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Herr Professor Ullmann, nach drei Jahren Pandemie haben inzwischen andere Krisen Corona weitgehend verdrängt. Wie groß ist Ihre Sorge, dass die Pandemie in Vergessenheit gerät, bevor sie aufgearbeitet ist?

Diese Sorge habe ich durchaus. Ich finde, wir schulden es den Bürgerinnen und Bürgern, die Pandemie aufzuarbeiten, da ist bislang noch viel zu wenig passiert. Dabei müssen wir nicht nur auf nationaler Ebene schauen, was gut oder schlecht gelaufen ist und was wir in Zukunft besser machen können. Lehren müssen wir auch grenzüberschreitend ziehen.

Welche Erkenntnis ist Ihnen dabei bislang zu kurz gekommen?

Wir müssen begreifen, dass wir in ‚einer‘ Welt leben und dass Grenzen keine Bedeutung haben für Krankheitserreger. Wenn wir uns transparent miteinander vernetzen, ist das ein Gewinn für alle Länder. So können wir rechtzeitig verstehen, was auf uns zukommt und uns besser vorbereiten. Darüber hinaus müssen wir die Gesundheitssysteme weltweit stärken, um sie resilienter und krisenfest machen zu können. Auch das beugt Pandemien vor und hilft außerdem im Kampf gegen nicht übertragbare Krankheiten.

Der Bundestag hat für Themen der Globalen Gesundheit einen eigenen Unterausschuss eingerichtet. Hat man in Deutschland also verstanden, wie eng internationale Gesundheitsprojekte auch mit nationaler Gesundheitspolitik verknüpft sind?

Wir sind auf einem guten Weg, würde ich sagen. Aber wir müssen immer wieder darauf hinwirken, dass Globale Gesundheit auch nachhaltig mitgedacht wird. Der Unterausschuss ist mit inzwischen 17 Mitgliedern zuletzt gewachsen und neben dem Gesundheitsministerium auch dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zugeteilt. Das ist ein wichtiges und gutes Zeichen. Und es hat in Europa aufhorchen lassen. Portugal hat erst kürzlich im Parlament einen Unterausschuss nach deutschem Vorbild gegründet. In einigen anderen europäischen Ländern denkt man ebenfalls darüber nach. Das ist eine tolle Entwicklung und zeigt, dass man Globale Gesundheit auch in nationalen Parlamenten verstärkt ernst nimmt.

Die WHO war eine Art Koordinator in der Pandemie. Hat sie einen guten Job gemacht?

Das hat sie großteils, aber wir haben auch gesehen, dass die WHO reformiert und weiter gestärkt werden muss. Zwischen den Erwartungen an die Organisation und ihren tatsächlichen Handlungsspielräumen gibt es eine große Diskrepanz. Das hat auch mit ihrer finanziellen Ausstattung zu tun. Der Bundestag hat sich im Mai dafür ausgesprochen, die Pflichtbeiträge der Länder schrittweise auf 50 Prozent des WHO-Kernbudgets zu erhöhen. Das wurde übrigens bei der 75. Weltgesundheitsversammlung, dem höchsten Entscheidungsgremium der WHO, von den Mitgliedstaaten beschlossen. Aktuell liegt der Anteil der Pflichtbeiträge bei gerade einmal 20 Prozent, rund 80 Prozent der Finanzierung laufen über freiwillige und zweckgebundene Beiträge. So kann die WHO ihr Mandat nicht vollumfänglich ausführen.

Hat sich der hohe Spendenanteil in der Finanzierung der WHO denn als Nachteil während der Pandemie gezeigt?

Spenden sind wichtig und gut, die WHO braucht aber mehr Einnahmen, die sie vorhersehbar, frei und entsprechend der weltweiten Gesundheitsherausforderungen einsetzen kann. Ich erwarte, dass die Bundesregierung ihre Verantwortung wahrnimmt und gemeinsam mit den anderen Staaten die Pflichtbeiträge schrittweise erhöht - so wie es bei der 75. Weltgesundheitsversammlung beschlossen wurde.

Verhandelt wird in der WHO derzeit auch über eine Reform der internationalen Gesundheitsvorschriften, vor allem aber über einen Pandemievertrag. Was gehört da unbedingt rein?

Es geht um einen Vertrag, der uns als globale Gesellschaft besser auf die nächste Pandemie vorbereiten und Regeln schaffen soll, wie wir handeln, wenn es erneut zu einem Ausbruch kommt. Im besten Fall stellt der Vertrag eine Art Frühwarnsystem auf. Außerdem brauchen wir verlässliche Mechanismen, damit es nicht wieder zu Impfnationalismus kommt. Alle Länder müssen gleichberechtigt Zugang zu Impfstoffen, aber auch Diagnostika und Therapeutika haben, wenn eine Pandemie ausbricht. Nur so bekommt man einen Krankheitserreger am Ende auch wirklich in den Griff.

Es geht also um enge Kooperation, aber ohne die Souveränität der einzelnen Staaten zu berühren. Am Ende des Prozesses muss der Pandemievertrag in den Parlamenten ratifiziert werden. Die ParlamentarierInnen spielen daher eine entscheidende Rolle. Im Unterausschuss verfolgen wir die Verhandlungen ganz genau.

Nationalstaatliche Interessen werden kollektivem Handeln immer ein Stück weit entgegenstehen. Wie optimistisch sind Sie, dass eine Einigung gelingt?

Wenn die Länder den Mehrwert der Vernetzung für ihre nationalen Systeme erkennen, wird die Zusammenarbeit ganz schnell zum Selbstläufer werden. Aber bis dahin müssen wir sicherlich noch etwas Vorarbeit leisten.

Arzneimittel-Lieferengpässe sind ebenfalls eine Herausforderung für Gesundheitssysteme weltweit. Gibt es gemeinsame Lösungsansätze?

Auch dieses Problem können Staaten im Verbund besser lösen als allein. Die Pandemie hat uns mit Nachdruck gezeigt, wie wichtig es ist, die Lieferketten für Arzneimittel zu diversifizieren. Dabei brauchen wir nicht nur in Europa mehr Produktion, sondern auch auf dem afrikanischen Kontinent. Auf diese Weise könnten wir die Gesundheitssysteme vor Ort stärken und für eine gerechtere Verteilung von Arzneimitteln sorgen. So etwas lässt sich natürlich nicht innerhalb weniger Monate aufbauen. Aber es gibt auf internationaler Ebene inzwischen viele Überlegungen, in Arzneimittelproduktion in Afrika zu investieren.