Wenn Heißhunger zum Problem wird
Wie äußert sich eine Binge-Eating-Störung?
Kennzeichnend für die Binge-Eating-Störung sind regelmäßig wiederkehrende Essanfälle – über einen Zeitraum von drei Monaten hinweg mindestens einmal in der Woche. Die Betroffenen erleben dabei einen Kontrollverlust. Sie verschlingen während der Anfälle nicht nur große Mengen, sondern essen meist schneller als normal, oft wahllos. Hunger beziehungsweise Sättigungsgefühl und Genuss spielen keine Rolle. Anschließend verspüren sie häufig Schuldgefühle oder ekeln sich vor sich selbst und ihrem Essverhalten.
„Es ist mir wichtig zu betonen, dass die Betroffenen während des Anfalls keinen Einfluss darauf haben, was und wie viel sie essen“, sagt Professorin Katrin Giel, die am Universitätsklinikum Tübingen den Arbeitsbereich Psychobiologie des Essverhaltens leitet. „Die Binge-Eating-Störung ist eine Krankheit und nicht auf Versagen oder mangelnde Willensstärke zurückzuführen.“ Betroffene verspüren oft einen hohen Leidensdruck und Scham.
Charakteristisch außerdem, dass Betroffene nicht versuchen, der übermäßigen Kalorienaufnahme durch Erbrechen, Abführmittel oder extremen Sport entgegenzuwirken. „Das ist ein entscheidendes Kriterium, um die Binge-Eating-Störung von anderen Essstörungen abzugrenzen“, so Giel. Die Bulimie etwa ist ebenfalls von Essanfällen gekennzeichnet. Betroffene greifen jedoch aus Angst vor Gewichtszunahme zu teils drastischen Gegenmaßnahmen.
Wer ist betroffen?
Weltweit wird die Prävalenz, also die Zahl der Betroffenen in einem bestimmten Zeitraum, auf ein bis drei Prozent der Bevölkerung geschätzt. Die Angaben schwanken, je nach Ausrichtung der Studie. Fachleute gehen zudem davon aus, dass die Dunkelziffer bei der Binge-Eating-Störung recht hoch liegt: Weil Betroffene ihr Problem häufig aus Scham verbergen, suchen sie auch keinen ärztlichen Rat. In der Folge wird die Erkrankung oftmals nicht erkannt.
Besser in Untersuchungen erfasst sind Menschen, die sich wegen Übergewicht oder Adipositas in therapeutischer Behandlung befinden. In dieser Population sind Studien zufolge etwa 20 bis 30 Prozent von der Essstörung betroffen.
Im Gegensatz zur Magersucht (Anorexie) oder zur Ess-Brech-Sucht (Bulimie) ist die Binge-Eating-Störung keine überwiegend „weibliche“ Erkrankung. Männer und Frauen erkranken ähnlich häufig.
Meist beginnt die Krankheit im dritten Lebensjahrzehnt, kann aber auch später im Leben noch auftreten – oder deutlich früher. Bereits Kinder ab sechs Jahren berichten von einem Gefühl des Kontrollverlusts beim Essen. Durchschnittlicher Krankheitsbeginn bei Minderjährigen liegt bei 12,6 Jahren. Bei jungen Patientinnen oder Patienten ist das Krankheitsbild meist nicht vollständig ausgeprägt. „Die Kinder erleben einen Kontrollverlust, die verzehrte Nahrungsmenge muss jedoch nicht – wie klassischerweise bei Essanfällen – deutlich größer sein als das, was andere unter vergleichbaren Umständen essen würden“, erklärt Anja Hilbert, Professorin für Verhaltensmedizin an der Universität Leipzig, die Essanfälle in verschiedenen Lebensaltern erforscht und behandelt.
Viele Betroffene haben ein geringes Selbstwertgefühl. Auffällig ist, dass rund 70 Prozent der Menschen mit Binge-Eating-Störung gleichzeitig an mindestens einer weiteren psychischen Erkrankung leiden, etwa an Depressionen, an einer Bipolaren Störung sowie an verschiedenen Angststörungen.
