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Nach 61 Jahren Ehe bewohnen Herr R. und seine Frau seit Juli verschiedene Stockwerke ihres gepflegten Einfamilienhauses nahe Edenkoben in der Pfalz. Maria R. will sich von ihrem Mann scheiden lassen. Vorher muss sie das gesetzlich vorgeschriebene Trennungsjahr abwarten. „Ich koche nur noch für mich und wasche seine ­Wäsche nicht mehr, meine Haushaltshilfe tut in seinem Zimmer nichts“, sagt die 81-Jährige. Sorgfältig frisiert, in schicker schwarzer Hose sitzt sie an ihrem Esstisch vor Stapeln von Unterlagen: „Eine Scheidung ist ein Riesenpapierkram!“

Warum gibt es immer mehr Scheidungen im hohen Alter?

Als Herr und Frau R. sich 1961 in einer Milchbar kennenlernten, war Konrad Adenauer noch Bundeskanzler, der Durchschnittslohn betrug 560 DM und neun von zehn Ehen hielten bis zum Tod. Scheidungen nach der Silberhochzeit gab es praktisch nicht. Das hat sich geändert: Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland rund 24.300 Ehen geschieden, die schon mindestens 24 Jahre bestanden hatten. 1997 waren es 19.100, rund ein Fünftel weniger. Entgegen diesem Trend geht die Gesamtzahl der Scheidungen seit Jahren zurück. Der Anteil der späten Scheidungen ist deshalb noch stärker gestiegen als die absoluten Zahlen: 1997 lag er bei rund zehn, 2022 bei fast 18 Prozent aller Scheidungen.

Ein Grund dafür ist die höhere Lebenserwartung. „Heute kann eine Ehe 50 oder 60 Jahre dauern. Das ist eine Herausforderung, mit der frühere Generationen nicht konfrontiert waren“, sagt die Entwicklungspsychologin und emeritierte Professorin Dr. Pasqualina Perrig-Chiello von der Universität Bern. Sie hat das Phänomen der späten Scheidungen in ihrem Buch „Wenn die Liebe nicht mehr jung ist“ beschrieben.

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Auch der umfassende Wertewandel seit den Sechzigerjahren sei ein wichtiger Faktor: Soziale oder religiöse Sanktionen, unter denen Geschiedene früher zu leiden hatten, muss heute kaum jemand fürchten. Zugleich sind die Ansprüche an Partnerschaft und Ehe gewachsen. „Es geht nicht mehr vor allem darum, gemeinsam zu wirtschaften und Kinder großzuziehen, sondern viel stärker um persönliche, auch sexuelle Erfüllung“, sagt Perrig-Chiello. Zur neuen gesellschaftlichen Realität gehöre auch die bessere Bildung und weitgehende finanzielle Unabhängigkeit der Frauen. Statt in einer unbefriedigenden Ehe auszuharren, seien sie heute eher bereit, einen Schlussstrich zu ziehen.

Welchen Einfluss hat der Wertewandel?

Nach einer Langzeitstudie, für die die Professorin und ihr Forschungsteam rund 1000 langjährig Verheiratete und 1000 spät Geschiedene befragten, geht die Trennung in fast 60 Prozent der Fälle von den Frauen aus. Das Klischee, wonach Ehen zwischen Männern und Frauen nach der Silberhochzeit meist daran scheitern, dass der Mann sich einer Jüngeren zuwendet, stellte sich als falsch heraus: Der häufigste Trennungsgrund ist Entfremdung.

„Der Eintritt in den Ruhestand oder der Auszug des jüngsten Kindes gibt oft den Anstoß, zu überlegen, ob man noch zusammenpasst. Häufig stellt sich dann heraus, dass sich beide Partner in verschiedene Richtungen entwickelt haben“, so Perrig-Chiello. „Man hätte jetzt Zeit zum Reden, sitzt aber stumm vor dem Fernseher und hat sich nichts mehr zu sagen.“ Der zweithäufigste genannte Trennungsgrund ist „Inkompatibilität“: Die Ansichten und Lebensweisen der Partner sind so verschieden, dass sie es nicht mehr miteinander aushalten. Das kann auch an Krankheit oder Sucht eines Partners liegen. Sexuelle Untreue steht laut der Studie auf dem dritten Platz.

