Bulimie (Bulimia nervosa)
Wer ist betroffen?
Untersuchungen zufolge sind etwa 0,5 bis 1,2 Prozent der Frauen zwischen 12 und 35 Jahren betroffen. Die Essstörung beginnt oft im späten Teenageralter. Nur jeder zehnte Patient ist männlich.
Manchmal geht einer Bulimie eine andere Essstörung voraus, wie eine Magersucht (Anorexia nervosa) oder die Binge-Eating-Störung – ebenfalls eine Essstörung mit Essanfällen.
Was sind Symptome einer Bulimie?
Typisches Symptom bei Bulimie sind wiederholte, unkontrollierbare Essanfälle. Dabei nehmen die Betroffenen innerhalb kurzer Zeit große Mengen an Nahrung, oft leicht verfügbare kalorienreiche Lebensmittel wie Süßigkeiten, zu sich. Anschließend setzen sie Gegenmaßnahmen ein, um einer möglichen Gewichtszunahme vorzubeugen, wie absichtlich provoziertes Erbrechen, exzessiver Sport, Fasten oder Missbrauch von Abführmitteln. Die Betroffenen führen oft eine Art „Doppelleben“. Außenstehende ahnen meist nichts von der Krankheit. Anders als die Magersucht fällt eine Bulimie auch kaum durch Untergewicht auf. Bulimie-Kranke sind oft eher schlank, meistens aber normalgewichtig.
Häufig schwanken Menschen mit Bulimie zwischen zwei Extremen in ihrem Essverhalten – strenger Kontrolle und völligem Kontrollverlust:
In der Öffentlichkeit wirken Bulimie-Kranke oft sehr kontrolliert, sie legen besonderen Wert auf eine gesunde Ernährung, achten penibel auf ihr Gewicht, wählen Lebensmittel und Speisen mit Bedacht, verbieten sich ungesunde "Dickmacher".
Zwischen diesen kontrollierten Phasen erleben die Betroffenen jedoch immer wieder Momente, in denen ihnen die Kontrolle über ihr Essverhalten völlig entgleitet. Sie nehmen dann riesige Mengen Nahrung zu sich, oft besonders hochkalorische, in ihren Augen ungesunde oder "verbotene" Lebensmittel. Es scheint ihnen zu diesem Zeitpunkt unmöglich, mit dem Essen aufzuhören. Solche Essanfälle treten unterschiedlich häufig auf – manchmal wöchentlich, täglich, oder sogar mehrfach täglich. Typischerweise finden sie heimlich statt.
Anschließend empfinden die Erkrankten nicht selten Scham und Ekel. Sie fürchten, durch den Essanfall zuzunehmen. Deshalb ergreifen sie Maßnahmen, die ihre "Essattacke" ungeschehen machen sollen. Manche "stecken sich den Finger in den Hals", um Erbrechen auszulösen. Andere treiben übermäßig viel Sport, um Kalorien zu verbrennen. Sie fasten streng oder missbrauchen Abführmittel und Diätpillen.
Anzeichen, die auf eine Bulimie hinweisen können – aber nicht müssen – sind zum Beispiel:
- Essen in der Öffentlichkeit wird vermieden ("Ich habe schon gegessen.")
- Verstecktes, heimliches Essen. Oft halten Bulimie-Kranke keine geregelten Mahlzeiten ein
- Betroffene wissen oft ungewöhnlich gut über Kalorien, Kohlenhydrate und Fette in Nahrungsmitteln Bescheid
- Ständiges Kalorienzählen oder eine große Sorge um das eigene Gewicht können ein Anzeichen sein
- Die persönliche Gewichtsgrenze ist meist sehr niedrig gewählt
- Im Beisein anderer werden nur ausgewählte, "gesunde" Lebensmittel gegessen
- Betroffene kaufen eventuell große Mengen billiger, ungesunder und kalorienhaltiger Nahrungsmittel
- Sie geben unter Umständen viel Geld für Lebensmittel aus – bis hin zur Verschuldung
- Manche Betroffene horten und verstecken Nahrung
- Der Gebrauch von Abführmitteln und Entwässerungstabletten kann ein Hinweis sein
- Ein gesteigerter Bewegungsdrang und exzessive sportliche Betätigung stehen eventuell mit der Krankheit in Verbindung
- Bei manchen Betroffenen fällt eine Schwellung im Gesichtsbereich, genauer der Speicheldrüsen auf, sie bekommen "Hamsterbacken" oder Zahnschäden
Welche gesundheitlichen Folgen hat eine Bulimie?
