Hüter alter Sorten
Professor Andreas Graner hat einen Auftrag für die Zukunft: Er leitet das Leibniz-Institut für Pflanzengenetik in Gatersleben. In den Tiefkühltruhen seines Instituts lagert bei minus 18 Grad Celsius das Saatgut von rund 150 000 verschiedenen Gemüse- und Pflanzensorten.
Ob Weizen, der in den 1920ern im Alpenraum verbreitet war, oder Lippischer Braunkohl, der in Westfalen über Jahrhunderte angebaut wurde: Wie auf der Arche Noah sorgt das Team um Prof. Graner auf diese Weise dafür, dass möglichst keine Pflanze ausstirbt. "Es geht um die biologische Vielfalt", betont der Agrarwissenschaftler aus Gatersleben.
Sortenrettern wie ihm kommt letztlich auch das Engagement von Hobbygärtnern wie Bärbel Zirkel und Joachim Henle zugute (Foto unten), die in ihren Beeten quer durch Deutschland selten gewordene Obst- und Gemüsesorten anpflanzen. Sie sorgen dafür, dass die Samen nicht nur einen Dornröschenschlaf in Tiefkühltruhen fristen, sondern auch wieder mehr ins Bewusstsein der Bevölkerung rücken.
Vielfältiger Vorgarten
Denn wer heute ein Beet bepflanzt, geht meist in ein Gartencenter und kauft die gewünschten Samen. Ob im Alten Land bei Hamburg oder im Allgäu: In den meisten (Schreber-)Gärten wachsen deshalb dieselben paar Sorten der wenigen großen Saatguthersteller, bedauert Alexandra Becker.
Die Gartenbauwissenschaftlerin arbeitet für den gemeinnützigen Verein zur Erhaltung und Rekultivierung von Nutzpflanzen, kurz VERN, mit Sitz in Greiffenberg. "Dabei sind gerade alte Sorten für Hobbygärtner gut geeignet", sagt Becker. Die Früchte werden nacheinander, nicht gleichzeitig reif und können so über Wochen oder Monate frisch geerntet werden.
Vor ein paar Jahrzehnten bauten gerade in ländlichen Gegenden die meisten Menschen Gemüse und Obst für den Eigenbedarf selbst an. Eine Bohnensorte wurde so über Generationen weitervererbt – weil die Gärtner immer ein paar Samen aufhoben, um sie im kommenden Jahr wieder auszusäen.
So entstanden eigene Züchtungen und Besonderheiten wie der Berliner Aal, eine robuste Gurke, die schon 1892 angebaut wurde, oder eine weiße Rübe namens Ulmer Ochsenhorn. Im Zuge der Industrialisierung und des wachsenden Wohlstands gingen jedoch gleichzeitig Sorten und botanisches Wissen der breiten Bevölkerung verloren.
Doch der Trend scheint sich umzukehren: Mehr und mehr Menschen wollen selbst gärtnern, bestätigt Heidi Pfadler vom Kleingartenverband München. Schon vor der Pandemie konnte der Verband sich vor Schrebergarten-Anfragen kaum retten. Ähnlich sieht es in anderen Städten aus. Gleichzeitig ändern sich die Vorlieben der Verbraucher: Gerade in Bioläden liegen Schwarzwurzeln und Ringelbete selbstverständlich neben Karotten im Regal.
Dass alte Sorten es in moderne Supermärkte schaffen, ist auch der Arbeit der Wissenschaftler in Gatersleben gedankt. Die "Arche Noah für Samen" ist nicht nur eine Schatztruhe, falls durch eine Katastrophe Samen verloren gehen.
Hier wird auch aktiv geforscht: "Wir haben mehr als 20.000 Weizensorten", erzählt Agrarexperte Graner. Kommt das Getreide auf den deutschen Feldern mit den Klimaveränderungen nicht klar, wird die Datenbank durchsucht: Gibt es in den Kühllagern eine Sorte, die Trockenheit gut verträgt? Vererbt sich die Eigenschaft, wenn die alte Sorte mit einer modernen gekreuzt wird? Das Prinzip lasse sich auch auf Schädlinge oder Pflanzenkrankheiten anwenden.
