Warum mehr Männer Angehörige pflegen sollten
Wie viele pflegende Angehörige sind Frauen?
Der größte Pflegedienst in Deutschland sind die Angehörigen, so brachte es die Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) im vergangenen Jahr auf den Punkt. Von fünf Millionen Pflegebedürftigen werden mehr als vier Millionen zu Hause versorgt. Und noch immer sind es vor allem Frauen, die diese große Aufgabe schultern. „Je nach Pflegebegriff sind zwischen 60 und 90 Prozent der pflegenden Angehörigen Frauen“, sagt Diana Auth, Professorin für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Hochschule Fulda. Darauf macht der Aktionstag Equal Care Day, der „Tag der gleichberechtigten Pflege“, aufmerksam.
Frauen pflegten vor allem dann, wenn es sich um die Eltern handelt und wenn der Aufwand hoch, die Betreuung besonders körpernah ist, so Auth. Auch Geld und Bildung spielen eine Rolle: Wer gebildet ist, ist eher in der Lage, Bürokratie zu bewältigen, Leistungen zu recherchieren und zu beantragen. Wer mehr Geld zur Verfügung hat, kann ambulante Dienste zukaufen.
Warum landen pflegende Frauen häufiger in der Armutsfalle?
Auch wenn sich viele Pflegende gerne um ihre Angehörigen kümmern, leiden viele unter der Belastung. Das wirke sich negativ auf die Gesundheit aus, viele Betroffene vereinsamten und vernachlässigten eigene Lebensbereiche, sagt Auth. Oft falle das Einkommen aus, und das Pflegegeld sei nur eine symbolische Leistung. „Diesen negativen Effekt sehen wir fast nur bei Frauen.“
Während bei Männern im Pflegefall nach wie vor der Beruf im Mittelpunkt stehe, reduzierten Frauen häufig ihre Stunden oder gäben die Arbeit ganz auf. „Im schlimmsten Fall landen die Frauen später in der Altersarmut, weil sie nicht mehr ausreichend in die Rentenversicherung einzahlen“, sagt Auth.
Warum pflegen Frauen häufiger als Männer?
Als Ursache wird in der Regel der Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern gesehen: Wer weniger verdient, bleibt bei einem Pflegefall zu Hause – und das sind bis heute meist Frauen. Doch eine Studie mit Längsschnittdaten hat 2021 gezeigt, dass Frauen auch dann häufiger pflegen als Männer, wenn sie im gleichen Umfang erwerbstätig sind und einen ähnlichen beruflichen Status aufweisen.
Diana Auth sieht deshalb „kulturelle Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit“ als entscheidenden Faktor, warum vor allem Frauen pflegen. In der Gesellschaft halte sich hartnäckig die Vorstellung, dass Frauen die einfühlsamen Kümmerinnen seien. „Bis solche Vorstellungen verschwinden, dauert es Jahrzehnte, wenn nicht sogar ein Jahrhundert.“
Wie motiviert man mehr Männer für die Pflege von Angehörigen?
Immerhin: Die Zahl der pflegenden Männer steigt langsam, aber kontinuierlich. „Der Anteil der pflegenden Söhne hat sich in den letzten 20 Jahren sogar verdoppelt“, sagt Auth.
Um noch mehr Männer für die Pflege von Angehörigen zu motivieren, braucht es eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Darauf zielt ein Vorschlag des unabhängigen Beirats zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf von 2022. Er sieht vor, die bestehenden Pflegegesetze zusammenzuführen und die Regelungen analog zur Elternzeit zu gestalten. Das Pflegegeld soll dann wie das Elterngeld berechnet werden und nicht nur Angehörige, sondern auch andere nahestehende Personen Anspruch darauf haben.
Wie können pflegende Angehörige mehr unterstützt werden?
Auth empfiehlt zudem den Ausbau ambulanter Pflegedienste, denn auch diese würden dazu beitragen, dass pflegende Angehörige ihre Berufstätigkeit nicht aufgeben müssen. „In unseren Studien hat sich gezeigt, dass Männer dann pflegen, wenn sie ihre Karriere nicht einschränken müssen.“ Hier können Arbeitgeber unterstützen: „Flexible Arbeitszeiten, Homeoffice und verständnisvolle Vorgesetzte bringen oft mehr als so manche staatliche Maßnahme“, sagt Auth.
Die Wissenschaftlerin fordert auch die flächendeckende Einführung einer langfristigen Begleitung von Familien, die zu Hause pflegen. „Die Betroffenen brauchen einen Ansprechpartner, der sich im Dschungel der Pflegeleistungen auskennt, der regelmäßig nach Hause kommt und bei Problemen berät“, sagt Auth.
