Neun Strategien gegen Angst
Schon die Corona-Pandemie war eine schwierige Situation, die bei vielen Sorge, ja sogar Angst hervorrief. Mit dem Krieg in der Ukraine dürfte sich das Ganze nun weiter zuspitzen. Wo können Menschen, die vor Sorge nicht weiterwissen, sich kurzfristig hinwenden? Was kann der Einzelne möglicherweise für sich ganz alleine tun?
Die Deutsche Angst-Hilfe e.V. unterstützt Angst-Selbsthilfegruppen im deutschsprachigen Raum und bietet darüber hinaus eine Online-Beratung für Menschen mit Ängsten an. Hier sind ehemals Betroffene, die laufend geschult und qualifiziert werden, ehrenamtlich aktiv.
Für Christian Zottl, Sozialpädagoge und geschäftsführender Vorstand der Deutschen Angst-Hilfe e.V ist der erste Schritt im Umgang mit dem belastenden Gefühl, die Angst anzunehmen und nicht wegzuschieben. Folgende Tipps sind für den Angst-Experten und die Psychotherapeutin Dr. Marion Koll-Krüsmann im Umgang mit den aktuellen Geschehnissen eine mögliche Hilfe:
1. Medienkonsum hinterfragen
Ich möchte möglichst gut und aktuell informiert sein, das gibt mir Sicherheit – Christian Zottl beobachtet das bei vielen als ersten Impuls im Umgang mit Krisen. Tatsächlich ist das Phänomen aus der Psychologie bekannt: Die Aufmerksamkeit richtet sich automatisch auf die Bedrohung. Die Logik: Je mehr ich darüber weiß, desto besser kann ich sie einschätzen. In der archaischen Logik unserer frühen Vorfahren fragen wir uns sinngemäß: Hat der Höhlenbär mich schon entdeckt? Sieht er hungrig aus? Kann ich mich vor ihm verstecken? Oder auch: Sind wir genügend Leute, um den Bären zu überwältigen?. „In akuten Bedrohungssituationen ist es sinnvoll, dass die Angst uns wach und reaktionsbereit macht“, sagt Zottl. „Ebenso sinnvoll ist es allerdings, dass wir nicht weiter in Alarmbereitschaft bleiben, wenn die Bedrohung wieder abklingt oder wir sie nicht beeinflussen können.“ Und genau da hakt es: Durch intensiven Medienkonsum bleibt dieses Abklingen vielfach aus. „Der Höhlenbär kann damit eine monströse Wirkung bekommen“, sagt Zottl. „Information ist wichtig, aber wir brauchen einen achtsamen und disziplinierten Umgang“, empfiehlt der Vorstand der Deutschen Angst-Hilfe. Sich selbst hat er einen klaren Rahmen gesteckt: „Ich nehme mir zweimal täglich maximal etwa eine viertel Stunde Zeit, dann bringe ich mich auf den neuesten Stand.“ Dabei bemühe er sich um möglichst seriöse und sachliche Quellen für die Berichterstattung.
2. Balance halten
Wie viel Information tut gut und ab wann wird es belastend? Das ist individuell verschieden. „Für sehr sensitive Menschen kann es im Moment tatsächlich das Beste sein, ganz auf Nachrichten zu verzichten“, sagt Dr. Marion Koll-Krüsmann, fachliche Leiterin bei PSU akut, einen gemeinnützigen Verein, der Menschen im Gesundheitswesen im Umgang mit psychischen Belastungen unterstützt. Vorübergehend „offline sein“ heiße ja nicht, dauerhaft uninformiert zu bleiben. „Aber vielleicht können bestimmte Informationen zu einem späteren Zeitpunkt angstfreier aufgenommen werden.“ Generell rät die Fachfrau, im Umgang mit Informationen ein gutes Maß zu finden. In Kursen arbeitet sie manchmal mit dem Bild eines Ruderboots. Auf dem einen Ruder steht „Abstand“, auf dem anderen „Auseinandersetzung“. Beide Ruder tauchen gleichmäßig ins Wasser, immer abwechselnd. Nur so kann das Boot stabil über die Wasseroberfläche gleiten. Wie steht es um meine persönliche Stabilität? Fühle ich mich im Gleichgewicht? Für die Verarbeitung mit belastenden Ereignissen kann diese Frage sehr hilfreich sein.
