Exklusiv: Die Lage in deutschen Gesundheitsämtern
Bottrop, NRW: Über 40 Mitarbeiter sind in der Kontaktnachverfolgung tätig, die ist "in voller Breite" trotzdem nicht mehr möglich. Damit steht die Großstadt im Ruhrgebiet nicht alleine da: Viele deutsche Gesundheitsämter können die Kontaktpersonen von bestätigten Covid-19-Patienten nicht mehr innerhalb der dafür vorgesehenen Zeitspanne kontaktieren.
Auf eine Anfrage des Datenrecherche-Teams der Apotheken Umschau an mehr als 400 deutsche Behörden lautete die Antwort bei knapp einem Viertel (45) der 175 Ämter, die Auskunft gegeben haben: Ja, es gebe Verzögerungen bzw. einen Stau bei noch zu kontaktierenden Kontaktpersonen der Kategorie I. Das sind genau jene Menschen, die sich für 14 Tage in Quarantäne begeben müssten, deren Gesundheit täglich überwacht werden sollte und die im Einzelfall auch auf eine Infektion mit Sars-CoV-2 getestet werden sollten. Im Umkehrschluss bedeutet das Recherche-Ergebnis, dass eine wachsende Zahl von Menschen in Deutschland nicht darüber informiert werden kann, dass sie sich in Quarantäne begeben müsste. Dadurch steigt das Risiko, dass Corona-Infektionsketten nicht frühzeitig unterbrochen werden können.
Menschen in den Ämtern an der Grenze
Aus einigen Antworten auf die Anfrage des Apotheken Umschau-Datenrecherche-Teams geht hervor, dass in vielen Gesundheitsämtern bis über die Belastungsgrenze hinaus gearbeitet werde, um die Kontaktpersonen darüber zu informieren, wie sie sich verhalten müssen. Exemplarisch haben wir ein paar Stimmen gesammelt:
Stimmen aus den Gesundheitsämtern
1. Andreas Pläsken, Pressesprecher der nordrhein-westfälischen Stadt Bottrop: "Quer durch Deutschland steigen die Corona-Neuinfektionen. In den Gesundheitsämtern des Landes laufen deswegen die Telefone heiß: Mehr Infektionen, mehr nötige Kontaktnachverfolgung. Doch diese für das Unterbrechen der Infektionsketten so wichtige Arbeit wird immer schwerer, viele Landkreise und Städte kommen nicht mehr hinterher."
So verhalte es sich auch in Bottrop. Man sei nicht mehr in der Lage, die Kontaktnachverfolgung "in voller Breite" sicherzustellen: "Derzeit sind über 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kontaktnachverfolgung tätig", sagt Pläsken. In den vergangenen Tagen habe man das Personal aufgestockt, insbesondere für die Organisation der Kontaktnachverfolgung.
Aufgrund der hohen Fallzahlen könne die Bottroper Behörde zum Beispiel nicht alle Kontakte eines Infizierten nachvollziehen. Das sei zwar weiterhin das Ziel, sagt Andreas Pläsken, "aber das können wir derzeit nicht vollumfänglich leisten". Wie viele andere Städte habe auch Bottrop die Bundeswehr um Unterstützung gebeten, "unter anderem zur Hilfe bei der Kontaktnachverfolgung. Beantragt sind 15 Personen", so Andreas Pläsken.
2. Die Sprecherin des Landratsamtes Wunsiedel berichtet, dass sie bisher die Kontaktpersonen noch innerhalb von 24 Stunden kontaktieren können: "Wir sind ein kleines Gesundheitsamt mit kleinem Team, das sich in die Aufgabe gut eingefunden hat. Aber die Arbeitsbelastung ist überdimensional hoch und die Kollegen stoßen sehr an ihre Grenzen. Wir leisten gerade viele Überstunden." In der Kontaktnachverfolgung arbeiten dort aktuell 25 Personen, die Hälfte davon in Teilzeit.
3. Das Gesundheitsamt von Neustadt an der Waldnaab in der Oberpfalz kommt an seine Grenzen. Nur durch Überstunden und Wochenenddienste sei die Kontaktnachverfolgung von Infizierten überhaupt noch möglich, sagt Claudia Prößl, Pressesprecherin und Leiterin des Büros von Landrat Andreas Meier, der Apotheken Umschau.