Solche Maßnahmen sind notwendig, denn neben dem Fachkräftemangel sorgt auch der demografische Wandel für steigenden Pflegebedarf. „In einigen Jahren werden die geburtenstarken Jahrgänge pflegebedürftig sein und gleichzeitig nicht mehr als pflegende Angehörige zur Verfügung stehen“, so Auth. Ohne die häusliche Pflege könne die Gesellschaft das gar nicht stemmen. „Wenn wir akzeptieren oder gut finden, dass es häusliche Pflege gibt, dann müssen wir auch diejenigen unterstützen, die pflegen.“
Drei Männer, die Angehörige pflegen
Jochen Springborn, 54 Jahre, aus Berlin: „Die Dankbarkeit meiner Frau gibt mir viel Kraft“
Meine Frau hat Multiple Sklerose. Seit über 20 Jahren pflege ich sie zu Hause, mit einem Pflegedienst und einem Netzwerk aus Freunden und Helfern. Nebenbei bin ich voll berufstätig. Am Anfang habe ich fast alles alleine gemacht. Bis es nicht mehr ging. 2015 bin ich zusammengeklappt. Seitdem bitte ich andere ganz konkret um Unterstützung.
Ich arbeite bei der Evangelischen Schulstiftung in Berlin und habe das große Glück, dass mir mein Arbeitgeber den Rücken freihält. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Auch die Dankbarkeit meiner Frau gibt mir viel Kraft. Und die tiefe Vertrautheit zwischen uns. Bei der Hochzeit hat der Pfarrer gesagt: „Liebe ist die Kraft, der Gegenwart gerecht zu werden.“ Dieser Satz trägt mich bis heute.
Stefan Böttinger, 40 Jahre, aus Regensburg: „Ich will an der Seite meines Sohnes stehen“
Unser Sohn Bodhi kam mit einem halben Herzen zur Welt. Durch die vorgeburtliche Diagnose konnten wir uns mit betroffenen Eltern austauschen und mental vorbereiten. Bodhi wurde knapp vor der Pandemie geboren. Das verstärkte unsere Ängste, trug aber auch dazu bei, dass wir die Pflege intuitiv aufteilten. Während meine Frau Elternzeit nahm, konnte ich von zu Hause arbeiten. Ich kümmere mich in erster Linie um die intensiveren Phasen, wie Klinikaufenthalte oder Therapien. Es ist mir wichtig, an der Seite meines Sohnes zu stehen, besonders in schwierigen Zeiten. Meine Erfahrungen als Vater eines herzkranken Kindes führten zur Gründung des Heldenkollektivs: Das ist ein digitales Freundebuch, um behinderten und chronisch kranken Kindern eine Stimme zu geben.
Josef Renner, 58 Jahre, aus Leiblfing: „Man möchte etwas zurückgeben“
Ich habe meine Eltern bis zu deren Tod gepflegt. Mein Vater erlitt einen Schlaganfall. Ich kannte ihn nur als aktiven Mann, seitdem konnte er kaum mehr reden. Meine Mama, damals schon altersdement, hat lange darunter gelitten. Ein Ausnahmezustand: Gerade noch auf dem Bau in Amerika, musste ich heim, mich um alles kümmern. Als einziger Sohn war es für mich selbstverständlich, dass ich pflege. Ich wollte aber auch zurückgeben: Der Papa hat sich immer ums Haus und den Garten gekümmert. Es gab Momente, da wollte ich hinschmeißen, die Betreuung zurückgeben. Aber das sind Lernphasen. Nach drei Jahren bist du Profi. Mein Tipp an andere: So früh wie möglich um die Vollmacht kümmern. Das hat mich Nerven, Kraft und viel Geld gekostet.
Quellen:
- Klaus D, Vogel C: Geht das stärkere Engagement von Frauen in Pflege und Unterstützung auf ihre geringere Arbeitsmarktbeteiligung zurück? Ein Beitrag zur Gleichstellungsdebatte . In: Sozialer Fortschritt 01.01.2021, 70: 53-74
- Kuhlmey, A, Budnick, A: Pflegende Angehörige in Deutschland: Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit. In: Bundesgesundheitsbl 17.04.2023, 66: 550
- Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung: Senatorin Kipping zum Equal Care Day: „Pflege- und Sorgearbeit muss gerechter verteilt werden!“. Online: https://www.berlin.de/... (Abgerufen am 19.12.2023)
- Fischer B, Geyer J: Pflege in Corona-Zeiten: Gefährdete pflegen besonders Gefährdete. In: DIW Berlin 01.04.2020, 38: 1-6