3. Angstmuster reflektieren
Wie Putin droht und wie westliche Politiker darauf reagieren – darauf haben wir sehr wenig Einfluss. Christian Zottl weiß: „Das Gefühl, den Geschehnissen ausgeliefert zu sein, macht vielen Menschen zu schaffen.“ Es gibt keine Maßnahmen, die das eigene Risiko mindern können – so wie im Zusammenhang mit Corona zum Beispiel das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung. Interessant ist allerdings, dass Menschen trotz der für alle selben Bedrohungslage unterschiedlich reagieren. Der eine ist Tag und Nacht in sorgenvollen Gedanken, schläft schlecht. Ein anderer lebt seinen Alltag weiter, als wäre nichts geschehen. Ein Dritter braucht jetzt jeden Abend eine weitere Rippe Schokolade, um sich entspannen zu können. Ein vierter hat vielleicht das Bedürfnis, ganz viel mit anderen zu reden. Oder auch: Sich humanitär zu engagieren. „Es kann hilfreich sein, einmal von außen auf die Angst zu schauen“, sagt Zottl. Welches Muster erkenne ich im Umgang mit dem Gefühl? Wofür ist dieses Muster möglicherweise gut? „In der Regel gibt es da eine Funktion, die wir in der Vergangenheit als sinnvoll erlebt haben.“ Etwa: Wenn ich dem Gefühl aus dem Weg gehe, bin ich besser vor ihm geschützt. Woher könnte es kommen, dass ich so viel mehr alarmiert bin als beispielsweise die Freundin? Wer hier ehrlich und selbstkritisch fragt, wird sich vielleicht an zurückliegende Erlebnisse oder ängstliche Familienangehörige erinnern und sehen, dass das momentane Befinden nicht nur mit den aktuellen Umständen zu tun hat.
Wenn ich ein Muster erkenne, heißt das zwar nicht, dass ich es abschalten kann. Aber ich kann es dann besser zuordnen. Ich kann vielleicht verstehen: das ist nicht nur der Krieg in der Ukraine, der mir im Moment zu schaffen macht. Es ist auch das kleine Kind in mir, das sich fürchtet. Oder: Der Jugendliche, der vor schwierigen Situationen gern weggelaufen ist. Oder: die Erwachsene, die die Angst vor der Angst schon länger zu betäuben versucht.
Und dann? „Können wir ein Stück weit in die Akzeptanz gehen“ sagt Zottl. Für viele Hilfesuchende sei das ein entscheidender Moment: Es gibt zwar kein angstfreies Leben. Aber wenn ich die Angst annehme und ihre Dynamik verstehe, geht es mir besser.
4. Empathisch sein und aktiv werden
Wie geht es weiter? Wie wird sich der Ukraine-Konflikt weltpolitisch auswirken? Für Christian Zottl ist die Angst, die bei solchen Fragen mitschwingt, nicht nur normal, sondern in gewisser Weise sogar gesund. „Und zwar dann, wenn sie nicht aufs eigene Ego beschränkt bleiben.“ Wenn wir beginnen, Empathie zu spüren. Da ist einerseits die erlebte Machtlosigkeit im Hinblick aufs globale Geschehen. Und da ist andererseits vielleicht auch diese Ahnung: Wenn ich die Angst als Aufforderung nehme und in die Kraft komme, war sie nicht umsonst. Ich kann etwas tun – für Teilnehmer von Angst-Selbsthilfegruppen ist es oft extrem befreiend, das zu erleben. Von einem „wichtigen Wirkfaktor“ spricht Christian Zottl: Man kommt als Bedürftiger in die Gruppe und spürt: Es geht nicht nur um mich. Nicht selten fänden sich Ratsuchende rasch in der Rolle des Hilfegebers wieder. Der Switch von der Passivität - „ich muss was erleiden“ - in die aktive, gestaltende Rolle lässt die eigenen Sorgen erfahrungsgemäß oft bereits weniger werden.
