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Noch ein Schritt. Und noch ein Schritt. Der Bergsteiger schleppt sich erschöpft den steilen Hang empor. Den Weg kann er in den tief hängenden Wolken nur erahnen, immer wieder gerät er ins Straucheln. Wie so ein Bergsteiger fühlen sich gerade viele. Erst wurden wir von einem Virus heimgesucht, das Angst und Konflikte schürte. Menschen haben Angehörige verloren, sind vereinsamt, haben keine Arbeit mehr. Eltern und Pflegekräfte stießen an ihre Grenzen.

Wir waren noch nicht über den Berg, da griff Russland die Ukraine an. Die Sorge vor einem Atomangriff erfasste die Menschen. Einige wurden an Kriege erinnert, die sie selbst erlebt hatten. Wenig später wurde das Gas knapp. Die Inflation wirft existenzielle Fragen auf.

Psychische Erkrankungen nehmen zu

„Viele von uns versetzt das Zusammenkommen der Krisen in Dauerstress“, sagt Professorin Judith Mangelsdorf. Sie ist Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychologie. „Es kommt zu einer langfristigen Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, die dafür sorgt, dass wir schlechter schlafen, dünnhäutiger werden. Außerdem leistet Dauerstress vielen psychischen Erkrankungen Vorschub.“

Untersuchungen zeigen, dass die Zahl der seelischen Erkrankungen seit Anfang 2020 zugenommen hat. Die Weltgesundheitsorganisation verzeichnet einen Anstieg von Angsterkrankungen und Depressionen um 25 Prozent im ersten Jahr der Pandemie. Eine Überblicksstudie im Fachmagazin Lancet zeigte, dass in Mitteleuropa etwa ein Drittel der Studienteilnehmer an einer psychischen Krankheit litt.

„Akzeptanz hilft dabei, das Beste aus einer Situation zu machen“: Professorin Michèle Wessa untersucht am Leibniz-Institut für Resilienzforschung, was unsere Seele stärkt.

„Akzeptanz hilft dabei, das Beste aus einer Situation zu machen“: Professorin Michèle Wessa untersucht am Leibniz-Institut für Resilienzforschung, was unsere Seele stärkt.

„Das heißt aber auch, dass zwei Drittel gesund geblieben sind – und auch von den Neuerkrankten erholten sich einige rasch wieder“, betont Michèle Wessa, Professorin für Klinische Psychologie und Neuropsychologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Am Leibniz-Institut für Resilienzforschung untersucht sie, was unsere Psyche stark macht.

Was die Seele stark macht

Resilienz wird oft als Widerstandskraft der Seele bezeichnet. Wer resilient ist, schafft es auch in großen Stresssituationen psychisch gesund zu bleiben oder zumindest bald wieder in die seelische Balance zurückzufinden. Diese Fähigkeit wünschen wir uns derzeit wohl alle. Teils ist sie angeboren, teils in der Kindheit gelernt. Doch auch im Erwachsenenalter ist unsere seelische Widerstandskraft noch beeinflussbar. Können wir also für Krisen trainieren wie für eine Wanderung? Gibt es Rüstzeug wie einen Pickel oder Steigeisen, die uns trotz geballter Krisen nicht den Halt verlieren lassen?

„Vielleicht das wichtigste Rüstzeug sind Akzeptanz und Selbstwirksamkeit“, sagt Michèle Wessa. Akzeptanz bedeutet, die Umstände, die man nicht beeinflussen kann, als gegeben zu sehen. Etwa das Handeln von Wladimir Putin oder die Entstehung einer neuen Virusvariante. „Akzeptanz wird manchmal als Passivität missverstanden“, sagt Wessa. „In Wirklichkeit befähigt sie uns aber, das Beste aus der bestehenden Situation zu machen.“ Wenn sich unser Bergsteiger konstant dagegen auflehnt, dass das Gelände brüchig und steil ist, kommt er nicht voran. Wenn er sich darauf einlässt, kann er seine Steigtechnik anpassen und sich vorsichtig vorantasten.

