Phobie, generalisierte Angststörung, Panikattacken: Leben mit der Angst
Das Herz rast, die Atmung stockt, der Puls schnellt in die Höhe: Panikattacken haben Jens K. sein Leben lang begleitet. Doch an diesem Sommertag bleibt der 58-Jährige ruhig. Die Füße stützt er am Stuhl ab, den Blick richtet er nach vorn. Leise atmet er ein und aus. Sie hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Finger reiben aneinander, schnelles Auf- und Abwippen. Den meisten fällt es leicht, ein Eis zu bestellen. Für Mandy F. bedeutet es Überwindung. Trotzdem hat die 26-Jährige sich für eine Fernsehsendung dabei begleiten lassen.
Angsterkrankung: Das sind die Folgen
Der ehemalige Lehrer Jens K. und die Auszubildende Mandy F. haben eine Angsterkrankung. Normalerweise treten Herzrasen, Atemnot oder Schwindel nur in bedrohlichen Situationen auf. Doch Menschen mit einer Angsterkrankung haben etwa beim Busfahren, Einkaufen oder abends im Bett mit einer plötzlichen oder stetigen Furcht zu kämpfen. Die Folge: Sie versuchen oft, die Auslöser ihrer Ängste zu meiden. Sie ziehen sich zurück, gehen nicht mehr einkaufen, treffen keine Freunde mehr, leiden unter Schlafproblemen.
Ängste haben viele Ursachen. Dabei spielen die Gene eine Rolle, aber auch bestimmte Erfahrungen, die man im Lauf des Lebens macht. „Zum Beispiel können Traumata oder frühe Verlusterfahrungen die Entstehung einer Angsterkrankung begünstigen“, erklärt Professorin Angelika Erhardt, Leiterin der Ambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München.
Phobie, generalisierte Angsterkrankung, Panikattacke
Die größte Gruppe der Angsterkrankungen sind die Phobien – Ängste vor etwas ganz Bestimmtem wie Spinnen, öffentlichen Orten oder dem Zahnarztbesuch. Bei einer sozialen Phobie, wie auch Mandy F. sie hat, fürchten die Menschen gesellschaftliche Situationen, etwa Prüfungen. Sie haben Angst, sich zu blamieren oder negativ bewertet zu werden. Anders ist es bei einer generalisierten Angsterkrankung: Hier lässt sich das Angstgefühl nicht mit einem konkreten Auslöser in Verbindung bringen. Die Gedanken springen von einer Sorge zur nächsten, die Angst wird zur ständigen Begleiterin im Alltag. Schließlich gibt es noch die Panikstörung, bei der die Betroffenen immer wieder plötzliche, heftige Panikattacken mit Herzrasen, Zittern oder Atemnot erleiden.
Besonders Menschen mit einer Agoraphobie, einer Angst vor öffentlichen Orten und Menschenansammlungen, können Panikattacken bekommen, wenn sie sich in diese Situationen begeben. Doch diese können auch bei jeder anderen Angsterkrankung auftreten. Mandy F. erlebte das zum ersten Mal vor etwa vier Jahren im Kino. „Ich hatte das Gefühl, ich kann nicht weg“, erzählt sie. Aufstehen und den Raum verlassen: mit ihrer sozialen Phobie undenkbar. Auf keinen Fall wollte sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen. F. versuchte deshalb, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, im Moment zu sein, auszuharren.
Was akut hilft: Innere Haltung, Ablenkung, Atmung
Einatmen. Ausatmen. In Augenblicken akuter Panik kann das helfen. Zwei Dinge sind laut Professorin Katharina Domschke in dieser Situation entscheidend. Zum einen die innere Haltung: Auch wenn die körperlichen Symptome beängstigend seien – es helfe, zu verstehen, dass sie einen nicht umbringen, sagt die Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg. Zum anderen könne es helfen, sich eine Beschäftigung zu suchen: zum Beispiel die Sinne anzusprechen, um nicht ständig in sich hineinzuhorchen. Man könne etwa aufzählen: Was sehe, was rieche, was höre ich?
Solche Strategien müssen Betroffene oft erst lernen. Häufig halten sie die Panikattacke – das Herzrasen, das Zittern, die Atemnot – für einen Herzanfall, landen damit sogar in der Notaufnahme, wo niemand eine Ursache für die Beschwerden finden kann. Überhaupt sind körperliche Beschwerden ein Grund, weshalb Angsterkrankungen oft lange unerkannt bleiben: Schlafstörungen, Rückenschmerzen oder Magen-Darm-Beschwerden verdecken die psychische Krankheit.
Angsterkrankung kann mit Depression einhergehen
Auch andere psychische Erkrankungen können die Diagnose erschweren. Etwa die Hälfte aller Menschen mit einer Angsterkrankung hat laut Katharina Domschke gleichzeitig eine Depression. Auch bei Mandy F. stand zunächst nicht ihre Angst im Vordergrund: Als Jugendliche entwickelte sie eine Essstörung. Das Kalorienzählen gab ihr das Gefühl, ihr Leben kontrollieren zu können. Im Gegensatz zu den Ängsten – „die über mich hereinbrachen, denen ich ausgeliefert war“. Die Diagnose soziale Phobie erhielt F. Jahre später als junge Erwachsene. Sie fühlte sich erleichtert. Doch erst mit neuer Therapeutin und anderer Behandlung konnte sie wirklich daran arbeiten.
