Wie hat die Corona-Pandemie unser Essverhalten verändert? Das wollten Experten des Else Kröner Fresenius Zentrums für Ernährungsmedizin (EKFZ) an der Technischen Universität München (TUM) wissen. Befragt wurden dafür im April 2021 rund 1000 Erwachsene im Alter zwischen 18 und 70 Jahren. Kern der Befragung: Ernährung und Bewegung in der Pandemie. Dies ist bereits die zweite TUM-Studie, die sich mit der Thematik befasst. Bei der ersten Befragung im September 2020 lag der Fokus auf Familien mit Kindern bis 14 Jahre, beteiligt war auch die Medizinische Fakultät der Universität München (LMU).

Die Erkenntnisse sind erstaunlich – und teilweise besorgniserregend.

Wer hat in der Pandemie am meisten zugenommen?

Rund 40 Prozent der Erwachsenen gaben an, dass sie seit Beginn der Pandemie deutlich zugenommen haben – im Schnitt 5,6 Kilo. Das gilt für Männer und Frauen gleichermaßen, allerdings war es bei den Frauen durchschnittlich ein Kilo weniger. Besonders betroffen ist die Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen. Hier haben 48 Prozent an Gewicht zugelegt.

Noch deutlicher zeigt sich die Zunahme bei Menschen, die bereits vor dem Auftauchen des Virus mit Gewichtsproblemen zu kämpfen hatten. Unter den Befragten mit einem Body-Mass-Index (BMI) über 30 bekannten mehr als die Hälfte, in der Folgezeit zugelegt zu haben, teilweise über sieben Kilo. „Corona befeuert damit die Adipositas-Pandemie“, sagt Dr. Hans Hauner. Der Professor für Ernährungsmedizin an der TU München spricht von einer besorgniserregenden Entwicklung: „Im Gegenzug gilt Adipositas als Treiber der Covid-19-Pandemie, denn mit dem BMI steigt auch das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs.“ Er begründet dies damit, dass Übergewicht zu chronischen Entzündungen im Körper führe: „Das wiederum schwächt das Immunsystem und macht anfällig für Infektionen jeder Art.“ Zusätzlich verschlechtert sich bei Adipositas die Lungenfunktion.

Was sind die Ursachen für die zusätzlichen Kilos?

Nach Einschätzung Hauners spielen neben der Ernährung weitere Faktoren eine entscheidende Rolle. Es sei die Kombination aus Bewegungsmangel durch lange geschlossene Fitnessstudios und Sportvereine plus mehr Essen, die sich auf der Waage bemerkbar mache. Tatsächlich gaben mehr als die Hälfte der befragten Erwachsenen an, dass sie sich in der Corona-Krise deutlich weniger bewegen.

Hans Hauner

Hans Hauner

Wie beeinflusst Arbeiten im Homeoffice die Ernährung?

Der Alltag hat sich im Zuge der Pandemie verändert – und das wirkt sich auch auf das Essverhalten aus. Ein Viertel der Befragten in der aktuellen Studie gibt an, von zu Hause aus zu arbeiten oder gearbeitet zu haben – die meisten durchgängig, manche im Wechsel zwischen Homeoffice und Arbeitsplatz. Zehn Prozent sind oder waren in Kurzarbeit. Dies ist auch abhängig von der Ausbildung und dem Beruf der Befragten. So arbeiten unter den Menschen mit Abitur und Studium 40 Prozent fast durchgängig im Homeoffice. Unter Hauptschulabsolventen sind es nur zwölf Prozent.

Was kommt während der Corona-Pandemie auf den Tisch?

Die Mehrheit der Befragten (über 60 Prozent) bevorzugt dieselben Lebensmittel wie vorher. Immerhin: Fast jeder Sechste erklärte, gesünder zu essen. Arbeiten die Eltern zu Hause, wird in vielen Familien häufiger in der eigenen Küche gekocht als vor der Pandemie. Obst und Gemüse kommen dann häufiger auf den Tisch, Wurst und Fleisch seltener. Das ist gut – aber: Es wird insgesamt auch deutlich mehr genascht. Ein Drittel gab an, mehr Zeit zum Essen zu haben und aus Langeweile öfter zu snacken – überwiegend ungünstige Lebensmittel mit viel Fett und Zucker.

Wieviel Bewegung ist ratsam?