Eine Bulimie kann auf längere Sicht ernste körperliche Folgen verursachen. Zwar leiden die Betroffenen häufig nicht an deutlichem Untergewicht wie es bei der Magersucht der Fall ist. Nicht selten bleibt die Ernährung aber insgesamt trotzdem unausgewogen. Dann können Mangelerscheinungen auftreten.
Untergewicht und bulimisches Erbrechen können jedoch auch gemeinsam auftreten, in diesem Fall spricht man von einer bulimischen Anorexie.
Fehlen wichtige Nährstoffe, wirkt sich das negativ auf den ganzen Organismus aus. Haarausfall, Konzentrationsstörungen oder Infektanfälligkeit sind mögliche Folgen. Bei Untergewicht oder einem stark schwankenden Körpergewicht sind Menstruationsstörungen (zum Beispiel eine ausbleibende Regelblutung) möglich, ebenso Schlafstörungen oder Phasen von Unterzuckerung (Hypoglykämie). Sehr häufig leiden Bulimiekranke an labiler Stimmung und depressiven Phasen.
Gesundheitsschäden entstehen aber vor allem durch häufiges Erbrechen. Dabei geht ständig Magensaft verloren. Das kann den Salz- und Mineralienhaushalt (Elektrolythaushalt) des Körpers durcheinander bringen, zu Elektrolytstörungen führen. In schweren Fällen drohen dann Nierenschäden, Flüssigkeitseinlagerungen oder ernste, teils lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen – insbesondere durch Kaliummangel (Hypokaliämie).
Beim Erbrechen gelangt immer wieder aggressive Magensäure in die Speiseröhre und in den Mund. Das setzt der Schleimhaut der Speiseröhre zu, sie kann sich entzünden (Ösophagitis). Zahnschmelzabbau und Karies können weitere Folgen sein.
Ein Missbrauch von Abführmitteln ruft ebenfalls leicht Elektrolytstörungen hervor, aber auch Darmträgheit und damit Verstopfung. Verdauungsstörungen entstehen unter Umständen auch durch die wiederholten Essanfälle. Magen und Darm werden dabei übermäßig gedehnt und belastet.
Die Ohrspeicheldrüsen können sich durch die übermäßige Beanspruchung vergrößern, teils auch entzünden.
Bulimie – die Seele leidet
Eine Bulimie ist keineswegs eine "alternative Form der Diät", sondern eine psychische Störung – aus der Betroffene ohne geeignete Therapie meist nicht mehr selbst herausfinden.
Auch wenn es äußerlich kaum erkennbar sein mag, stehen die Erkrankten innerlich unter großem Druck, leiden unter ihrer Krankheit und unter ihrer Lebenssituation. Viele schämen sich oder hassen sich sogar für ihre Essattacken. Etliche ziehen sich immer mehr von Freunden und Familie zurück. Manche leiden an Niedergeschlagenheit, an Depressionen oder weiteren psychischen Störungen wie Ängsten oder Zwängen. Bulimie ist nicht selten mit selbst verletzendem Verhalten, Selbsthass, übermäßigem Alkoholkonsum und Suizidgedanken verbunden.
Ursachen: Was löst Bulimie aus?
Eine Bulimie hat nicht nur eine einzelne Ursache. Wie bei den meisten psychischen Störungen kommen höchstwahrscheinlich verschiedene Auslöser zusammen. Individuelle Persönlichkeit und Veranlagung spielen dabei ebenso eine Rolle wie Erlebnisse und Erfahrungen, Erziehung und Umwelt. Unrealistische Schönheitsideale und eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper können zu einer gestörten Körperwahrnehmung führen und so zur Entstehung der Krankheit beitragen. Familiäre Probleme oder Schulprobleme haben manchmal einen Einfluss, ebenso Konflikte im Umgang mit Freunden oder Kollegen. Auch erbliche Faktoren und eine genetische Veranlagung spielen nach aktuellem Wissensstand eine wichtige Rolle.
Welche Faktoren im Einzelfall besonders wichtig sind, kann eventuell mit Hilfe einer Therapie aufgedeckt werden. Bulimisches Verhalten entwickelt sich manchmal auch aus einer anderen Essstörung (vor allem Magersucht).