Bei Jens K. geht die Angsterkrankung mit einer posttraumatischen Belastungsstörung einher, einer psychischen Krankheit, die auf traumatischen Erlebnissen beruht: In seiner Kindheit hat seine Mutter ihn körperlich misshandelt. Als er den Kontakt zu ihr abbrach, war er erleichtert. Als sie 2006 verstarb, dachte er zunächst, sein Problem wäre gelöst: „Die Mauern, die ich aufgebaut hatte, sind mit einem Mal runtergesackt.“ Er merkte jedoch: Geheilt war er nicht. Doch die Therapie, die er schon lange zuvor angefangen hatte, konnte er nun wirklich beginnen.
Therapien und Medikamente bei Angst und Panik
Besonders wichtig ist dabei eine gute Beziehung zu Therapeutin oder Therapeut. Als Behandlungsform hat sich die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie am besten bewährt: Die Menschen ergründen, woher ihre Ängste kommen, und lernen, sich ihnen zu stellen, um im Alltag besser mit ihnen umzugehen. Das kann unterschiedlich ablaufen: Bei einer Phobie erstellen sie oft eine Angst-Hierarchie, listen also Situationen auf, die für sie einigermaßen erträglich bis hin zu kaum vorstellbar sind. Schließlich setzen sie sich den gefürchteten Situationen langsam aus. „Also sagen sie zum Beispiel vor dem Therapeuten ein Gedicht auf, als Nächstes vor fünf und schließlich vor zehn Leuten“, erklärt Katharina Domschke.
Bei mittelschweren oder starken Angsterkrankungen werden auch Medikamente eingesetzt, die angstlösend wirken oder die Stimmung regulieren. Welcher Wirkstoff genau verschrieben wird, entscheiden Psychiaterin oder Psychiater im Einzelfall. Wer an Panikattacken leidet, bekommt zudem oft ein beruhigendes Medikament, das er bei Bedarf einnehmen kann. Allein das Wissen, sich damit notfalls helfen zu können, ist oft schon eine Stütze. Laut Katharina Domschke sollten Medikamente idealerweise mit einer Psychotherapie kombiniert werden. Spezifische Phobien wie die Angst vor Spinnen behandelt man für gewöhnlich allein mit einer Verhaltenstherapie.
Bewusste Konfrontation und Aufarbeitung der Angst
Die half auch Mandy F. Von ihrer Therapeutin bekam sie eine dreiseitige Liste mit Dingen, die sie tun kann, wenn ihre Anspannung zu groß wird. „Zunächst dachte ich: ‚Na toll, so viele Sachen gibt es – was soll ich denn als Erstes machen?‘“, erinnert sie sich. Doch es half ihr, einfach nach draußen zu gehen, sich zu bewegen oder ein großes Glas Wasser zu trinken.
Mittlerweile stellt sie sich bewusst ihren sozialen Ängsten: In ihrem neuen Job in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit musste sie anfangs täglich mit anderen Menschen telefonieren. Also hat sie sich Strategien dafür zurechtgelegt: hat aufgeschrieben, wie sie sich vorstellen will, ihre Fragen notiert, die Tür zum Büro zugemacht, damit sie sich unbeobachtet fühlt. „Es dauert, bis ich mich da überwinden kann“, sagt sie, „aber ich hoffe, dass es mit der Zeit einfacher wird.“
Den eigenen Umgang mit der Angst ändern
Jens K. half es, die Situation mit seiner Mutter aufzuarbeiten. Zusätzliche Unterstützung geben ihm sein Hund, den er während des Interviews streichelt, und das Tanzen – seine Gefühle durch Bewegung rauszulassen. Während eines Klinikaufenthalts habe er sich heimlich mit anderen im Keller getroffen, kleine Bluetooth-Boxen mit den Handys gekoppelt und mit zwanzig Leuten auf vierzig Quadratmetern getanzt. „Für mich ist es wichtig, um gesund zu werden“, erklärt er. „Man kann nicht alles durch Gespräche lösen.“
Therapie und Meditation halfen ihm beim Umgang mit einer weiteren Diagnose: Vor zwei Jahren wurde bei Jens K. ein Hirntumor festgestellt. Damals gaben die Ärzte ihm noch ein halbes Jahr. Dank einer neuen Behandlungsmethode ist er noch am Leben. Wie viel Zeit ihm bleibt: ungewiss. „Viele würden wegbrechen oder Angst bekommen“, erzählt K. . „Auch ich habe wahnsinnige Angst. Aber ich habe gelernt, was ich gegen sie tun kann: atmen. Bei mir sein.“ Er habe meditiert, jeden Morgen eine halbe Stunde in seinem Krankenzimmer. Mittlerweile haben die Panikattacken wieder nachgelassen.
Quellen:
- Bandelow B, Aden I, Alpers GW et al.: Deutsche S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen, Version 2. Leitlinie: 2021. AWMF (online): https://www.awmf.org/... (Abgerufen am 08.06.2022)
- Petzold MB, Bendau A, Plag J et al.: Risk, resilience, psychological distress, and anxiety at the beginning of the COVID-19 pandemic in Germany. In: Brain and Behavior 07.07.2020, 10-9: 1-10
- Robert Koch-Institut: PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN DEUTSCHLAND., Erkennen - Bewerten - Handeln. Schwerpunktbericht Teil 1 - Erwachsene. Online: https://doi.org/... (Abgerufen am 08.06.2022)