Wie umgehen mit der Diagnose Krebs?
„Als mein Bruder die Diagnose Krebs in einem fortgeschrittenen Stadium bekam, wurde ich hyperaktiv“, erzählt eine Angehörige, die anonym bleiben möchte. „Wir wohnten weit auseinander. Trotzdem habe ich ihn oft zu Behandlungsterminen begleitet. Meine Urlaubsreise abgesagt, einen Kurztrip ans Meer organisiert. Ihm Bücher und CDs geschickt zur Ablenkung. Krebs-Ratgeber gelesen, mich über experimentelle Verfahren und komplementäre Krebsbehandlung informiert, mich nächtelang damit beschäftigt. Atemlos durch die Nacht. Monatelang ging das so.“
Heute, Jahre später, sieht die Frau ihr Verhalten kritisch: „Meine Unterstützung hat meinen Bruder manchmal überfordert und mich auch. Ich hätte selbst Hilfe gebraucht. Doch damals fühlte ich mich in meinem Aktivismus gefangen.“ Die Diagnose Krebs erschüttert Betroffene wie Angehörige. Doch was hilft, durch diese schwere Zeit zu kommen?
Wie wirkt sich Krebs auf die Psyche aus?
Krebs hat nicht nur körperlich belastende Folgen, die Erkrankung wirkt sich auch direkt auf die Psyche aus. Studien zufolge tritt eine hohe psychische Belastung bei bis zu 59 Prozent der Patientinnen und Patienten auf. Starke Ängste bei 48 Prozent der Betroffenen. Oft bestehen solche psychischen Folgen nur kurze Zeit und bessern sich dann wieder. Manchmal müssen sie behandelt werden. Aus gutem Grund empfiehlt die Psychoonkologin Dr. Angela Grigelat daher nach einer Krebsdiagnose: „Schenken Sie der Seele genauso viel Beachtung wie dem Körper.“ Die Psychotherapeutin begleitet seit vielen Jahren Menschen mit Krebs und hat ein „Überlebensbuch für die Seele“ geschrieben, einen Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Ihr Ziel: Orientierung zu geben, mit dem Krebs gut leben zu können.
Strategien zur Krisenbewältigung
Strategien und Ideen, um die Seele in krisenhaften Situationen zu stärken, gibt es viele: Kontakte pflegen, Entspannung, Naturerfahrungen, Glaube, Spiritualität. Entscheidend dabei: etwas zu finden, was zu einem passt, was sich „stimmig“ anfühlt. „Dann können solche Selbsthilfestrategien eine enorme positive Wirkung entfalten“, bestätigt Professor Dr. Joachim Weis, der die Stiftungsprofessur Selbsthilfeforschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg innehat.
Positive Wirkung bedeutet, die Behandlung und die Folgen der Erkrankung besser zu überstehen. Der Tumor selbst lässt sich nicht direkt beeinflussen. „Das wird häufig missverstanden“, dämpft Angela Grigelat zu hohe Erwartungen. Ein gesunder Lebensstil oder die Macht der positiven Gedanken zaubern Krebs nicht weg und schützen auch nicht davor. „Krebs ist ein Zell-Unfall. Er passiert auch jenen, die sich um ihre Krebsvorsorge gekümmert haben und im Alltag kaum Stress ausgesetzt waren“, sagt die Psychoonkologin.
Wann sollte man sich psychologische Hilfe holen?
Die Krankheit ist Schicksal. Manche hadern vorübergehend oder dauerhaft damit, andere werden mit widrigen Umständen und Ereignissen besser fertig. Sie sind resilienter, widerstandsfähiger. Die gute Nachricht: „Resilienz lässt sich trainieren wie ein Muskel“, sagt Angela Grigelat.
„Wenn jemand das Gefühl hat, dass die psychische Belastung durch die Erkrankung die eigenen Kräfte übersteigt, ist professionelle Hilfe gefragt“, betont Joachim Weis. Fachliche Hilfe finden Betroffene und Angehörige in Tumorzentren und bei psychosozialen Krebsberatungsstellen, auch kurzfristig, vorbeugend und kostenlos. Zum Beispiel in einer Krise, wenn die Verzweiflung überhandnimmt. „Sich dann den Kummer von der Seele zu reden oder einfach nur zu weinen, entlastet die Betroffenen. Das kann eine erste Hilfestellung zur Bewältigung sein“, sagt Weis. In Beratungsgesprächen kommen aber auch ganz praktische Themen zur Sprache: Wie geht es beruflich weiter? Wo bekomme ich finanzielle Unterstützung?
Wenn Menschen durch ihre Krebserkrankung eine Depression bekommen oder unter Angststörungen leiden, kann eine ambulante Psychotherapie sinnvoll sein. Ein Problem: Termine bei niedergelassenen Psychotherapeutinnen und -therapeuten zumal mit psychoonkologischem Schwerpunkt sind oft lange ausgebucht. In den meisten Fällen lässt sich die Lebensqualität aber durch wenige Beratungstermine verbessern, beobachtet Joachim Weis. Längere Psychotherapien seien bei Krebspatientinnen und -patienten eher selten erforderlich.