Der spontane Impuls, etwas Gutes tun zu wollen kann also in vielerlei Hinsicht Sinn machen. Sei es, ob man darüber nachdenkt, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, Geld zu spenden oder sich anderweitig sozial zu engagieren.
5. Sich ablenken
Das klingt einfach und es ist es auch: „Nehmen Sie einen festen Gegenstand in die Hand und drücken Sie zu“, sagt Marion Koll-Krüsmann. Oder aber: „Riechen Sie an etwas. Je intensiver der Duft, desto besser.“ Wer es ausprobiert wird feststellen: Für den Moment des Drückens oder Riechens verschwindet die Angst. Wieso ist das so? „Wir können nicht gleichzeitig fühlen und wahrnehmen“, erklärt Koll-Krüsmann. „Mit gutem Grund hatten Menschen früher gerne Riechfläschchen für den Fall einer drohenden Ohnmacht dabei“, weiß Marion Koll-Krüsmann. Auch sie selbst setzt die Methode gelegentlich bei ihrer Arbeit in Katastrophengebieten ein. Und der Trick mit der „Überlistung“ unseres Gehirns lässt sich ausdehnen. „An einer Chilli kauen. Oder scharfe Gummibärchen – ja die gibt es – lutschen“… regt die Trauma-Expertin als weitere Soforthilfemaßnahmen an. Generell hilfreich bei Angstattacken: Ablenkung. Eine liegende Acht malen zum Beispiel, das Zeichen für Unendlichkeit, wieder und wieder. Sudoku machen. Oder, noch besser: Ganz ruhig und tief atmen. Dabei vor allem auf die Betonung des Ausatmens achten. Angst ist eine körperliche Reaktion. Sobald der Körper, salopp gesagt, mit etwas anderem beschäftigt ist, tritt die Angst in den Hintergrund.
6. Nicht alleine bleiben
Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt ein Sprichwort. Zu Recht, findet Christian Zottl, genau das sei ein zentraler Aspekt von Selbsthilfe. Menschen sind soziale Wesen, wollen teilen und tun sich vor allem in belastenden Situationen besonders schwer, wenn sie alleine sind. Wohl jeder kennt das, dass bedrohliche Szenarien ein Stück weit ihren Schrecken verlieren, wenn man anderen davon berichtet hat. „Die eigene Fantasie zeichnet Situationen oft schlimmer als sie wirklich sind“, weiß Zottl. Im Austausch mit anderen haben wir die Möglichkeit zu reflektieren und damit oft auch: Zu relativieren.
Vom „Einordnen“ durch Gespräche spricht die Trauma-Expertin Dr. Koll-Krüsmann und von belastenden Erfahrungen, die durch Auseinandersetzung wie in einen Apothekerschrank einsortiert werden könnten. „Schon allein dadurch verliert vieles an Schrecken.“ In aller Regel aber: „Vorsicht mit Krafträubern“, sagt Christian Zottl. Wenn das Gegenüber nichts als das eigene heillose Entsetzen zum Ausdruck bringt, ist es besser, auf Abstand zu gehen.“
7. Routinen beibehalten
Die Mitarbeiter der Deutschen Angst-Hilfe wissen: In Krisen haben wir die Tendenz, unser Verhalten zu verändern. Wir verzichten auf Dinge, die uns bisher gutgetan haben. Wir bleiben abends zum Beispiel länger auf, um die Nachrichten zu schauen, gehen nicht mehr zum Sport und so weiter. Bei der Angst-Hilfe rät man aber unbedingt zum Beibehalten solcher Routinen. Es wäre falsch, sich aus Solidarität mit den Menschen in der Ukraine Dinge zu verbieten, die uns guttun. Den Menschen im Kriegsgebiet ist damit nicht geholfen. Im Gegenteil: „Wenn in dieser Krise etwas hilft, dann eine starke Gemeinschaft.“
Lieber noch mal eine Schippe drauflegen, so sieht es Zottl. Nach dem Schwimmbad also vielleicht noch in die Sauna gehen. Ein extra schönes Abendessen kochen. Der Sozialpädagoge verdeutlicht die Bedeutung des Beibehaltens von Routinen mit dem Bild eines Bergsteigers: Wenn er auf einem ausgesetzten Weg läuft und die ganze Zeit in die Tiefe starrt, wird das Begehen des Weges zur Gefahr. Wenn er seine Routine beibehält, ruhig weitergeht, tief atmet, sich gut konzentriert, ist er vergleichsweise sicher unterwegs.