Wie entsteht die Binge-Eating-Störung?
„Essen mit Kontrollverlust ab der mittleren Kindheit ist ein wichtiger Risikofaktor“, so Hilbert. Weitere psychologische Faktoren, die die Krankheit begünstigen, sind ein negatives Körperbild sowie Übergewicht und ständiges Diäthalten ebenso wie ein problematischer Umgang mit Nahrung und Ernährung in der Ursprungsfamilie. Wer gelernt hat, Essen als Belohnung einzusetzen oder als Mittel gegen Trauer oder Stress hat ein höheres Risiko für Essanfälle. Darüber hinaus zählen traumatische Kindheitserlebnisse wie Gewalterfahrungen, Missbrauch oder Vernachlässigung in der Kindheit, psychische Störungen bei den Eltern oder kritische Lebensereignisse, familiäre Konflikte zu den Risikofaktoren.
Neurobiologische Untersuchungen geben weitere Hinweise zur Krankheitsentstehung. Laut Fachleuten könnte ein Ungleichgewicht bestehen zwischen der Kontrolle impulsiver, automatischer Reaktionen und der sogenannten Belohnungssensitivität: Das Verhalten wird impulsiver, die Handlungsplanung erschwert – bei gleichzeitig erhöhtem Belohnungsbedürfnis, das in der Nahrungsaufnahme Erfüllung findet. Auch Probleme beim Regulieren von Gefühlen, insbesondere von negativen Emotionen, spielen hier mit hinein.
„Möglicherweise ist aber auch die Kommunikation zwischen Gehirn und Verdauungstrakt verändert“, sagt Giel. Fehlregulierte hormonelle Signalwege oder eine veränderte Zusammensetzung der Darmbakterien können etwa dazu führen, dass Sättigungssignale im Gehirn nicht richtig ankommen.
Auch genetische Ursachen sind denkbar. „Zwillingsstudien legen eine Erblichkeit von rund 50 Prozent nahe“, so Hilbert. „Die Forschung zieht verschiedene Gene in Betracht, die eine Rolle für die Belohnungsverarbeitung spielen.“ Die Konsequenz von Mutationen und Variationen in diesen Genen könnte sein, dass Betroffene kurzfristige Belohnungen – also beispielsweise Essen – langfristigen vorziehen.
Folgen der Essanfälle
Binge Eating zieht eine Reihe psychosozialer Folgen nach sich. So leidet das Selbstwertgefühl weiter, bestehende zusätzliche psychische Erkrankungen wie Depressionen können sich verstärken. Dadurch dass sich Betroffene ihre Essanfälle in der Regel vor ihren Mitmenschen verbergen, ziehen sie sich häufig zurück. Soziale Isolation droht. Auch das Suizidrisiko ist erhöht, insbesondere wenn Betroffene unter einer weiteren psychischen Erkrankung wie Depression leiden.
Durch die zum Teil extreme Kalorienzufuhr während der Essanfälle, sind Betroffene häufig übergewichtig oder leiden unter Adipositas. Dadurch steigt das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen, ebenso wie die Gefahr für Diabetes Typ 2 sowie bestimmte Krebsarten (unter anderem: Speiseröhrenkrebs, Dick- und Enddarmkrebs, Nierenkrebs, Brustkrebs). Auch Gelenke und Wirbelsäule leiden unter dem erhöhten Körpergewicht.
Essanfälle – was nun?
Menschen, die befürchten, dass mit ihrem Essverhalten etwas nicht stimmt, sollten schnellstmöglich ihren Hausarzt oder ihre Hausärztin kontaktieren. Je früher die Störung erkannt und behandelt wird, desto besser ist der Therapieerfolg. Ohne Behandlung kann sie chronisch werden.