Was will ich aushalten und was nicht?

Maria R. hat in ihrer Ehe viele Kompromisse gemacht. Wegen seines Berufs war ihr Mann jahrelang nur am Wochenende zu Hause. „Er hat immer wieder Freundinnen gehabt, sogar schon, als ich mit unserem ersten Kind schwanger war“, erzählt sie. Oft habe es Streit gegeben. „Aber wir haben uns auch immer wieder arrangiert. Wegen seines schlechten Gewissens hat er mir Blumen mitgebracht und Schmuck geschenkt.“

Nach außen war alles in Ordnung: Herr R. gründete einen erfolgreichen Betrieb, die Kinder wurden groß. Die schlimmste Kränkung sei es gewesen, als sie 60 wurde und ihr Mann mit seiner Affäre in den Urlaub fuhr, sagt Maria R. „Vor dem ganzen Dorf hat er mich blamiert! Meine Verwandten haben zu mir gesagt, ich soll mich scheiden lassen. Aber damals habe ich gemeint, jetzt habe ich schon so lange ausgehalten, die übrigen Jahre halte ich auch noch durch.“ Erst während der Monate, die Maria R. nach einem schweren Sturz im Herbst 2022 im Krankenhaus und in der Reha verbrachte, änderte sie ihre Haltung. „Im Krankenhaus und schon vorher, bei meinem 80. Geburtstag, habe ich eine so große Lieblosigkeit bei ihm gespürt! Da habe ich beschlossen, mich doch noch scheiden zu lassen.“

Wie regeln wir komplexe finanzielle Fragen?

Während Streitigkeiten um das Sorgerecht bei späten Scheidungen meist entfallen, sind die finanziellen Fragen oft komplexer, sagt der Rechtsanwalt Michael Kaiser – schon weil mehr Zeit da war, um gemeinsames Vermögen anzusammeln. Kaiser hat in seiner Kanzlei in Lan­dau rund 200 familienrechtliche Fälle pro Jahr, darunter immer mehr Scheidungen nach langjähriger Ehe. Mehr als 90 Prozent der Ehepaare haben eine Zugewinngemeinschaft. Bei einer Scheidung wird dann vom gemeinsamen Vermögen der Besitz abgezogen, den jeder Partner bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung hatte, und die Differenz durch zwei geteilt.

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„Im Normalfall vermutet das Gericht, dass das Anfangsvermögen beider Ehepartner gleich null ist“, erläutert Kaiser. „Wer etwas hatte, muss es beweisen.“ Jahrzehnte nach der Eheschließung ist das oft schwierig, vor allem bei Geldvermögen, da Banken Kontoauszüge nur zehn Jahre aufbewahren müssen. Die Ermittlung des Zugewinns sei auch deshalb kompliziert, weil Wertveränderungen etwa bei geerbten oder geschenkten Immobilien und Anlagen berücksichtigt werden müssen, so Kaiser. Stichtag für die Ermittlung des Endvermögens ist die Zustellung des Scheidungsantrags nach Ablauf des Trennungsjahres. „Während der Trennungszeit gilt ein Auskunftsrecht, das verhindern soll, dass ein Partner Vermögen verschiebt – was relativ oft versucht wird.“

Was hat die Reform des Unterhaltsrechts geändert?

