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Die ersten sogenannten Apps auf Rezept sind zugelassen und können von Ärzt:innen auf Kosten der Kassen verschrieben werden. Die Euphorie ist vielerorts groß und doch äußern Interessengruppen Zweifel an der Effektivität der digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs). Wohin geht also mittelfristig die Reise für DiGAs?

Nur überzeugende Angebote werden sich durchsetzen

Eröffnet sich mit der Erstattungsfähigkeit künftig ein lukrativer Markt für DiGAs und ihre Anbieter? Schwierig zu sagen und wahrscheinlich differenziert zu beantworten. Ich gehe davon aus, dass die nächsten zwei bis drei Jahre wegweisend für die ganze Branche sein werden. Manche Anbieter werden jubeln, andere wieder vom Markt verschwinden.

Wie stark sich die Aufmerksamkeit auf wenige Apps für einen  Anwendungsfall konzentrieren kann, sehen wir zum Beispiel beim Thema  Meditation. Vor rund vier Jahren war der Markt für Meditations-Apps  weltweit noch stark fragmentiert, heute dominieren die Hersteller "Calm" und "Headspace". Ähnliche Entwicklungen sind im Bereich der Sekundär- und Tertiärprävention zu erwarten, also wenn es um die Behandlung von  Krankheiten oder Rehabilitation geht.

Eine große Herausforderung für DiGA-Anbieter wird deshalb sein, das eigene Produkt so weiterzuentwickeln, dass es nicht austauschbar wird; nicht zuletzt, um zusätzlichen Preisdruck zu vermeiden. Ein Schlüssel dazu kann sein, mit  Apps personalisierte Therapien zu ermöglichen und dadurch echte Mehrwerte, in Anlehnung an die Präzisionsmedizin, anzubieten. Hierfür müssen die Produkte ihre Nutzer:innen jedoch besser  verstehen.

Vitaldaten und Biomarker für eine personalisierte Behandlung

Die Erfassung, Analyse und Interpretation von Vitaldaten und  Biomarkern kann digitalen Gesundheitsanwendungen künftig einen echten Schub auf dem Weg zur Individualisierung von Gesundheitsangeboten geben. Wie der Ökonom Peter Drucker es formulierte: "Was wir nicht messen können, können wir nicht verbessern." Die Herausforderung besteht darin, diese Daten nicht nur zu erfassen, sondern insbesondere effektiv zu nutzen.

Noch arbeiten die wenigsten DiGAs mit Daten und Messwerten der  Nutzer:innen. Doch immer mehr Anbieter berücksichtigen solche  Funktionen bei der Produktentwicklung, um Patient:innen individuelle  Anwendungen anbieten zu können. Im ersten Schritt passiert dies über lineare Entscheidungsbäume (z.B. erhalten Nutzer im Alter von 30-45 ein anderes Programm als Nutzerinnen zwischen 50 und 55 Jahren), im zweiten Schritt dann über künstliche Intelligenz unter Verwendung einer Vielzahl von abgefragten und erfassten bzw. erlernten Datent, um Mehrwertleistungen zu steigern. Das Potenzial ist enorm, auch um sich vom Wettbewerb nachhaltig abzugrenzen.

Jedes Smartphone erfasst Gesundheitsdaten

Wie  gelangen künftig DiGA-Hersteller an relevante Vitaldaten und was   sind  Datenquellen oder Sensoren, die mit der eigentlichen Software   verbunden  werden müssen? Der Markt bietet bereits eine Vielzahl von Instrumenten, die über Schnittstellen beispielsweise Blutdruckdaten zur Verfügung stellen.

Ebenso gilt dies für diverse Wearables, von Gesundheitstrackern  über Insulinsensoren auf der Haut bis zu Laufuhren. Zunehmend bieten auch Smartphones über ihre Sensorik die Möglichkeit, relevante  Vitaldaten und Biomarker zu erfassen.

Herzratenvariabilität als Marker für Stress und vieles mehr

Ein solcher Marker ist die Herzratenvariabilität (HRV): Wir verstehen immer besser, dass die Messung und Nutzung der HRV enormes Potenzial für digitale Gesundheitsanwendungen bergen. Sie ist ein wissenschaftlich anerkannter Biomarker für körperliche Belastung sowie  körperlichen und mentalen Stress.

Im Leistungssport wie in der Medizin wird die HRV seit Jahren genutzt. Etwa in der Therapie von mentalen Krankheiten bspw. zur Unterstützung von kognitiven Verhaltenstherapien. Darüber hinaus gibt  es viele weitere Anwendungsmöglichkeiten rund um psychische Gesundheit, Schwangerschaft und Ernährung, Fettleibigkeit und viele  chronische Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Auch in Hinblick auf Krankheitstage im betrieblichen Umfeld aufgrund psychischer Erkrankungen sowie den Folgen der COVID19-Pandemie dürften die Themen Stress und mentale Gesundheit bei den meisten DiGAs eine  mehr oder weniger dominante Rolle einnehmen.

Software Development Kits machen Entwicklern das Leben einfacher

Mit etwas zeitlichem Verzug nimmt im Gesundheitswesen auch die Zahl von Anbietern sogenannter Software Development Kits (SDKs) zu. SDKs sind Tools, Algorithmen und Teilanwendungen, die in andere  Anwendungen (Apps) komplett integriert werden können. App-Herstellern hilft das, denn damit können sie sich ganz auf ihre Kernkompetenzen fokussieren und technische Module, anstatt sie aufwändig selbst zu entwickeln, einfach zukaufen.

Im Bereich der digitalen Gesundheit existieren bereits viele solcher  Module, etwa zur Erfassung und Auswertung von Herz-Kreislauf-Daten, in der Hörakustik und zur Bewegungsanalyse. Unser Berliner   Health-Tech Start-upt Kenkou bietet beispielsweise ein  solches  Modul zur Analyse von kardiovaskulären Daten über den Finger auf der   Smartphone-Kamera.

Diesen neuen Möglichkeiten zur Produkterweiterung machen zusätzliche Wearables in vielen Fällen überflüssig. Damit werden digitale Gesundheitsanwendungen auch für Menschen nutzbar, die sich keine teuren Wearables leisten können. Für mich ein weiterer wichtiger Schritt, damit digitale Gesundheit für möglichst viele in unserer Gesellschaft zugänglich wird!

Zur Person

Matthias Puls ist Geschäftsführer des Health-Tech Start-ups Kenkou, das neben einer von Krankenkassen genutzten App zum Stressmanagement Anbietern von digitalen Gesundheitsanwendungen ein komplett integrierbares Softwarepaket zur Erfassung von kardiovaskulären Vitaldaten über die Smartphone-Kamera zur Verfügung stellt, worüber Gesundheits-Apps Evidenz auf Basis von relevanten Vitaldaten generieren können sollen. Matthias Puls ist darüber hinaus der Herausgeber des Buchs "Digitale Geschäftsmodelle im Gesundheitswesen", welches im April 2020 erschienen ist.