KI im Kampf gegen die Pandemie
Forscher auf der ganzen Welt suchen fieberhaft nach Medikamenten und Impfstoffen gegen SARS-CoV-2. Trotz erster Erfolgsmeldungen lässt der große Durchbruch auf sich warten. Dennoch ist abzusehen, dass es deutlich schneller gehen dürfte als bei früheren Epidemien. Denn der Druck ist immens. Neben Medizinern und Pharmakologen arbeiten auch Informatiker daran. In ihrem Bereich ist es vor allem die KI-Forschung, die einen Beitrag im Kampf gegen das Virus leisten kann.
Automatisiertes intelligentes Verhalten
Künstliche Intelligenz (KI) ist ein Teilgebiet der Informatik, das sich mit der Automatisierung intelligenten Verhaltens beschäftigt. Sie bildet menschenähnliche Intelligenz nach. Computer werden so programmiert, dass sie eigenständig Probleme bearbeiten können. Künstliche neuronale Netze spielen eine Schlüsselrolle: Sie imitieren die Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns. KI steckt in unseren Smartphones, wird in Zukunft unsere Autos steuern, unsere Häuser vernetzen – und schlägt inzwischen auch Weltmeister beim Schach. In der Medizin erkennen KI-Programme zum Beispiel Krebszellen oder helfen bei der Suche nach individuell passenden Medikamenten. Und sie setzen an zentralen Punkten der Pandemiebekämpfung an. KI kann helfen:
• die Ausbreitung des Virus vorherzusagen,
• besonders gefährdete Menschen zu erkennen,
• die Krankheit zu diagnostizieren,
• Medikamente dagegen zu entwickeln,
• die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen einzuschätzen,
• die nächste Pandemie vorherzusagen.
KI bei der Entwicklung von Medikamenten
An der Universität Oldenburg etwa nutzen Forscher KI, um Medikamente zu entwickeln. "Für die Medizin wird die KI einen enormen Nutzen haben: sowohl in der Grundlagenforschung, wie wir sie betreiben, als auch in der Anwendung", ist Oliver Kramer überzeugt. Der Professor für Computational Intelligence ist Spezialist für lernende Algorithmen, genauer für das sogenannte Deep Learning. Gemeinsam mit seinem Team aus fünf Mitarbeitern und sehr viel Rechnerkapazitäten sucht er spezielle Moleküle, die die Fähigkeit haben, an die Oberfläche von SARS-CoV-2 anzudocken und zu verhindern, dass es sich im menschlichen Körper vermehrt. Sie werden Proteaseinhibitoren genannt.
"Als uns Ende Februar der Ernst der Pandemie klar wurde und die Dringlichkeit, neue Medikamente zu finden, haben wir uns voll auf das Thema konzentriert. Ich kannte ja die Potenziale unserer Methoden und wusste, was damit möglich ist", sagt Kramer. Schlüssel zu seiner Suche – und der seiner Kollegen weltweit – sind riesige Datenbanken. Darin sind Aufbau und Wirkungsweise vieler Millionen Moleküle gespeichert. Die Oldenburger Forscher lassen ihre Computer die Datenbanken nach bereits bekannten Molekülen durchforsten.
Virtuelle Suche nach Molekülen
"Ein wichtiger Schritt der Virusvermehrung ist die sogenannte Protease. Wie eine Schere schneidet dabei ein Protein lange Moleküle in kleinere Teile. Diese ‚Schere‘ des Virus kann man blockieren, indem ein kleines Molekül angeheftet wird", erklärt Kramer; ein Prinzip, das bereits erfolgreich gegen das HI-Virus eingesetzt wird. Forscher brauchten dort allerdings Jahrzehnte, um das richtige Molekül zu finden. "Mit KI kann man diese Suche beim Coronavirus nun beschleunigen" sagt Kramer. Das Problem: Es existieren Milliarden möglicher Moleküle und damit potenzieller Medikamente.
Um herauszufinden, welche dieser Moleküle die Schere blockieren, designt die KI neue Moleküle. "Dabei setzen wir auf zwei Methoden. In einer Art künstlichen Evolution erzeugt die KI neue Moleküle durch Mutation und lässt die in Simulationen erfolgreichen überleben. Nach vielen Generationen passen sich die Moleküle an die Aufgabe an, das Virus zu hemmen." Um diesen Prozess zu beschleunigen, lerne die KI aus großen Datenbanken, wie erfolgreiche Wirkstoffe typischerweise aussähen. "Sie lernt quasi die Sprache der Wirkstoff-Moleküle und schlägt in jeder Generation immer weiter verbesserte Moleküle vor", erläutert Kramer. Die aussichtsreichsten Kandidaten müssen am Ende alle üblichen klinischen Tests am Patienten bestehen. Hier ist dann die normale Pharmaforschung gefragt.
Vom Computer ins Labor
Auch Forscher in Graz durchforsten mit Hilfe von Computern weltweit Datenbanken nach bereits bekannten und potenziell wirksamen Stoffen. Das Start-Up-Unternehmen Innophore ist ein Spin-Off der Universität Graz. In Kooperation mit der Universität Harvard und Google suchen Forscher nach einer Waffe gegen das Coronavirus. Im Visier: ein bestimmtes Eiweiß, dass das Virus für seine Vermehrung braucht.
Christian Gruber, Chemiker und Geschäftsführer des Unternehmens, sucht nach einem Wirkstoff, der dieses Eiweiß hemmt. Und er ist zuversichtlich: "Die weltweiten Anstrengungen in der Arzneimittelentwicklung gegen Covid-19 sind enorm. Viele neue Arzneimittelkandidaten wurden in computergestützten Screenings gefunden, wie wir sie hier machen. Die gefundenen Kandidaten werden im Labor weiter getestet", erklärt er. Aus Kandidaten, die sich im Labor und dann in klinischen Studien als wirksam erweisen, können künftig marktreife Medikamente hergestellt werden. Es braucht jedoch Zeit, um die Wirksamkeit und die Sicherheit zu gewährleisten. "Normalerweise dauert dieser Prozess zehn bis 15 Jahre. Im Moment bewegt sich das Entwicklungsfeld aber auf der Überholspur, es wird deutlich schneller gehen."
Künstliche Intelligenz im Klinik-Alltag
Neben der wichtigen Grundlagenforschung wird KI in Zukunft auch den Klinikalltag unterstützen können. Ludwig Christian Hinske ist Professor für Medizinische Informatik am Institut für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie an der Universität München. Er beschäftigt sich mit der Verarbeitung und Nutzung medizinischer Informationen. Konkret entwickelt er etwa Methoden zur Auswertung von Daten, zur Verbesserung bestimmter Abläufe in Kliniken und zur besseren Datensicherheit.
Das klingt erstmal abstrakt, doch diese Methoden helfen im Klinikalltag enorm. Und künftig werden sie noch viel stärker zum Einsatz kommen, ist Hinske überzeugt: "Der Einsatz von KI reicht von einer intelligenten Ressourcenplanung im Krankenhaus, etwa der Erstellung optimierter OP- und Dienstpläne, bis hin zur hoch personalisierten Medizin." Er schränkt jedoch ein, dass die dafür nötige Infrastruktur zurzeit im Rahmen der Medizininformatik-Initiative gerade erst geschaffen werde. "Daher ist im Moment noch kein breiter Routineeinsatz am Patientenbett möglich."