Maria R. hat für alle Fälle beantragt, dass ihr Ehemann seine Konten offenlegen muss. Außerdem fordert die gelernte medizinische Fachangestellte, die nur eine kleine Rente bezieht, Trennungsunterhalt. Insbesondere im ersten Jahr der Trennung muss in der Regel ein Ehepartner Unterhalt an den anderen zahlen. Ganz anders ist die Rechtslage nach der Scheidung: Seit der Reform des Unterhaltsrechts besteht nur noch in bestimmten Fällen ein Anspruch. Wer keine kleinen Kinder versorgt, gesund und im erwerbsfähigen Alter ist, muss selbst für seinen Lebensunterhalt aufkommen. Das kann gerade für ältere Frauen, die eine klassische Hausfrauenehe geführt haben, einschneidende Folgen haben. „Im Extremfall muss sich eine 60-Jährige, die seit der Ausbildung nicht mehr gearbeitet hat, einen Putzjob suchen“, sagt Michael Kaiser. „Beim derzeitigen Mangel an Arbeitskräften sind die Gerichte skeptisch, wenn ein Partner behauptet, keinen Job zu finden.“

Sämtliche Ansprüche auf Altersversorgung, die während der Ehe erworben wurden, werden bei der Scheidung zusammengerechnet und gleich aufgeteilt. „Alle Schweinchen werden zersägt und jeder bekommt die Hälfte“, beschreibt Michael Kaiser es bildlich. Weil zwei Haushalte viel teurer sind als einer, könne der Versorgungsausgleich dazu führen, dass beide Partner in die Altersarmut rutschen und staatliche Grundsicherung beantragen müssen. „Die erwachsenen Kinder erleben dann eine böse Überraschung: Sie müssen dem Amt gegenüber ihre kompletten Einkommens- und Vermögensverhältnisse offenlegen“, sagt Kaiser. Ihre alten Eltern unterstützen müssen die Kinder aber nur, wenn sie selbst ein sehr hohes Einkommen haben.

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Grundsätzlich rät der Familienanwalt scheidungswilligen Paaren, lieber früher als später einen „sauberen Schnitt“ zu machen. „Wenn man zu lange abwartet, kippt nach meiner Erfahrung häufig die Stimmung. Ein Partner freut sich des Lebens, der andere pflegt seinen Groll. Wenn der Konflikt eskaliert, werden die Kosten für beide am Ende viel höher.“

Was, wenn die Trennung plötzlich kommt?

Auch Axel Sch. fragt sich manchmal, ob eine schnellere Scheidung nicht besser gewesen wäre. Der Physiker, der im Management eines großen Kölner Unternehmens arbeitet, wurde vor drei Jahren nach 27-jähriger Ehe geschieden. Wegen der Geburt des ersten Kindes und des Umzugs der Familie in den Köln-Bonner Raum hatte seine Frau ihre attraktive Stelle aufgegeben. Sie habe Teilzeitjobs gehabt, sich ehrenamtlich engagiert, aber zunächst keinen adäquaten Job mehr gefunden, erzählt der heute 65- Jährige. „Ich war vielleicht nicht aufmerksam genug. Jedenfalls habe ich lange nicht wahrhaben wollen, dass meine Frau das Gefühl hatte, sie wäre unnütz und hätte etwas im Leben verpasst.“

Etwa zwei Jahre vor der Trennung hätten die Probleme angefangen: „Sie sagte immer wieder, sie hätte eigentlich nichts erreicht. Ich habe dann geantwortet: Du hast doch viel geleistet, zwei tolle Kinder großgezogen!“ Auch nach ihrem Auszug 2018 war Axel Sch. überzeugt, die Krise werde vorüber­gehen, überwies seiner Frau weiterhin Geld. „Wahrscheinlich war ich naiv. Ich habe das ‚bis dass der Tod euch scheide‘ ernst genommen“, meint er heute. Als der Mediator in der Paarberatung angefangen habe, von Unterhalt und Zugewinn zu sprechen, „hat mich das umgehauen“.

Warum leiden Männer nach Trennung oft stärker als Frauen?