In diesem Vorantasten liegt das Gegengewicht zur Akzeptanz: die Selbstwirksamkeit. Der psychologische Begriff klingt etwas sperrig, beschreibt aber eine wichtige Quelle innerer Stärke: die Überzeugung, dass wir selbst etwas bewirken können. Wir haben zwar kaum Einfluss auf den Verlauf der Gaskrise, aber wir können lernen, Energie zu sparen. Wir können uns informieren, zum Beispiel darüber, welche Sozialleistungen wir zur Not in Anspruch nehmen können, falls wir die Energierechnungen nicht mehr zahlen können. Oder was zu tun ist, wenn tatsächlich mal länger der Strom ausfällt. Solche Planungen für den Worst Case, den schlimmsten Fall, geben Sicherheit. Wenn man getan hat, was man kann, sollte man auf das Beste hoffen. „Fragen Sie sich, was der bestmögliche Fall wäre und was Sie – auch im Kleinen – dazu beitragen können“, rät Judith Mangelsdorf. Das verbessert nicht nur die akute Situation. Optimismus stärkt auch die Resilienz.

Reden hilft in Krisen

Was aber, wenn die Hoffnung zwischen all den Virusvarianten, Kriegsnachrichten und Preissteigerungen abhandenkommt? Dann kann es helfen, einfach einen guten Freund oder eine Verwandte anzurufen. Gemeinschaft ist in Krisen ein wichtiger Schutz, jemanden zu haben, der einem wirklich zuhört. Wem niemand einfällt, der muss mit seinen Sorgen trotzdem nicht allein bleiben. Angebote wie die Telefonseelsorge, die rund um die Uhr erreichbar ist, können einen ersten Impuls geben.

Diese Erfahrung hat Peter Annweiler oft gemacht. „Dass wir keine Mittel haben, um Menschen finanziell zu helfen, ist vielleicht gerade unsere Stärke“, sagt der Leiter der Telefonseelsorge in der Pfalz. „Wer bei uns anruft, weiß, er bekommt nur ein Gespräch. Beim Reden kann sich aber eine neue Perspektive entwickeln.“

Annweiler, der auch evangelischer Pfarrer und systemischer Berater ist, vermeidet es, am Telefon konkrete Tipps zu geben. „Es gibt nicht diesen einen, universellen Rat, der für alle stimmig ist.“ Stattdessen sucht er mit den Menschen, die ihn anrufen, gemeinsam nach Ideen. Eine Kernfrage ist dabei: Was hat Ihnen in vergangenen Krisen schon einmal geholfen? Wie können Sie das reaktivieren?

Hilfe zu suchen, wenn er die Orientierung verliert, daran tut auch unser Bergsteiger gut. Um wie viel klüger ist es, er schließt sich am spaltenreichen Gletscher einer Seilschaft an, als mit ungewissem Ausgang umherzuirren. Schließlich sind Resilienz und das Annehmen von Hilfe kein Widerspruch. Im Gegenteil. Auch Unterstützung zu suchen, wenn man sie nötig hat, ist eine Form der Stärke.

Pausen machen für mehr Kraft

Wer sich immerzu stark gibt, der versagt sich möglicherweise eine wirkungsvolle Resilienz-Methode: Pause machen. Wir brauchen Momente, in denen der Stress nachlässt. Das zeigt etwa eine Studie mit 650 Deutschen, die vor, während und nach den Corona-Lockdowns befragt wurden: Erholten sie sich zwischendurch gut vom Stress, blieben sie eher psychisch gesund, als wenn ihnen das nicht gelang.

Doch wo bitte ist der Pausenknopf für Sorgen? Dieser liegt bei jedem Menschen anderswo. Oft hilft es schon, sich klarzumachen, dass es einem im Augenblick doch relativ gut geht. Viele Ängste beziehen sich auf eine Zukunft, die so vielleicht gar nicht eintritt. Manchen helfen beim Entspannen Methoden wie autogenes Training, Yoga, Qigong oder Meditation. Wem das weniger liegt, dem empfiehlt Wessa zwischendrin immer mal wieder ganz bewusst tief ein- und auszuatmen: „Das entspannt beinahe unweigerlich.“

Auch Bewegung kann Stress lindern, besonders draußen an der frischen Luft. Wenn Sorgen auftauchen, ist es meist besser, ihnen davonzulaufen als nachzuhängen. Manche Menschen beruhigen sich, wenn sie Podcasts hören, die die Lage einordnen. Andere tauchen lieber in die Fantasiewelt eines Romans ab, in ein Computerspiel oder ein Comic-Heft. Einigen hilft es auch zu beten. Was die Erholung von Stress angeht, gilt: was immer hilft.

Schließlich geht es um eine Auszeit, nicht um Verdrängung. „Probleme dauerhaft wegzudrücken und abzustumpfen, das sind keine guten Bewältigungsstrategien“, sagt Wessa. Studien haben das bereits früher gezeigt. Sie rät, sich zu festen Zeiten am Tag über die Lage in der Welt zu informieren, etwa morgens in der Zeitung und abends im Fernsehen. Dazwischen sollte man bewusst etwas Medienabstinenz einlegen, um die Psyche nicht unnötig zu belasten.

