Immer mehr Fälle häuslicher Gewalt: Wo Betroffene und Zeugen Hilfe finden
Laute Schreie. Es poltert, dann ein Schlag. Wimmern setzt ein. Nur ein heftiger Streit? Oder kam es nebenan gerade zu Gewalt? Sollte ich rübergehen? Die Polizei rufen? Geht mich das überhaupt etwas an?
Wie häufig ist häusliche Gewalt?
So gut wie jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten. An jedem dritten Tag gelingt dies auch. Was vorausgeht, bevor es so weit kommt, taucht seltener in der Kriminalstatistik auf. Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal in ihrem Leben durch ihren aktuellen oder früheren Partner genötigt, bedroht, vergewaltigt oder gestalkt. Und das über alle Gesellschaftsschichten hinweg.
„Wo die Nerven blank liegen, steigt die Gefahr der Eskalation“, sagt Ursula Schele vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe. Dabei gilt: „Leichtere Schläge, das Werfen mit Gegenständen oder Schubsen gehen von beiden Geschlechtern aus“, sagt Professor Jens Luedtke, der an der Universität Augsburg zu Gewalt in Partnerschaft und Erziehung forscht: „Bei körperlicher Gewalt sind die Täter zu etwa 85 Prozent Männer. Je schwerer die Verletzung des Opfers, desto eher ist der Täter ein Mann.“
Immer mehr Betroffene von häuslicher Gewalt
Das Thema ist drängender denn je, denn die Zahlen Betroffener steigen. Im Jahr 2023 wurden 256 276 Menschen in Deutschland Opfer häuslicher Gewalt. Ein Anstieg um 6,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dies berichteten Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundesfrauenministerin Lisa Paus (Grüne) am Freitag (7. Juni 2024) vor der Bundespressekonferenz, wo sie das zweite Bundeslagebild zum Thema vorstellten. 70 Prozent der Opfer seien weiblich.
Tatsächlich spiegele die Bundeskriminalstatistik sogar nur bedingt den tatsächlichen Umfang der Fälle wider, sagte Vizepräsidentin des Bundeskriminalamts Martina Link vor der Bundespressekonferenz. Man müsse mit einer hohen Dunkelziffer rechnen. Auch Petra Söchting, Leiterin Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ kann den Anstieg bestätigen. „Mit rund 59 000 Fällen ist das Beratungsaufkommen um rund 12 Prozent gestiegen und so hoch wie nie“, sagte sie am Freitag.
Hinter dem erneuten Anstieg der Betroffenenzahlen vermutet Link vor allem zwei Gründe: Zum einen wirkten sich auch aktuelle Krisen auf die Gewaltbereitschaft der Täter aus. Zum anderen sei die Bereitschaft Betroffener gestiegen, Taten zu melden.
Maßnahmen der Politik gegen häusliche Gewalt
Paus und Faeser stellten zusätzlich zum Lagebild auch Maßnahmen vor, mit denen sie häuslicher Gewalt vorbeugen und Täter vermehrt zur Rechschaft ziehen wollen. Gemeinsam mit Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) arbeiteten die Ministerinnen an einem Gesetz zur Sicherung des Zugangs zu Schutz und Beratung bei geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt. Mit Inkrafttreten dieses „Gewalthilfegesetzes“ soll jede Frau ein Recht auf Schutz und Beratung bekommen. Wie dieses Recht durchgesetzt werden könne, dazu würde derzeit noch beraten, so Paus.
Innenministerin Faeser betonte: „Die Schuld liegt nie beim Opfer, sondern immer beim Täter.“ Und diese Täter will sie verschärft ins Visier nehmen. „Dafür brauchen wir neben konsequenter Strafverfolgung verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für die Täter“, sagte sie am Freitag. Auch Kontaktverbote nach dem Gewaltschutzgesetz müssten strikter durchgesetzt werden. „Und auch über einen weiteren Schritt beraten wir“, so Faeser. „Wenn die Täter mit einer elektronischen Fußfessel überwacht werden, kann die Polizei im Ernstfall schneller einschreiten und erneute Gewalt gegen Frauen besser verhindern.“
An den Standorten der Bundespolizei, also vor allem an Bahnhöfen, wolle Faeser außerdem 24/7-Schalter für Betroffene von häuslicher Gewalt einrichten. Extra dafür geschulte Beamtinnen könnten dort Anzeigen aufnehmen und helfen. Solche Angebote seien extrem relevant, erklärte Söchting vom Hilfetelefon. Auswertungen des Hilfetelefons hatte gezeigt, dass dieses vermehrt nachts oder an Feiertagen in Anspruch genommen wurde – zu Zeiten, an denen andere Anlaufstellen geschlossen sind.
Faeser verwies mit Blick auf Betroffene außerdem auf die „Tarn-App“ der Initiative „gewaltfrei in die Zukunft“, die vom Justizministerium gefördert wird. Über die App könnten Betroffene Hilfe suchen, ohne dass etwa dem Partner beim Blick auf das Handy auffallen würde, dass es sich um einen Hilferuf handelt.
Was kann man als Zeugin oder Zeuge von häuslicher Gewalt tun?
Oft sind die Zeugen häuslicher Gewalt verunsichert: Was tun, wenn eine Situation nebenan zu eskalieren scheint? „Keine Reaktion mag wie Gleichgültigkeit aussehen, ist aber oft nur Hilflosigkeit“, sagt Zara Jakob Pfeiffer von der Gleichstellungsstelle für Frauen der Stadt München. Viele hätten Angst, sich selbst in Gefahr zu bringen – oder alles noch schlimmer zu machen.
Manche wollten auch nicht die Nachbarn beschuldigen. Doch wer Gewalt vermutet, sollte tätig werden. Da Gewaltopfer ohnehin unter Fremdbestimmung und Grenzüberschreitungen leiden, sollte man dabei laut Pfeiffer nicht übergriffig werden: „Sprechen Sie die Person darauf an, ob und welche Hilfe sie braucht. Seien Sie nicht beleidigt, wenn sie zunächst ablehnt.“ Etwa aus Scham, dem Gefühl der Mitschuld oder Angst vor einer Trennung. Später könne das Angebot eine wichtige Hilfe bedeuten.
„Zuhören und freundliche Worte helfen Betroffenen oft mehr, als den mutmaßlichen Täter selbst zur Rede zu stellen“, sagt Pfeiffer. Für Betroffene wiederum sei es wichtig, Verletzungen vom Arzt bescheinigen zu lassen und dies für eine eventuelle spätere Anzeige gut aufzubewahren.
Wann sollte ich die Polizei rufen?
Wird man Zeuge eindeutiger Gewalt, ist der Fall klar: umgehend die Polizei, bei Bedarf auch den Rettungsdienst rufen. „Denn Hilfe zu holen“, sagt Expertin Schele, „ist nicht Petzen.“