Ernährungsexperte Hauner erklärt, dass das Ziel beim Essen eine gute, aber nicht übermäßige Versorgung sein sollte: „Der Energiebedarf eines Erwachsenen liegt – je nach Alter, Geschlecht und Gewicht – zwischen 1500 und 2500 Kilokalorien pro Tag.“ Auch das Maß an Bewegung spielt eine Rolle. „Erwachsene sollten mindestens 150 Minuten pro Woche mit moderater bis hoher Intensität aktiv sein“, so Renate Oberhoffer-Fritz, Professorin für präventive Pädiatrie. Dazu bieten sich für die Dekanin der Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaften der TUM Radfahren, Laufen oder Schwimmen bestens an – sofern aus gesundheitlichen Gründen nichts dagegen spricht. Das ist nicht nur gut fürs Gewicht und die Fitness, ergänzt Renate Oberhoffer-Fritz: „Auch Stress, Depressionen und Angst werden durch Sport kompensiert.“

Nehmen auch die Kinder zu?

Wie die Eltern, so vielfach auch die Kinder. Die erste Studie vom September 2020 zeigt, dass neun Prozent der Kinder aus den befragten Familien seit Beginn der Pandemie an Gewicht zugelegt haben. In den Augen von Berthold Koletzko, Else Kröner-Seniorprofessor für Pädiatrie an der Universität München (LMU), sind das alarmierende Zahlen. Schließlich handle es sich bei dem Zeitraum bis zur Studienerhebung im September um gerade mal sechs Monate. Der zweite Lockdown ab November 2020 und dass Sportvereine und Fitnessstudios erneut die Türen schließen mussten, könne diese Entwicklung weiter verstärken, befürchtet Koletzko.

Ein genauerer Blick auf die Zahlen zeigt, dass Kinder im Kleinkind- und Vorschulalter ihr Gewicht tendenziell gehalten haben. Zugenommen haben vor allem Schulkinder, und hier besonders Zehn- bis Zwölfjährige. Auch bei ihnen kommen die zwei vermuteten Ursachen zusammen: mehr Essen, weniger Bewegung. Fast 40 Prozent der Eltern gaben an, dass ihr Kind in diesen besonderen Zeiten deutlich weniger aktiv ist. Besonders häufig treffe das nach Auskunft der Eltern auf 10- bis 14-Jährige zu (57 Prozent). Während Kleinkinder überall und spontan eine Gelegenheit finden, sich auszutoben und zu spielen, sind Schulkinder offenbar auf Sportplätze oder Sportvereine angewiesen – oder zumindest den Schulsport.

"Beunruhigend ist, dass vor allem die Kinder von Eltern aus Bevölkerungsschichten mit niedrigem Einkommen von der Gewichtszunahme betroffen sind", sagt Kinderarzt Koletzko. "Der Nachwuchs aus sozial schwachen Familien hat ein viel größeres Risiko für gesundheitliche Lasten."

Erkranken künftig noch mehr Menschen an Diabetes?

Zu wenig Bewegung, eine ungesunde Ernährungsweise, Gewichtszunahme – diese Beobachtungen aus den vergangenen Monaten sind als Tendenz bei Kindern indes nicht ganz neu. Dadurch sind sie aber nicht minder besorgniserregend, denn sie stellen wesentliche Risikofaktoren für altbekannte Zivilisationskrankheiten dar. „Besonders zwischen Übergewicht und Diabetesrisiko besteht ein enger Zusammenhang“, erklärt Ernährungsmediziner Hans Hauner. „Wir müssen befürchten, dass kurzfristig die Zahl jener ansteigt, die einen Typ-2-Diabetes entwickeln könnten.“ Hauner berichtet von Diabetes-Spezialisten, die in ihren Praxen vermehrt erwachsene Patienten behandeln, die in Corona-Zeiten ihre Blutzuckerwerte nicht mehr unter Kontrolle bekommen.

Was ist das Fazit der Experten aus beiden Studien?

Die Pandemie hat definitiv den Lebensstil und die Lebensqualität vieler Menschen negativ beeinflusst. Alter, Geschlecht, Bildung und seelische Belastung spielen eine große Rolle beim Essverhalten der Menschen und bei deren Lust, sich körperlich fit zu halten.

Die Experten befürchten, dass durch Pandemie-bedingte Verschlechterungen der Lebensumstände chronische Wohlstandskrankheiten befeuert werden – vor allem Adipositas. Mit dem BMI steigt wiederum die Gefahr, schwer an Corona zu erkranken.

Sowohl Ernährungsmediziner Hans Hauner als auch Kinderarzt Berthold Koletzko pochen darauf, dass gesetzliche Maßnahmen die Lebensmittelindustrie in die Pflicht nehmen sollten. Es brauche zum Beispiel verpflichtende Vorgaben für gezuckerte Getränke und die Verpflegung in der Schule sowie ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel. Auch der Nutri-Score, der Lebensmittel entsprechend ihrem Gehalt an Zucker, Kalorien oder gesättigten Fettsäuren auf der Packung farblich kennzeichnet, sei hilfreich – aber bislang noch nicht verpflichtend. „Wir brauchen dringend gesetzliche Regelungen für die Lebensmittelindustrie, um möglichst allen Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen“, fordert Koletzko.

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