Im folgenden finden Sie einige Strategien zur Selbsthilfe:
Auf Bindungen vertrauen
Rückzug, erst mal für sich sein wollen, das ist eine normale Reaktion. Aber Einzelkämpfer haben es auf Dauer schwerer. Für die Unterstützung kommen vor allem Angehörige und Freunde infrage, aber nicht nur. „Erweitern Sie Ihren Blick“, rät Angela Grigelat. „Vielleicht entdecken Sie in Personen, die Ihnen bisher nicht besonders nahestanden, ideale Unterstützer?“ Die Hilfe auf mehrere Personen zu verteilen entlastet auch die Angehörigen.
Erwarten Sie nicht, dass man Sie ohne Worte versteht, dass Ihre Angehörigen oder Freunde ahnen, was in Ihnen vorgeht. „Reden Sie Tacheles!“, empfiehlt Grigelat. Sagen Sie, was Sie brauchen: jemand, der nur zuhört, eine Umarmung, eine Begleitung zum Behandlungstermin – oder in Ruhe gelassen zu werden, wenn Ihnen danach ist.
Gesunde Routinen entwickeln
Dauerhafter Stress hält die Psyche ständig in Anspannung, fördert chronische Entzündungen, schwächt das Immunsystem. Schon vor fast 40 Jahren stellte ein Forschungsteam fest: Menschen, die nach einer Operation vom Krankenbett aus in die Natur schauten, erholten sich schneller als solche mit einer weniger angenehmen Aussicht. Nutzen Sie die Ressource Natur. Ob Waldbaden, Gärtnern, Spazieren: Bauen Sie eine Natur-Auszeit als tägliche Routine in Ihren Alltag ein. Auch Sport und Bewegung helfen, Stress abzubauen und lindern die extreme Müdigkeit (Fatigue) nach Krebs. Sind Sie unsicher, wie viel Sie sich zumuten dürfen, können Sie sich zum Beispiel einer Krebssportgruppe anschließen.
Entspannen lernen
Lernen Sie gezielt eine Entspannungsmethode. Von Achtsamkeitsmeditation bis Qigong: Die Wirkung der meisten Verfahren ist wissenschaftlich belegt. „Regelmäßig angewendet, senken sie das Stressniveau und helfen auch in akuten Krisen“, sagt der Selbsthilfe-Forscher Professor Dr. Joachim Weis.
Die Methode ist Typsache. Wer mit bildlichen Vorstellungen wie bei der gelenkten Imagination nichts anfangen kann, probiert es mit körperbetonten Verfahren. Leicht zu erlernen ist etwa die progressive Muskelentspannung: nacheinander alle Körpermuskeln – Gesicht, Hände, Bauch, Füße – anspannen und loslassen. Man lernt dabei, wie sich Entspannung anfühlt und kann sie bei Bedarf selbst herbeiführen. Herzschlag und Atem lassen sich beruhigen, Ängste und Schmerzen besser kontrollieren.
Weis empfiehlt, sich nicht auf eine Methode festzulegen: „Bietet die Volkshochschule gerade keinen Kurs in Achtsamkeitsmeditation, dann belegen Sie einen anderen, etwa autogenes Training.“
Inseln im Alltag schaffen
Ständig im Alarmmodus? Dann tut es gut, belastende Informationen zeitweise von sich fernzuhalten. Abschalten und Verdrängen sind erlaubt und sinnvoll. Psychotherapeutin Dr. Angela Grigelat rät ihren Klientinnen und Klienten, zu Hause „krebsfreie Zonen oder Zeiten“ einzurichten: „Lassen Sie Ihr ‚Krebsbüro‘ nicht 24 Stunden offen, vereinbaren Sie mit sich und Ihrem Umfeld, dass Sie sich etwa abends oder am Wochenende nicht mit Krebsthemen beschäftigen und auch im Freundeskreis keine Fragen dazu beantworten.“
Neues entdecken und gute Gefühle sammeln
Gefühle verändern die Körperphysiologie: Eine angenehme Vorstellung oder ein Glücksmoment, an den Sie sich erinnern, kann den Herzschlag oder Atem beruhigen – und manchmal sogar einen Frosch im Hals vertreiben.
Dafür braucht es nicht immer das pure Glücksempfinden. Vergegenwärtigen Sie sich die ganze Bandbreite guter Gefühle, etwa Zärtlichkeit in der Partnerschaft oder Nähe bei Freunden. Und entdecken Sie neue für sich: Inspiration in einer Kunstausstellung, Unbeschwertheit beim Hören Ihrer Lieblingsmusik, Gelassenheit in einer Meditationsstunde.
Stecken Sie sich kleine Ziele, die Sie erreichen können, zum Beispiel eine Wanderung. Genießen Sie den Gipfel, den Leuchtturm oder einfach, dass Sie eine schöne Aussicht erreicht haben.
Quellen:
-
Angela Grigelat: Diagnose Krebs – das Überlebensbuch für die Seele. Ariston Verlag 2021
- Leitlinienprogramm Onkologie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), Deutschen Krebsgesellschaft e. V. (DKG) und der Stiftung Deutsche Krebshilfe (DKH): Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatient*innen. online: https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/... (Abgerufen am 30.05.2023)
- Krebsinformationsdienst: https://www.krebsinformationsdienst.de/leben/krebs-psyche/seelische-belastungen-angst.php. online: https://www.krebsinformationsdienst.de/... (Abgerufen am 30.05.2023)