"Derzeit funktioniert die Kontaktnachverfolgung unter höchster Kraftanstrengung", sagt Prößl. Sollten die Zahlen weiter steigen, "ist das aber wohl nicht mehr lange zu schaffen". In Neustadt an der Waldnaab sind mehr als 40 Personen in der Kontaktnachverfolgung tätig. Und es werden ständig mehr: Allein am heutigen Mittwoch seien fünf Personen eingearbeitet worden, so Claudia Prößl.
Unter den neuen Hilfskräften: Reservisten der Bundeswehr. Das Landratsamt hatte bei der Bundeswehr um Unterstützung gebeten. So willkommen die Aushilfe auch sei, so sei die hohe Fluktuation aber auch eine Herausforderung, heißt es aus Neustadt: "Die ständig neuen Personen müssen eingewiesen werden", sagt Claudia Prößl. Und das von Kolleginnen und Kollegen, die zwar erfahrener seien, aber eben auch selbst erst seit kurzem dabei.
Ebenfalls eine Schwierigkeit: Genug Platz im Gesundheitsamt. Für das ständig wachsende Kontaktnachverfolgungs-Team brauche man eben Räume, Möbel und viele Telefone. "Eine große Herausforderung", sagt Claudia Prößl.

Die Grafik zeigt noch einmal das Ergebnis unserer Recherche: 42 Behörden geben an, dass sie Kontaktpersonen nur verzögert kontaktieren können. Bei 122 Behören ist keine Verzögerung festzustellen. Insgesamt angefragt waren 401 Behörden.
4. Regina Dittmer, Leiterin des Corona-Teams im Gesundheitsamt Münster, berichtet: "In den Gesundheitsämtern der Bundesrepublik herrscht Ausnahmesituation. Die steigenden Infektionszahlen erschweren insbesondere die Kontaktnachverfolgung. Weil es noch keine großen, landesweiten Ausgangsbeschränkungen gibt, haben die Menschen noch zu viele soziale Kontakte."
Seit Anfang September stelle die Stadt Münster neues Personal zur Kontaktverfolgung ein. Daneben werden Menschen aus anderen Ämtern und Auszubildende aus der Stadtverwaltung in das Gesundheitsamt versetzt. Und doch komme man mit der Kontaktnachverfolgung nicht mehr hinterher.
"Wir schaffen es nach wie vor, alle Infizierten sofort zu informieren", sagt Dittmer, "was wir nicht mehr hinkriegen, ist das Informieren aller Kontaktpersonen am selben Tag." So dauere es in Münster manchmal zwei bis drei Tage, bis die Kontaktpersonen eines Infizierten ihre Quarantäne-Aufforderung erhalten.
Noch sei man in Münster in der Lage, die Fälle chronologisch abzuarbeiten: Wessen Testresultat zuerst gemeldet wird, dessen Kontakte werden zuerst durchtelefoniert. Aber es gibt Ausnahmen: "Sobald wir erkennen, dass ein sensibler Bereich betroffen ist – zum Beispiel medizinisches Personal oder eine Einrichtung in der Altenpflege – in diesen Fällen reagieren wir prompt und ziehen diese Kontaktnachverfolgung vor."
Dass das Gesundheitsamt dermaßen unter Druck gerät, liegt laut Dittmer auch daran, dass es noch keine weitreichenden Ausgangsbeschränkungen gebe. "Wir machen die Erfahrung, dass jeder Infizierte noch viele Kontakte hat: Im Privaten, im Beruflichen. Im Schnitt müssen für jeden Infektionsfall 15-20 Kontakte nachverfolgt werden." Würde es Beschränkungen geben, würden sich diese Zahlen verringern. Es erleichtere die Arbeit des Gesundheitsamts maßgeblich, "wenn die Kontaktnachverfolger nur mit fünf statt mit 15 Kontakten telefonieren müssen."
Zurzeit arbeiten in der Münsteraner Kontaktnachverfolgung 60 Personen, aufgeteilt auf insgesamt 45 Vollzeitstellen. Bereits in den vergangenen Wochen sind die Personalzahlen gestiegen. Und immer mehr Leute werden gebraucht: "Bis zum 9. November wollen wir insgesamt 80 Stellen in der Kontaktnachverfolgung besetzt haben, das wären dann 90 Menschen", so Dittmer.