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Es gibt Tage, da möchte Isabel A. am liebsten im Bett liegen bleiben und sich von der Welt ­abkapseln. Die Gedanken kreisen, eine Traurigkeit überfällt sie – und eine allumfassende ­Er- schöpfung. Doch dann ist da Younis, ihr fünfjähriger Sohn. „Ein Kind zu haben und ­Depressionen, das ist Segen und Fluch zugleich“, sagt A. Sie hat keine Wahl: Sie muss jetzt aufstehen, muss Frühstück machen, muss zur Kita hetzen. Sie muss funktionieren. Auch wenn es manchmal unmöglich scheint.

Die 43-Jährige leidet seit ihrer Jugend an ­Depressionen. Sie ist alleinerziehend, bereits während der Schwangerschaft war sie auf sich gestellt. „Das ist an sich schon überwältigend“, sagt sie. Als Younis kleiner war, habe sie oft ­gedacht: Ich pack das nicht. Auch heute wird manchmal alles zu viel. Younis mit seinem Wuschelkopf und dem frechen Lachen ist oft aufgedreht und hängt sehr an seiner Mutter.

Das Umfeld zählt mehr als die Gene

Wie Younis wachsen in Deutschland rund vier Millionen Kinder mit psychisch kranken oder suchtkranken Eltern auf. „Ihr Risiko, später selbst zu erkranken, ist zwei- bis siebenmal höher als bei Kindern, die bei gesunden ­Eltern aufwachsen“, erklärt Birgit Averbeck, Referentin für Jugendhilfe und Jugendhilfepolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF).

Sie sagt auch: Fast 50 Prozent aller ­Kinder und Jugendlichen in psychiatrischen ­Kliniken hätten selbst psychisch kranke Eltern.

„Die Weitergabe psychischer Erkrankungen an die nächste Generation ist ein Riesenproblem, für das es viel zu wenig Bewusstsein gibt“, so Averbeck.

Auch A. wollte zunächst keinen Nachwuchs, um ihre Depression nicht weiterzugeben. Doch noch wichtiger als die Gene ist das Umfeld, in dem die Kinder aufwachsen. Das zeigen mehrere Studien, etwa die der britischen Universität Cambridge aus dem Jahr 2022. Die Untersuchung fand kaum Unterschiede ­zwischen Geschwistern in einer Patchworkfamilie – obwohl einige Kinder mit dem depressiven Vater genetisch verwandt waren und andere nicht. Demnach hat das Aufwachsen einen größeren Einfluss als die Veranlagung.

Kinder übernehmen später häufig den Erwachsenenpart

„Weil psychische Erkrankungen in der ­Gesellschaft immer noch ein Tabu sind, gibt es auch in Familien keine Worte dafür“, weiß Birgit Averbeck. Sind die Eltern traurig oder unberechenbar, würden Kinder das auf sich beziehen. „Sie denken: Mama geht es schlecht, weil ich frech war oder nicht gehört habe.“ Das führe zu Schuldgefühlen und Überforderung. „Das macht etwas mit der Kinderseele.“ Später zeigen die Kinder oft eine ungesunde „Parentifizierung“. Das heißt, sie übernehmen in der Familie den ­Erwachsenenpart: Sie schmeißen den Haushalt oder trösten die ­Eltern. Für kindliche Bedürfnisse ist kein Platz.

Manchmal plagen A. deshalb Schuldgefühle. „Ich achte aktiv darauf, dass Younis durch meine Erkrankung keine Nachteile hat.“ Schon früh hat sie sich Hilfe gesucht, sich unter anderem an das Jugendamt gewandt. „Ich habe erst gezögert, weil ich viel Schlimmes gehört habe.“ Tatsächlich sei die Angst um das Sorgerecht sehr oft unbegründet, sagt Ines Müller, Bereichsleiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus. Sie arbeitet eng mit den Jugendämtern zusammen.

Ehrenamtliche Patinnen und Paten können Familien helfen

A. bekam bei der Behörde den Tipp, sich an die Berliner Organisation AMSOC zu wenden – das Kürzel steht für „Ambulante Sozialpädagogik Charlottenburg“. Diese vermittelt in der Hauptstadt ehrenamtliche Patinnen und Paten für Familien mit psychischen Problemen. So trat das Ehepaar Jasmin und Sabrina Saffran in das Leben von Mutter und Sohn.