Nachrichten tun nicht immer gut

Dass unablässiger Nachrichtenkonsum nicht gut für die innere Balance ist, legen auch Studien nahe, wie etwa im vergangenen Sommer eine Online-Befragung von Forscherinnen und Forschern der Texas Tech University. Sie wollten wissen, ob es einen Zusammenhang zwischen dem zwanghaften Verfolgen von News und gesundheitlichen Problemen gibt. Bei 16,5 Prozent der Befragten lautete ihre Diagnose: problematischer Nachrichtenkonsum, was sie an sich schon als bedenklich einstuften. Die Betroffenen konnten sich schwer von dem Gelesenen oder Gesehenen trennen, dachten auch danach noch darüber nach. Und sie litten öfter an körperlichen und psychischen Beschwerden.

Doch auch wer sich nicht ständig durch die News scrollt – unberührt lassen die Krisen niemanden. Manchmal würden wir uns dann vielleicht wünschen, wir könnten wie ein in Not geratener Bergsteiger die Bergwacht rufen und uns im Hubschrauber aus dem Krisengebiet fliegen lassen. Einen solchen Ausweg gibt es bei Ukraine-Krieg, Inflation und Energieknappheit leider nicht. Und doch existiert eine Art Bergrettung, bestehend aus Therapeutinnen und Therapeuten. Wenn die Angst überhandnimmt, ein dichter Grauschleier über der Seele hängt, ist es gut, sich nach professioneller Hilfe umzusehen. Denn die Resilienz jedes Menschen hat Grenzen.

Nicht alles aushalten

Und sie hat auch Schattenseiten. So dürfe Resilienz laut Annweiler nicht zu einem Ziel zwanghafter Selbstoptimierung verkommen. „Dem Einzelnen darf nicht abverlangt werden, mit allem klarzukommen und alles auszuhalten“, sagt sie. So ist es zum Beispiel nicht Aufgabe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von großen Fleischbetrieben, sich während der Corona-Pandemie an schwierige Lebens- und Arbeitsbedingungen anzupassen, indem sie resilient werden. Die Bedingungen müssen sich ändern. Auf Dauer gesehen ist es nicht Aufgabe jedes Einzelnen mit horrenden Strompreisen klarzukommen. Die Regierung muss die Energiewende vorantreiben.

Krisen können wichtige Impulse geben. Sie zeigen, wo die Schwächen im Gesundheitssystem liegen, richten den Blick auf die hohe Bedeutung von seelischer Gesundheit, Zusammenhalt und Solidarität. Nimmt die Gesellschaft die Chancen wahr, kann sie gestärkt daraus hervorgehen.

Das Gleiche gilt für jeden Einzelnen: In der Psychologie gibt es den Begriff des Posttraumatischen Wachstums. Dieser beschreibt, wie sich Menschen in schwersten Zeiten weiterentwickeln können. „Wir müssen nicht an Krisen wachsen“, sagt Wessa. „Was aber wächst, ist unser Erfahrungsschatz.“ So geht es auch unserem Bergsteiger, der mit letzter Kraft vom hohen Berg ins Tal taumelt: Er kennt sich – und auch seine Grenzen – nun etwas besser.


Quellen:

  • Gilan D, Röthke N, Blessin M et al.: Psychomorbidity, Resilience, and Exacerbating and Protective Factors During the SARS-CoV-2 Pandemic, A systematic literature review and results from the German COSMO-PANEL. Deutsches Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/... (Abgerufen am 14.11.2022)
  • Lee J H, Nam S K, Kim A-R et al.: Resilience: A Meta-Analytic Approach. Journal of Counseling & Development: https://onlinelibrary.wiley.com/... (Abgerufen am 14.11.2022)
  • Riepenhausen A, Veer I M, Wackerhagen C et al.: Coping with COVID: risk and resilience factors for mental health in a German representative panel study. Psychological Medicine : https://www.cambridge.org/... (Abgerufen am 14.11.2022)
  • Santomauro D et al. : Global prevalence and burden of depressive and anxiety disorders in 204 countries and territories in 2020 due to the COVID-19 pandemic. The Lancet : https://www.thelancet.com/... (Abgerufen am 14.11.2022)
  • Weltgesundheitsorganisation (WHO): COVID-19 pandemic triggers 25% increase in prevalence of anxiety and depression worldwide, Wake-up call to all countries to step up mental health services and support. Online: https://www.who.int/... (Abgerufen am 14.11.2022)