Behandlungsmethode der Wahl ist die Psychotherapie. „Die am besten belegte Therapieform ist die kognitive Verhaltenstherapie“, sagt Hilbert. „Etwa 50 Prozent der Betroffenen sind nach der Behandlung symptomfrei und erleben keine Rückfälle.“ Bei der anderen Hälfte werden die Essanfälle zumindest seltener.
Die kognitive Verhaltenstherapie zielt darauf ab, ein gesundes Essverhalten zu erlernen, das vor Essanfällen schützt. Die Akzeptanz für das Selbst und den eigenen Körper wird gestärkt. Außerdem lernen Betroffene zu erkennen in welchem Zusammenhang Essanfälle auftreten, um geeignete Strategien zu entwickeln, diese Situationen anders zu lösen.
Im Video erklärt Dr. med. Nina Buschek, wie sich Essstörungen unterscheiden, wie Angehörige helfen können und wo Erkrankte professionelle Hilfe finden:
Ebenfalls wirksam, wenn auch weniger gut untersucht, ist die interpersonelle Therapie. Sie arbeitet die Beziehungsmuster heraus, aus denen die Essstörung entstanden ist und die zu Essanfällen führen. Das Ziel ist, diese Beziehungsmuster aufzulösen und damit die Essanfälle nicht mehr „gebraucht“ werden, um zwischenmenschlichen Stress zu reduzieren.
Medikamente sind in Deutschland zur Behandlung von Binge-Eating nicht zugelassen. Antidepressiva wie Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, haben in Studien nicht zum erhofften Erfolg geführt. Der Behandlungserfolg ist kurzfristiger und geringer als bei psychotherapeutischen Verfahren.
Forschende suchen derzeit nach neuen Behandlungsansätzen. So hat Katrin Giel mit ihrem Team erste Belege gefunden, dass die transkranielle Gleichstromstimmulation in Kombination mit einem kognitiven Training helfen kann, Essverhalten positiv zu beeinflussen. Bei dieser Methode beeinflusst schwacher Gleichstrom, der von außen an den Kopf angelegt wird, die Erregbarkeit von Nervenzellen und erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit, dass die Nervenzellen feuern.
In Leipzig forscht das Team um Anja Hilbert zum Nutzen von EEG-Neurofeedback für die Therapie. Dabei werden Gehirnwellen auf einem Computerbildschirm bildlich dargestellt. Betroffene lernen so, ihre Gehirnaktivität gezielt zu verändern – von einem Aktivitätszustand, der auf Anspannung im Umgang mit Nahrung schließen lässt, zu einem, der ein entspannteres Essen erlaubt.
Für beide Methoden gibt es erste vielversprechende Ergebnisse. Noch bedarf es aber einiger Forschungsarbeit, bis sie tatsächlich für die Therapie zur Verfügung stehen können.
Wichtig zu wissen: „Häufig haben Betroffene den Wunsch, auch ihr Übergewicht abzubauen“, so Giel. „Allerdings ist es meist sinnvoll, zunächst das Essverhalten zu normalisieren und sich erst dann um die Gewichtsreduktion zu kümmern.“ Misserfolge beim Abnehmen könnten die Krankheit verstärken und die Therapie torpedieren.
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann eine ärztliche Beratung nicht ersetzen. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir keine individuellen Fragen beantworten
Quellen:
- Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e.V. (DGPM), Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) : Diagnostik und Therapie der Essstörungen, Langfassung der Leitlinie, überarbeitete Version 2018. Leitlinie: 2010. https://www.awmf.org/... (Abgerufen am 01.07.2022)
- Max, S.M. et al.: Combined antisaccade task and transcranial direct current stimulation to increase response inhibition in binge eating disorder. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 271, 17–28 (2021): https://doi.org/... (Abgerufen am 01.07.2022)
- Giel, K.E. et al.: Binge eating disorder. Nat Rev Dis Primers 8, 16 (2022): https://doi.org/... (Abgerufen am 01.07.2022)
- Universität Leipzig: Wie können Essanfälle vermieden werden?. https://www.uni-leipzig.de/... (Abgerufen am 01.07.2022)