"Wir wollen das Rad nicht zurückdrehen, es hat einen Grund, warum heutzutage nicht die gleichen Sorten angebaut werden wie 1920", sagt Graner. "Aber wir brauchen deren Gene für Neuzüchtungen."
Samentauschbörse
Auf einem alten Bauernhof in der Uckermark kämpft auch die Samengärtnerin Becker für mehr Vielfalt im Vorgarten. Sie und ihre Mitstreiter des Vereins VERN sorgen dafür, dass mehr als 2000 Sorten in Beeten, Gewächshäusern und auf den Feldern wachsen. "Sorten müssen angebaut und den Umwelteinflüssen ausgesetzt sein, damit sie erhalten bleiben", sagt Becker.
Das ist auch der Hauptgrund, warum Hobbygärtner als Sortenretter so wichtig sind. Der Verein verschickt deshalb Samentütchen per Post, genauso wie andere Saatgut-Hersteller – das Angebot wird auf der Internetseite vorgestellt. Auch viele Biomärkte verkaufen Saatgut alter Sorten, und nach der Pandemie können Gartenbauvereine wieder Tauschbörsen abhalten.
Vielfältiger Kürbis
Auf dem VERN-Vereinsgelände im brandenburgischen Greiffenberg steht ein alter Pflaumenbaum. Im winterlich kahlen Geäst hängt in drei Metern Höhe ein knubbeliges, blass-oranges Etwas. "Das ist ein Kalebasse-Kürbis", erklärt Becker. "Der hing zu hoch, den konnten wir nicht ernten." Wie Efeu wächst die Nutzpflanze an Bäumen oder Rankhilfen empor. Früher wurden die Früchte nicht nur gegessen, sondern auch als Vorratsgefäß oder Musikinstrument benutzt. Heute ist er einer von fünf Kürbissen, deren Samen der Verein verkauft.
Beim Gärtnern zu sich selbst finden
Die Bohnensaison beginnt für Bärbel Zirkel und Joachim Henle mit dem Aufbau der Stangen im Schrebergarten nahe der Isar. Der Aufwand lohnt sich: Der Ertrag ist höher, wenn die Pflanzen an den Stangen ranken können.

Bärbel Zirkel und Joachim Henle in ihrem Schrebergarten in München
© W&B/Dominik Gigler
Mitte Juli wird dann die Langenauer Bohne geerntet. Fast das ganze Jahr über ernährt der Garten das Paar mit frischem Gemüse und Obst. Das sortenreine Saatgut wird getauscht und selbst vermehrt – die beiden sind Profis: sie Gartentherapeutin und Floristmeisterin, er ehemaliger Saatguthändler.
Frischer Portulak aus eigenem Anbau
Es war ihre Schwester, die Maria Schweimer schon vor vielen Jahren dazu animiert hatte, Portulak anzubauen: Hildegard von Bingen empfahl ihn. Und er wird wegen seiner gesunden Omega-3-Fettsäuren gelobt.
Ab Mai holt Maria Schweimer ihn frisch aus dem Garten und mischt die würzigen Blätter samt Stielen in den Salat oder bereitet ihn wie Spinat zu. Portulak hat keine hohen Ansprüche, er wächst gut. "Von meiner reichen Ernte gebe ich gern was weiter, allein könnte ich das doch gar nicht alles essen."
Über 500 Tomatensorten
Als Gisela Ewe 2005 in Rente ging, brauchte sie etwas zu tun. Die studierte Agrarwissenschaftlerin fand schnell ein Hobby: Sie wunderte sich über die vier, fünf immer gleichen Tomatensorten im Supermarkt. Mittlerweile besitzt sie Saatgut für mehr als 500 Tomatensorten und pflanzt jährlich 200 Sorten aus. Ein-Euro-Jobber helfen bei der Arbeit, die Ernte wird an Bedürftige verteilt. Frühe Liebe, Moneymaker, Sternparadeiser – manche Sorte galt als ausgestorben, bevor Ewe sie wieder anpflanzte.
Gisela Ewe aus Aschersleben hat mehr als 500 verschiedene Tomatensorten.