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Wann spricht man von einer seltenen Krankheit?

Während Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes oder Rückenschmerzen hierzulande zu den großen Volksleiden zählen, sind andere Beschwerdebilder so unüblich, dass sie teils kaum jemand kennt. Daher werden sie als seltene Erkrankungen oder auch Orphan Diseases (Englisch orphan = Waise) bezeichnet. Konkret gilt in der Europäischen Union eine Erkrankung dann als selten, wenn sie nicht mehr als einen von 2.000 Menschen betrifft. Die Liste entsprechender Leiden ist lang: Mehr als 6.000 seltene Krankheiten sind bislang bekannt, regelmäßig kommen neue hinzu.[1]

Wie verbreitet ein Leiden ist, kann sich je nach Region unterscheiden: Während zum Beispiel die sogenannte Thalassämie – eine genetisch bedingte Blutarmut – in Nordeuropa als selten gilt, kommt sie in bestimmten Mittelmeerländern häufig vor.

Wie viele Menschen sind von seltenen Krankheiten betroffen?

Jede einzelne Erkrankung betrifft zwar nur wenige Menschen, zusammengenommen bilden sie jedoch eine große Gruppe: Allein in Deutschland leben Schätzungen zufolge rund vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung. Das entspricht etwa jedem fünften Deutschen. In der Europäischen Union sind es rund 30 Millionen Menschen, weltweit rund zehnmal so viele.[2]

Wie rar die einzelnen seltenen Krankheiten sind, variiert teils stark: An manchen leiden hierzulande mehrere Tausend Menschen, an anderen wiederum nur eine Handvoll. So zählt etwa die Lungenerkrankung Mukoviszidose mit hierzulande rund 8.000 Fällen zu den relativ häufigen seltenen Erkrankungen in Deutschland.[3] An den meisten seltenen Leiden erkranken weltweit jedoch nur ganz wenig Menschen: So betreffen 85 Prozent der Orphan Diseases weniger als einen von einer Million Menschen.[4] Dazu zählt etwa das Hutchinson-Gilford-Syndrom, das betroffene Kinder wie im Zeitraffer altern lässt. Weltweit sind nur etwa 200 Fälle bekannt.

Beispiele für seltene Krankheiten:

Eine Liste aller seltenen Erkrankungen sowie geprüfte Informationen dazu finden Sie bei Orphanet.

Formen und Verlauf seltener Krankheiten

Seltene Erkrankungen umfassen ganz unterschiedliche, oft komplexe Krankheitsbilder. Was jedoch viele davon gemein haben: Sie verlaufen meist chronisch, verschlechtern sich im Laufe der Zeit und gehen oft mit einer eingeschränkten Lebensqualität und verkürzten Lebenserwartung einher.

Bemerkbar machen sich die Symptome manchmal bereits im frühen Kindesalter, teils direkt nach der Geburt.[5] Insgesamt machen Kinder und Jugendliche mehr als die Hälfte aller Menschen mit einer seltenen Erkrankung aus.[4] Wie sich die Beschwerden konkret äußern, variiert je nach Krankheitsbild. Meist sind mehrere Körperregionen betroffen, manchmal aber auch nur ein einzelnes Organ. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen reichen von leicht bis schwerwiegend.

Was sind die Ursachen seltener Krankheiten?

Ein Großteil der seltenen Erkrankungen ist genetisch bedingt oder hat eine genetische Komponente. Das heißt, es kam zu Veränderungen im Erbgut. Diese wurden entweder vererbt oder treten spontan auf. Je nachdem, welches Gen oder welcher Chromosomenabschnitt betroffen ist, unterscheidet sich das Krankheitsbild.

Beim sogenannten Marfan-Syndrom etwa löst der Gendefekt eine Bindegewebsstörung aus. Mögliche Anzeichen sind etwa überdehnbare Gelenke, ein Ablösen der Netzhaut und Risse in den Blutgefäßen.[6] Bei der sogenannten Sichelzellkrankheit wiederum bewirken die Veränderungen im Erbgut, dass der rote Blutfarbstoff Hämoglobin anders gebildet wird. Nach Sauerstoffabgabe nehmen die roten Blutkörperchen dann eine Sichelform an, was unter anderem zu Gefäßverschlüssen führen kann.