8. Das Grübeln stoppen
Das Tükische am Grübeln ist, dass uns die kreisenden Gedanken passiv machen. Wir sind wie gelähmt und ganz alleine mit den wiederkehrenden Schleifen im Kopf. Das macht die Angst immer größer und diffuser. Warum grüble ich? Was genau sind meine Sorgen? Solche Fragen können dann helfen. Und zwar vor allem dann, wenn sie sich aufs Hier und Jetzt beziehen. Also: Wovon bin ich jetzt konkret bedroht? Was wäre in diesem Moment konkret wichtig zu tun? „Viele von uns haben Bilder im Kopf“, sagt Christian Zottl. Panzer, Explosionen, sterbende Menschen. Betreffen uns diese Szenarien unmittelbar? Zottl pragmatisch: „Ich muss sagen: im Moment nicht. Hier schlagen keine Bomben ein.“ Keine konkrete Bedrohungssituation also. Rationalisieren kann dabei helfen, das eigene Angst-System zu beruhigen. Marion Kroll-Krüsmann: Manchmal hilft es auch, sich vorzustellen, diese Bilder oder Filme ganz bewusst in einen Schrank oder sogar Tresor zu sperren und sich zu sagen: Ich entscheide, wann ich sie wieder hervorhole. Rationalisieren kann allerdings auch dazu führen, dass eine gewisse Bedrohung bestehen bleibt. Was kann ich tun, um Bomben in Zukunft fern zu halten? „Nichts“, sagt Zottl, der allerdings davon ausgeht, dass bereits das Wort „Zukunft“ zu einem insgesamt eher moderaten Einordnen führt.
Und wenn nicht? Verschiedene Techniken können gegen das Grübeln helfen. Ein Grübelstuhl oder Grübelsessel etwa: Ein erklärter Ort, an dem die Endlosschleifen im Kopf sein dürfen. Aber eben nur da. Und auch nur für eine definierte Zeit. Jetzt habe ich mal zehn Minuten so richtig Angst und danach ist Schluss – klingt komisch, kann aber hilfreich sein.
9. Das Gute sehen
Wahrnehmung ist immer auch eine Frage des Brillengestells auf unserer Nase. Noch nie gab es so viel Leid und so viel Bedrohung direkt vor unserer Haustür – man kann das so sehen. Man kann das Ganze aber auch drehen und sich bewusst machen, was für ein Geschenk es ist, in Frieden leben zu dürfen. Sowohl in der Angst-Selbsthilfe als auch in Therapien wird ängstlichen und depressiven Menschen manchmal zum Führen eines Dankbarkeitstagebuchs geraten. Die Aufgabe kann zum Beispiel lauten, darin jeden Abend drei schöne Erlebnisse des Tages festzuhalten. Hintergrund: In der Krise sind Menschen oft wie blind für all das Erfreuliche, das um sie weiterhin stattfindet. Und wenn es nur die ersten Krokusse sind, die im Park zu blühen beginnen. Das ist allzu banal, sagen die Betroffenen gern. Tatsächlich weiß man aber: Wenn die Wahrnehmung sich wieder für Positives öffnet, kommt ein Prozess in Gang. Vereinfacht: Wo Schönes sein darf entsteht Raum für noch mehr Schönes und das lässt die Stimmung bei aller Belastung, die vielleicht weiterhin da ist, steigen.