altersgenossen reden, kenne ich nicht. Wenn ich den Eindruck habe, dass sich jemand im Alter zurückzieht, sage ich gerne: „Es ist nie zu spät, mit dem Kochen anzufangen.“

Gerhard Renz, 85, Diplomingenieur im Ruhestand aus Delmenhorst

Auch Männer dürfen weinen

Für Psychoanalytiker Pioch ­wirken noch immer alte Rollenmuster. Vor allem die über 80-Jährigen ­tragen das alte Männerbild der Nachkriegszeit tief in sich. Über Probleme spricht man nicht. Jungs kennen ­keinen Schmerz. „Solche Glaubenssätze sind noch sehr verbreitet“, sagt Pioch. Die Generation 70 plus ist dagegen schon stark von dem ­gesellschaftlichen Wandel der 1960er- und 1970er-Jahre geprägt. Die Haare wurden länger, die Kleider bunter. Von „den neuen ­Männern“ war damals die Rede. Und die ­durften auch mal weinen.

Auch die Alterswissenschaftlerin Dr. Miranda Leontowitsch von der Goethe-Universität Frankfurt ist überzeugt, dass damals etwas in Bewegung kam. Das Bild vom Mann, der Geld nach Hause bringt und ­daher von Hausarbeit befreit ist, bröckelte. „Die Altersgruppe hat gelernt, den Kochlöffel zu schwingen, die Kinder zu versorgen oder die Wohnung einzurichten“, sagt ­Leontowitsch. Das bestätigt auch ihre Studie ­„Alleinlebende Männer im Alter“.

Viele haben Hemmungen, sich Hilfe zu holen

Dafür hat die Soziologin zahlreiche Männer zwischen Ende 60 und Ende 80 interviewt. Die ­Gespräche zeigten zudem: Die Situation des ­älteren allein lebenden Mannes lässt sich nicht verallgemeinern. „Von deprimiert und verun­sichert bis zu ­pragmatisch und voller Elan habe ich bei meinen Gesprächspartnern alles erlebt“, berichtet sie.

Doch auch wenn das Bild vom ­idealen Mann sich wandelt – ­man­che Prägung ist tief verwurzelt. Noch immer haben viele Männer Hemmungen, sich bei Einsamkeit Unterstützung zu holen. Die gibt es durchaus. So ­haben Volkshochschulen, ­Gemeinden, Krankenkassen oder Vereine spezielle Angebote für Ältere. In zahlreichen Städten wurden sogenannte Besuchs-Tandems ins Leben gerufen. Ehrenamtliche Helfer ­kommen regelmäßig vorbei, einfach um Gesellschaft zu leisten. „Gemeinsam statt einsam“ ist das Motto.

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Als ich in Rente ging, haben wir uns gesagt: Jetzt machen wir es uns richtig schön. Zusammen. Oft war ich es dann, der am Herd stand, es gab Königsberger Klopse, handgemachte Frikadellen. Nachmittags hat sich oft was mit den Nachbarn ergeben. Ein kurzer Blick über den Zaun genügte: „Kommt rüber!“ Als meine Frau vor fünf Jahren starb, war auf einen Schlag vieles anders. Kein Zusammensein bei Kaffee und Kuchen, stattdessen Essen auf Rädern. Nachdem ich ein paarmal gestürzt war, kam von meinem Sohn die Idee, ich könnte in eine Senioren-WG ziehen. Wir sind hier zwölf Leute. Wenn man will, ist immer jemand zum Reden da. Oder für einen Ausflug. In der Nähe habe ich ein Lieblingslokal. Statt zu denken „es muss weitergehen“, freue ich mich jetzt jeden Abend auf den nächsten Tag.

Manfred Hofstetter, 78, Bürokaufmann im Ruhestand aus Rinteln

Sich seine Gefühle eingestehen

Doch um sich Hilfe zu holen, müssen Männer lernen, zu ihren Gefühlen zu stehen. Zum Beispiel zu ihrer Einsamkeit. „Das ist so ungewohnt“, hört Eckehard Pioch manche Patienten sagen, wenn er sie dazu ermuntert, Freunden und Angehörigen gegenüber ehrlich zu sein. Auszusprechen, wie es ihnen wirklich geht, ist ihnen völlig fremd. Nach außen markieren sie noch immer den starken Mann.

Auch die Sorge, jemanden zu be­lasten, schwingt mit. Dabei ist der Enkel vielleicht froh, wenn er gefragt wird, wie es mit der Ausbildung läuft. Vor allem, wenn er ehrlich von seinen Problemen erzählen darf. Und fragt gerne zurück, wie es seinem Opa geht – ohne die Sorge, an Gefühle zu rühren, über die dieser nicht sprechen will. Denn auch das Umfeld einsamer Menschen hat oft Berührungsängste, weiß Pioch. Das führt dazu, dass Chancen vertan werden.

Eigeninitiative ergreifen

Doch wie kann es gelingen, diese zu ergreifen? Am Anfang steht oft eine Erkenntnis: Ich möchte eigentlich anders leben. Laut Pioch gelingt dies am besten, wenn man erst mal Bilanz zieht. Wichtig sei es dabei, gute Erinnerungen zu bewahren – oder überhaupt erst wiederzufinden. Beim Blättern in Fotoalben oder auch in Gesprächen findet man selbst in einem eher schwierigen Leben meist Zeiten, die gut waren. Darauf lässt sich aufbauen. „Dann kann etwas Neues, vielleicht Unerwartetes entstehen“, sagt Pioch. Neue Freundschaften, Interessen, vielleicht ein Wohnungswechsel oder eine Partnerschaft, ohne dass die Messlatte der jahrzehntelangen Ehe angelegt wird.

Alterswissenschaftlerin Leontowitsch glaubt, dass in der Gesellschaft oft ein falsches Bild vom letzten Lebensabschnitt vorherrscht. „Unsere Vorstellungen über das Leben im Alter müssen sich ändern“, sagt sie. Je jünger, desto weniger einsam? Die Pandemie hat gezeigt, dass das nicht stimmt. „Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene haben während der Lockdowns unter Einsamkeit gelitten“, so die Forscherin. Ältere Menschen, auch die Männer, hätten sich recht wacker geschlagen.

Schritte aus der Einsamkeit

Wer sich einsam fühlt, sollte allerdings etwas dagegen tun. „Lassen Sie sich anregen, ohne sich zu überfordern“, rät Pioch. Der Mensch braucht Kontakte. Aber Gemeinschaft funktioniert nicht auf Knopfdruck. Schon gar nicht, wenn man das Zusammensein mit anderen ein Stück weit verlernt hat. Der Psychotherapeut rät, langsam zu beginnen. Bei einem Vortrag sitzt man unter Menschen, hört aber nur zu. Beim Nordic-Walking-Kurs ist man unter anderen, muss aber nicht sein Innerstes öffnen. Man kann sich einfach auf die Bewegung konzentrieren. Die ersten Schritte aus der Einsamkeit dürfen ruhig kleine Schritte sein.

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