Damit ist er nicht allein: Laut Pasqualina Perrig-Chiellos Langzeitstudie kam die Trennung für 30 Prozent der spät Geschiedenen aus heiterem Himmel. „Bei den Männern, die häufig konfliktscheu sind, hat uns das nicht so überrascht“, sagt die Psychologin. „Aber auch viele Frauen bemerken die Trennungsabsicht des Partners nicht. Sie wollen offenbar nicht wahrhaben, dass etwas nicht stimmt.“

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Männer litten nach einer Trennung stärker an emotionaler Einsamkeit, sagt Perrig-Chiello. „Um das entstandene Vakuum zu füllen, gehen sie auch schneller eine neue Partnerschaft ein.“ Axel Sch. fand über ein Datingportal seine jetzige Partnerin. „Erst war ich sehr unglücklich und ratlos“, erinnert er sich. „Aber ich hatte Unterstützung durch Freunde. Und ein paar Monate nach der Scheidung habe ich mir gesagt: Es hilft nichts, ich muss etwas tun, damit ich abends nicht nur allein hier hocke.“

Welchen Einfluss hat die Trennung auf die Psyche?

Mit seinen erwachsenen Kindern hat er weiterhin guten Kontakt. Das ist nicht selbstverständlich: Die Beziehung der Kinder zum Vater werde nach späten Scheidungen oft lockerer, so Pasqualina Perrig-Chiello. ­Mehrere Studien hätten darüber hinaus gezeigt, dass die Trennung der Eltern auch für erwachsene Kinder großes Leidenspotenzial berge: „Das Scheitern der Partnerschaft der Eltern trifft sie in einer Phase, in der viele selbst eine feste Beziehung eingegangen sind. Besonders belastend sind Loyalitätskonflikte, also die Frage, zu welchem Elternteil sie halten sollen.“

Welche Auswirkungen das Ende einer langjährigen Ehe auf die Psyche der sich Trennenden hat, war eine der Hauptfragen von Perrig-Chiellos Studie. „Eine Trennung nach Jahrzehnten ist ein einschneidendes Ereignis, das immer mit Leid verbunden ist“, sagt sie. „Die Betroffenen verkraften es aber ganz unterschiedlich gut.“ Die Unterstützung durch Freunde und Verwandte ist laut der Wissenschaftlerin ein wichtiger Faktor dafür, wie gut Betroffene ihre Scheidung verarbeiten können. „Interessanterweise spielt weder das Geschlecht eine Rolle noch das Alter oder die Frage, ob die Trennung vom Befragten selbst oder dem Partner ausging“, sagt die Entwicklungspsychologin.

Mit ausschlaggebend dagegen sei die finanzielle Situation. „Wer Geldsorgen hat und sich nichts mehr leisten kann, leidet mehr.“ Am wichtigsten aber sei die Persönlichkeit: Offene, kontaktfreudige und emotional stabile Menschen erholen sich schneller. Etwa 20 Prozent der Frauen und Männer aus Perrig-Chiellos Studie litten noch lange nach dem Ende ihrer Ehe unter Depression und Einsamkeit. Die Hälfte brauchte zwei bis vier Jahre, bis die Lebenszufriedenheit wieder genauso hoch war wie vor der Trennung. Und bei ungefähr 30 Prozent der Befragten ging es sogar schon nach ein paar Monaten wieder aufwärts.

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Quellen:

  • DESTATIS (Statistisches Bundesamt): 3,8 % weniger Ehescheidungen im Jahr 2022. Online: https://www.destatis.de/... (Abgerufen am 29.08.2023)
  • Perrig- Chiello P, Knöpfli B und Gloor U: Späte Scheidungen: Fakten, Gründe und Auswirkungen. In: Die Praxis des Familienrechts 01.01.2013, 4: 845-866
  • Bundesamt für Justiz und BMJV: Durchschnittliches Bruttoarbeitseinkommen der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1989 . Statista (online): https://de.statista.com/... (Abgerufen am 29.08.2023)
  • Perrig-Chiello P (2017): Wenn die Liebe nicht mehr jung ist: Warum viele langjährige Partnerschaften zerbrechen und andere nicht. Bern: Hogrefe Verlag.

  • Deutsche Rentenversicherung: Versorgungsausgleich - faires Teilen bei der Rente. Online: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/... (Abgerufen am 21.07.2023)
  • Deutsche Rentenversicherung: Geschiedene: Ausgleich bei der Rente. Online: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/... (Abgerufen am 21.07.2023)