Seit drei Jahren gehen sie einmal in der Woche mit Younis auf den Spielplatz oder ins Schwimmbad. Es macht ihnen Spaß, sich um den Kleinen zu kümmern. „Wir haben uns eigene Kinder ­gewünscht, waren aber schon zu alt, als wir uns kennenlernten“, erzählt Jasmin Saffran. Über Freunde erfuhren sie vom Patenschaftsprogramm. Sie hoffen, auch nach dem Ende des Programms, wenn Younis 18 Jahre alt ist, wichtige Bezugspersonen zu bleiben. Einer der emotionalsten Momente sei gewesen, als Isabel A. sie fragte, ob sie Younis bei sich aufnehmen würden, falls ihr etwas zustößt. „Das zeigt, wie sehr sie uns mit ihrem Kind vertraut.“

Zusätzliche Bezugspersonen wie engagierte Großeltern, Erzieher oder eben Patinnen ­können für betroffene Kinder eine große Stütze sein, sagt Psychotherapeutin Müller. Und: Sie können vor allem Alleinerziehende entlasten. Einmal die Woche einen Nachmittag für sich zu haben, kommt A. wie ein Geschenk vor.

Bisher fallen Kinder psychisch kranker Eltern oft durchs Raster

Solche Hilfsangebote gebe es in Deutschland zwar einige – sie seien aber oft nicht bekannt und, bundesweit unterschiedlich, sagt Averbeck von der DGSF: „Es gibt zu wenig Brücken zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe.“ Die Ärzte und Psychotherapeuten der Eltern müssten aber mit den Hilfen der Jugendhilfe wie der Sozialpädagogischen Familienhilfe zusammenarbeiten – und zwar vorbeugend. Bislang aber fallen die Kinder psychisch kranker Eltern durchs Raster. „Wir können den Kindern erst helfen, wenn sie selbst eine Diagnose im ­medizinischen Sinne haben“, sao Averbeck. Immerhin: Die Kinderkommission des ­Deutschen Bundestags beschäftigt sich ­inzwischen mit der Situation von Kindern ­psychisch kranker Eltern. Empfehlungen sollen folgen.

Derzeit müssen sich Betroffene selbst auf die mühsame Suche nach Hilfe machen. Sie finden sie bei regionalen Beratungsstellen, Jugendämtern oder Krankenkassen. Doch wenn Mütter oder Väter Alltägliches wie Einkaufen oder Kochen nicht mehr schaffen, ist meist eine intensivere Therapie in einer Klinik nötig. „Dabei sind die Eltern auch Vorbilder für ihre Kinder“, sagt Müller. „Sie zeigen ihnen: Ich sorge für mich, damit ich für dich sorgen kann.“ Das Wichtigste sei, dass Eltern immer zuerst ihren eigenen Akku aufladen. A. kennt ihre Warnsignale gut: „Wenn ich anfange, mit meinem Kind zu stänkern, weiß ich: Ich muss mehr schlafen.“

Erkrankung kindgerecht erklären: Das ist nicht deine Schuld

Psychotherapeutin Müller rät betroffenen Eltern, im Alltag Strukturen zu schaffen, in denen sie verlässlich für ihr Kind da sind. „Das können Kleinigkeiten sein wie abends ein Buch vorzulesen.“. Und: Es sei wichtig, das Schweigen über die Krankheit zu brechen, sagt Averbeck – insbesondere innerhalb der Familie und dem Kind gegenüber. „Wichtig ist, kindgerechte Worte zu finden: Mama ist krank, und deshalb bin ich oft müde, kann nicht aufstehen. Das hat nichts damit zu tun, dass du frech warst.“

Die zentrale Botschaft von Eltern müsse sein: Das ist meine Krankheit und nicht deine Schuld. Wichtig dabei: Das Kind nicht überfordern – Suizidgedanken sollten Mütter und Väter auf keinen Fall teilen. Eltern sollten ihren Kindern auch erlauben, mit anderen offen über ihre Erfahrungen zu sprechen und Hilfe anzunehmen, so Averbeck: „Weil das Thema so schambesetzt ist, haben Kinder oft das Gefühl, dass sie sich anderen nicht anvertrauen dürfen, weil Mama oder Papa das nicht wollen.“ Hier können Betroffenengruppen für Kinder hilfreich sein. Dort machen sie die Erfahrung, dass es auch anderen Mädchen und Jungen so geht.

„Nicht alle Kinder, deren Eltern psychisch erkrankt sind, erkranken selbst oder brauchen später eine intensive Betreuung“, betont Müller. Entscheidend sei der Umgang mit der ­Erkrankung – und dass bei ersten Warnsignalen, wenn sich das Kind zum Beispiel aggressiv ­verhält, nicht weggeschaut wird. So stehen die Chancen gut, dass Isabel A. größter Wunsch für ihren Sohn in Erfüllung geht: „Er soll mit positiven Gedanken durchs Leben gehen und keine schwere Depression mit sich herumschleppen müssen, gegen die ich mein Leben lang gekämpft habe.“