Auch seltene neurologische Erkrankungen können auf einer Genveränderung beruhen. Typisches Beispiel ist etwa die Krankheit Chorea Huntington: Verschiedene Hirnbereiche gehen dabei nach und nach zugrunde, es kommt zu Bewegungsstörungen sowie Veränderungen an Psyche und Gehirnfunktionen.[7]

Darüber hinaus gibt es auch seltene Infektionskrankheiten, seltene Formen von Autoimmunstörungen oder auch seltene Krebsarten wie etwa das Nephroblastom.

Bei vielen seltenen Erkrankungen ist die Ursache zudem noch ungeklärt.

Welche Therapien gibt es für seltene Krankheiten?

Der Großteil seltener Krankheiten ist nicht heilbar. In den überwiegenden Fällen geht es vor allem darum, die Beschwerden zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Aufgrund großer Forschungslücken gibt es für viele Erkrankungen jedoch noch immer keine wirksame Behandlung. Da seltene Krankheiten manchmal komplex sind und sich nicht viele damit auskennen, ist es hilfreich, sich an ein spezialisiertes Zentrum zu wenden. Allerdings fehlt es teilweise auch an genügend Expertinnen und Experten sowie spezialisierten Einrichtungen in Wohnortnähe.[4]

Bei einzelnen seltenen Leiden gibt es jedoch auch positive Entwicklungen: Beispielsweise hat sich die Therapie von Mukoviszidose inzwischen so stark verbessert, dass Betroffene heute deutlich älter werden als noch vor einigen Jahrzehnten.[8]

Besondere Herausforderungen

Diagnose

Bereits der Weg bis zur Diagnose einer seltenen Krankheit zehrt häufig an den Kräften: Betroffene und ihre Angehörigen haben oft schon eine Odyssee durch Arztpraxen und Kliniken hinter sich, ehe überhaupt feststeht, woran sie genau leiden. Die Krankheiten sind teils so selten und die Symptome oft so vielschichtig, dass Medizinerinnen und Mediziner sie häufig zunächst nicht zuordnen können. Im Schnitt dauert es etwa fünf Jahre, bis eine seltene Krankheit diagnostiziert wird.[8]

Wenig Forschung

Zudem fehlt es an Forschung. Da nur wenige Menschen an einer seltenen Krankheit leiden, erschwert das die Durchführung von Studien. Kleine Teilnehmerzahlen schmälern deren Aussagekraft. Hinzu kommt: Je weniger Menschen an einer bestimmten Krankheit leiden, desto uninteressanter ist sie für die Pharmaforschung.

Was wird bereits getan?

Um die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen zu verbessern, wurde 2010 das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Krankheiten (NAMSE) gegründet. Im Zuge seines 2013 veröffentlichten Nationalen Aktionsplans kam es zur Gründung vieler spezialisierter Zentren für seltene Erkrankungen.[10] Diese sollen die Koordinierung Betroffener erleichtern und ihnen eine Anlaufstelle bieten (siehe unten).

Zudem wird die Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen – sogenannte Orphan Drugs – seit vielen Jahren mit finanziellen Anreizen versehen. Seit einer EU-Verordnung aus dem Jahr 2000 gelten für Unternehmen, die ein Orphan Drug entwickeln, reduzierte Gebühren für die wissenschaftliche Beratung durch die Zulassungsbehörde EMA und für die Zulassung. Mit dem Arzneimittelneuordnungsgesetz von 2011 kamen weitere Privilegien für die Marktzulassung hinzu.

Laut dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller stehen derzeit 145 Orphan Drugs zur Verfügung. Hinzu kommen 73 Medikamente, die den Orphan-Status nicht mehr besitzen, aber noch im Markt sind. Zudem befanden sich im Dezember 2022 rund 2.400 Orphan Drugs in der Entwicklung.[11]

Anlaufstellen für Betroffene

Menschen mit einer seltenen Erkrankung und ihre Angehörigen stehen meist vor zahlreichen Herausforderungen und Fragen: Was bedeutet ihre Krankheit genau? Wo finden sie die richtigen Expertinnen und Experten? Und was, wenn noch immer keine Diagnose steht? Um Betroffene auf dem Weg zur Diagnose und Behandlung zu unterstützen, sind daher spezialisierte Anlaufstellen extrem wichtig.