Im Video erklärt Dr. med. Nina Buschek, wie sich Essstörungen unterscheiden, wie Angehörige helfen können und wo Erkrankte professionelle Hilfe finden:
Therapeuten beobachten auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die auf sehr viele – aber längst nicht auf alle – Bulimie-Patienten zutreffen: So leiden etliche unter einem eher geringen Selbstwertgefühl und haben eine negatives Bild von ihrer Person und ihrem Körper. Gleichzeitig meinen sie eine besonders hohe Erwartungshaltung ihrer Umgebung zu spüren, fühlen sich teilweise überfordert. Manche setzen sich auch selbst unter großen Leistungsdruck, sind ehrgeizig und perfektionistisch.
Viele bulimische Personen neigen außerdem zu einem "Schwarz-Weiß-Denken", Zwischentöne werden nicht wahrgenommen – sie schwanken zwischen Größenfantasien und Versagensängsten, zwischen "Ich kann alles schaffen" und "Ich kann gar nichts, ich bin nichts wert". Häufig haben sie Probleme, eigene Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen. Sie spüren zum Beispiel nicht, dass sie müde, hungrig oder wütend sind. Viele haben Schwierigkeiten, sich selbst etwas Gutes zu tun, sich etwas zu gönnen.
Diagnose
Eine Bulimie ist im Gegensatz zu anderen Essstörungen wie Magersucht nicht mit einem anormalen und sehr niedrigem Körpergewicht verbunden. Viele bulimische Männer und Frauen halten ihre Essstörung gut versteckt. Oft merken selbst Eltern, enge Freunden oder Partner nichts von der Erkrankung.
Bulimie-Erkrankte wissen jedoch oft ganz genau, dass sie an einer Essstörung leiden. Ihnen gelingt es aber nicht, dem Kreislauf von Hungern, Essanfällen und Gegenmaßnahmen wie Erbrechen aus eigener Kraft zu entkommen. Viele schämen sich für ihr Verhalten. Zu der Krankheit zu stehen und professionelle Hilfe zu suchen, erfordert viel Mut.
Besteht der Verdacht, dass jemand aus dem näheren Umfeld (Partner, Freund oder Verwandter) unter Bulimie leidet, ist besonderes Fingerspitzengefühl gefordert. Vertraute sollten versuchen, das Thema anzusprechen – natürlich nicht vor der versammelten Familie, sondern bei einer passenden Gelegenheit unter vier Augen. Wer unsicher ist, kann sich Unterstützung holen – zum Beispiel beim Hausarzt, bei Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen.
Diagnosekriterien
Haben Betroffene erst einmal den wichtigen Schritt geschafft, ehrliche Auskunft über das eigene Essverhalten zu geben, ist die Diagnose eindeutig, wenn...
- durchschnittlich mindestens eine Essattacke mit sehr großen Nahrungsmengen (bis zu mehreren tausend Kalorien) pro Woche in einem Zeitraum von über drei Monaten passiert,
- die Anfälle von einem Gefühl des Kontrollverlusts begleitet werden.
- versucht wird, die aufgenommenen Kalorien wieder loszuwerden, zum Beispiel durch selbst herbeigeführtes Erbrechen, Abführmittel, Entwässerungstabletten, Diäten oder übermäßige körperliche Betätigung. Erbrechen ist die häufigste Form (80 Prozent),
- zwischen den Essanfällen das Essverhalten sehr restriktiv und kontrolliert ist.
Wer befürchtet, das eigene Essverhalten nicht mehr steuern zu können, sollte sich aber in jedem Fall an einen Arzt oder psychologischen Psychotherapeuten wenden – auch wenn die Symptome von dem geschilderten Muster abweichen. Erster Ansprechpartner kann zum Beispiel der Hausarzt sein. Im Gespräch mit dem Mediziner oder der Medizinerin ergeben sich Hinweise, ob eine Essstörung vorliegen könnte. Der Arzt oder die Ärztin wird bei Bedarf an einen Spezialisten überweisen.
Neben den klassischen Störungsbildern der Magersucht und der Bulimie gibt es viele Betroffene mit einzelnen Symptomen einer Essstörung, die nicht alle Kriterien der Magersucht und Bulimie erfüllen. Experten sprechen in diesen Fällen von einer "nicht näher bezeichneten" Essstörung.
Körperliche Untersuchung
Der Arzt oder die Ärztin wird den Patienten außerdem gründlich untersuchen, um auszuschließen, dass körperliche Krankheiten oder Medikamente hinter den Symptomen stecken. So können manchmal zum Beispiel Schilddrüsenfunktionsstörungen oder bestimmte Psychopharmaka Heißhungerattacken auslösen. Auch müssen andere oder begleitende psychische Krankheiten ausgeschlossen werden, beispielsweise eine Depression, eine Zwangsstörung oder eine Borderline-Störung.
Der Arzt oder die Ärztin wird sich auch einen Eindruck verschaffen, ob die Bulimie bereits zu Folgeschäden und Mangelerscheinungen geführt haben könnte – etwa zu Zahnproblemen, Entzündungen der Speiseröhren-Schleimhaut, Menstruationsstörungen.
Blutuntersuchung
Blutuntersuchungen zeigen, ob Störungen im Mineralhaushalt (Elektrolytstörungen) vorliegen.
Therapie: Wie wird Bulimie behandelt?
Entschließen sich Betroffene, sich professionelle Hilfe zu holen, ist einer der wichtigsten Schritte bereits geschafft.
Eine Bulimie bedarf einer speziellen Therapie. Diese besteht im Idealfall aus einer Kombination von verschiedenen Psychotherapien und anderen Maßnahmen (integrierter Therapieansatz).
Je nach Schwere der Krankheit und Begleitumständen kann eine Behandlung in einer spezialisierten Klinik (stationär) oder ambulant in einer Praxis erfolgen. Oft wird auch die Kombination gewählt: erst stationär, dann ambulant.
Therapiebausteine ergänzen sich
Bei der Behandlung der Bulimie arbeiten üblicherweise verschiedene Spezialisten zusammen: zum Beispiel Mediziner und Medizinerinnen, Psychotherapeuten und -therapeutinnen, Psychologen und Psychologinnen, Ernährungsberater und Ernährungsberaterinnen, Musik- und Kunsttherapeuten und -therapeutinnen. Die Behandlung kann in Gruppen- und Einzeltherapie erfolgen und zum Beispiel Kreativverfahren, Kunsttherapie und Körperbildtherapie, Bewegungstherapie und Gruppentraining sozialer Kompetenz einschließen. In Kliniken ergänzen darüber hinaus therapeutische Essbegleitung und Lehrküche das Behandlungskonzept.
Zunächst ist es wichtig, Untergewicht und Mangelerscheinungen auszugleichen, sofern vorhanden. Eine Ernährungsberatung, Essenspläne und Essensprotokolle sollen Betroffene dabei unterstützen, wieder zu einem normalen Essverhalten zurückzufinden. Sie üben unter Anleitung, genauer auf die Signale ihres Körpers zu achten.
Mit Hilfe verschiedener psychotherapeutischer Verfahren lernen Patienten außerdem, in ihrem Alltag besser mit Stress, Angst und Problemen zurechtzukommen, mehr Selbstsicherheit zu gewinnen. Sie trainieren, ihre Gefühle bewusster wahrzunehmen und problematische Denkmuster ("Ich kann gar nichts", "Ich muss es allen recht machen") zu erkennen. Wichtig ist auch, das Selbstwertgefühl der Betroffenen zu stärken.
In den meisten Fällen ist es sinnvoll, Familienmitglieder in die Therapie einzubeziehen, um Konflikte innerhalb der Familie aufzudecken und zu lösen. Soziotherapie unterstützt Betroffene schließlich, ihren normalen Alltag zu bewältigen – zum Beispiel einen strukturierten Tagesablauf mit festen Essenszeiten einzuhalten, Kontakte und Beziehungen wieder aufleben zu lassen.
Medikamente wie Antidepressiva können dann unterstützend zum Einsatz kommen, wenn Psychotherapie nicht ausreichend hilft oder dann, wenn gleichzeitig eine belastende depressive Verstimmung feststellbar ist. Für Bulimie ist nur der Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer Fluoxetin zugelassen.
Es ist entscheidend für den Erfolg einer Therapie, dass die Patienten selbst motiviert sind, ihrem Leben eine andere Richtung zu geben, dass sie sich frei und ganz bewusst zur Behandlung entschieden haben. Fehlt die innere Bereitschaft, die Krankheit wirklich hinter sich zu lassen, ist ein Behandlungserfolg nur schwer erreichbar.
Beratender Experte
Professor Dr. Ulrich Voderholzer ist Ärztlicher Direktor der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee und Experte für Zwangserkrankungen, Schlafstörungen und Depressionen.
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder –behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen. Die Beantwortung individueller Fragen durch unsere Experten ist leider nicht möglich.