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Viel Arbeit, Konflikte in der Familie oder überzogene Leistungsansprüche – Stress hat viele Ursachen und ist ein Problem, das fast jeder kennt. Einige Menschen nutzen digitale Helfer wie Smartwatches und Apps, um besser zu entspannen. Ein Wert, der dabei eine zunehmende Rolle spielt, ist die sogenannte Herzfrequenz- beziehungsweise Herzratenvariabilität (HRV = heart rate variability). Sie bezeichnet – vereinfacht gesagt – wie stark sich die Abstände der einzelnen Herzschläge im Laufe der Zeit verändern. Denn das Herz schlägt nicht gleichmäßig wie ein Metronom.

„Die Zeitspanne zwischen den einzelnen Herzschlägen kann in Ruhe deutlich über 100 Millisekunden variieren. Das ist nicht etwa krankhaft, sondern völlig normal. Es zeigt, dass das Herz auf Beanspruchungen oder Reize reagiert und sich dementsprechend ständig anpasst“, erklärt Professor Kuno Hottenrott, Sportwissenschaftler von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Das läuft in der Regel unbewusst ab und wird durch den unwillkürlich arbeitenden Teil unseres Nervensystems, das autonome (auch: vegetative) Nervensystem gesteuert. Genauer gesagt durch das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasysmpathikus.

Stress und das autonome Nervensystem

Stress aktiviert den Sympathikus und fokussiert den Organismus auf Aktivität und Leistung: Stresshormone werden ausgeschüttet, der Blutdruck steigt, Atmung sowie Herzschlag beschleunigen sich – und die HRV nimmt kurzfristig ab. Für Entspannung sorgt anschließend der Parasympathikus, der die Körperfunktionen wieder normalisiert, sodass sich auch der Herzschlag beruhigt und die HRV wieder erhöht. „Chronischer Stress geht für die betroffenen Menschen mit dem Risiko einher, dass Sympathikus und Parasympathikus nicht mehr im Gleichgewicht sind. Dies kann sich in einer niedrigeren HRV äußern“, sagt Laura Klewinghaus, Psychologische Psychotherapeutin von der Bergischen Universität Wuppertal.

HRV: Stressmarker für den Hausgebrauch?

Tatsächlich nutzen Mediziner und Psychologinnen die HRV schon seit Längerem als einen Hinweis auf Stress. Auch in anderen Bereichen wird sie mit herangezogen, etwa um das Sterberisiko nach einem Herzinfarkt abzuschätzen. Diese Nutzung ist mit komplizierten Messungen und Auswertungen verbunden. Die HRV-Analyse für zuhause, die Wearables wie Smartwatches oder auch Smartphones und Apps bieten, ist nicht damit zu vergleichen. Als Hinweis kann man sie trotzdem nutzen, wenn man einige Dinge beachtet.

„Oft werden Wearables am Handgelenk oder Finger getragen. Dort messen sie aber nicht die Herz-, sondern die Pulsfrequenzvariabilität. Und diese Methode liefert weniger präzise Werte für die HRV-Anlayse“, erklärt Hottenrott. Wer es genauer will, sollte daher wie viele Profisportler auf ein EKG-fähiges Pulsmessgerät und einen Brustgurt zurückgreifen. In Verbindung mit einer hochwertigen Auswertungs-Software, die Messfehler gut herausfiltert, bekommt man so immerhin besser verlässliche Ergebnisse – die man aber auch noch richtig interpretieren muss.

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Je niedriger die HRV, desto höher der Stresslevel

Vereinfacht gilt: Eine niedrige HRV ist ein Hinweis darauf, dass die Anpassungsfähigkeit des Organismus eingeschränkt ist und der Stresslevel möglicherweise erhöht ist. Es gibt aber nicht den einen Idealwert. „Jeder Mensch hat einen individuellen Grundwert, um den die HRV täglich schwankt. Wer ein Gefühl für die persönliche HRV bekommen möchte, sollte daher immer über einen längeren Zeitraum messen“, empfiehlt Hottenrott. Wichtig dabei ist auch, auf die gleichen Rahmenbedingungen zu achten. Das heißt:

  • möglichst zur selben Uhrzeit, in ruhiger Umgebung und in der gleichen Körperhaltung messen
  • währenddessen nicht sprechen oder sich bewegen
  • immer das gleiche System zur Messung und Auswertung nutzen
  • daran denken, dass ausgiebiges körperliches Training, Zigaretten, Alkohol oder andere Faktoren die HRV senken können

Nur so erhält man Ergebnisse, die man miteinander vergleichen kann. Sie können gewisse Hinweise geben, etwa wann Stress im Alltag auftritt oder welche Auswirkungen beispielsweise eine durchgemachte Nacht auf die HRV haben kann.

Entspannung kann HRV verändern

Mit einer Änderung des Lebensstils und Entspannung kann man die HRV beeinflussen. „Verfahren wie etwa Progressive Muskelrelaxation aktivieren den Parasympathikus und helfen, das vegetative Nervensystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen“, erklärt Klewinghaus. Auch spezielle Atemtechniken haben einen ähnlichen Effekt und sind sehr einfach durchzuführen.

„Atmen Sie sechs Atemzüge pro Minute tief ein und aus und rufen Sie sich dabei gleichzeitig ein positives Erlebnis in Erinnerung“, so Hottenrott. Bei gesunden Menschen hat das normalerweise einen unmittelbaren – und auch durch einfache Messgeräte wie Wearables sichtbaren – Effekt auf Herzfrequenz und HRV. Regelmäßig und über einen längeren Zeitraum angewandt kann diese Atemtechnik sogar den Kortisol-Spiegel im Blut senken – und zu mehr Entspannung im Alltag führen.

Was man auf keinen Fall tun sollte: Sich durch seine HRV-Messwerte stressen lassen. Bei Bedenken immer erstmal einen Arzt aufsuchen. Er hilft Ihnen, die Situation richtig einzuordnen und kann gegebenfalls weiterführende Untersuchungen anordnen und Risikofaktoren, etwa für Herzerkrankungen, abklären.