Selbsthilfegruppen und Informationsangebote

Eine bedeutende Rolle für viele Betroffene und Angehörige spielen etwa Selbsthilfegruppen. Hier können sie Erfahrungen und Informationen austauschen und sich gegenseitig unterstützen. Schließlich sind sie häufig Profis in eigener Sache.

  • Die Achse e.V. (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) vertritt als Dachverband von über 130 Patientenorganisationen deren Interessen in Politik, Medizin und Forschung. Sie unterstützt bei der Suche nach verlässlichen Informationen zu seltenen Erkrankungen und vermittelt Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen. Die Beratung ist kostenfrei: www.achse-online.de
  • NAKOS (Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen) stellt ebenfalls Informationen zu Selbsthilfegruppen in der jeweiligen Region bereit: www.nakos.de
  • Namse (Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen) informiert über seltene Krankheiten und stellt Dokumente und Forschungsberichte zum Download bereit: www.namse.de
  • Orphanet liefert Informationen zu über 6.000 seltenen Krankheiten – ebenso zu medikamentösen Therapien, Selbsthilfeorganisationen und spezialisierten Einrichtungen: www.orpha.net
  • ZIPSE (Zentrales Informationsportal über seltene Erkrankungen) bietet eine Übersicht über spezialisierte Anlaufstellen, verweist auf bestehende Informationsanbieter zu seltenen Krankheiten und prüft deren Qualität: www.portal-se.de
  • Nationale Kontaktstelle für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung informiert über Behandlungen im In- und EU-Ausland: www.eu-patienten.de

Zentren für seltene Erkrankungen

In Deutschland gibt es derzeit über 30 Zentren für seltene Erkrankungen. Menschen, die an einer seltenen Krankheit leiden oder bei denen ein entsprechender Verdacht besteht, können sich an diese wenden. Ebenso sind sie Anlaufstelle für Angehörige, Patientenselbsthilfen, behandelnde Haus- und Fachärzte sowie -ärztinnen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Im Versorgungsatlas für Menschen mit Seltenen Erkrankungen – dem „se-atlas“ – sind alle Zentren gelistet. Über eine Suchfunktion finden Betroffene für ihre jeweilige Erkrankung die passenden Versorgungseinrichtungen.

Die Zentren sind in drei verschiedene Typen unterteilt, die untereinander eng vernetzt sind. Grob unterscheiden sie sich wie folgt: Typ-A-Zentren sind Anlaufstelle für diejenigen, die noch keine Diagnose haben, aber sehr wahrscheinlich an einer seltenen Erkrankung leiden. Auch helfen sie Menschen mit gesicherter Diagnose dabei, das richtige Versorgungsangebot zu finden. Sie gehören meist zu einer Universitätsklinik, hier arbeiten Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen zusammen.

Typ-B-Zentren wiederum finden sich meist in Krankenhäusern und sind auf bestimmte seltene Erkrankungen oder Krankheitsgruppen spezialisiert. Um hier behandelt zu werden, ist eine gesicherte Diagnose oder zumindest eine sehr klare Verdachtsdiagnose nötig. Gleiches gilt auch für Typ-C-Zentren. Allerdings können diese – im Gegensatz zu den Typen A und B – Betroffene nicht stationär aufnehmen, sondern nur ambulant behandeln. Sie sind häufig Teil spezialisierter Arztpraxen, medizinischer Versorgungszentren oder von Krankenhäusern.[9]

Der Andrang bei den Zentren ist meist groß, eine Anfrage daher häufig mit mehreren Wochen oder Monaten Wartezeit verbunden. Wie Patientinnen und Patienten – mit oder ohne Diagnose – bei der Anmeldung vorgehen sollten und welche Überweisungen und Unterlagen nötig sind, hat das Zentrale Informationsportal über Seltene Erkrankungen hier zusammengefasst.

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Quellen: