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Etwa 4,6 Millionen Menschen in Deutschland gelten als pflegebedürftig. Die Zahlen der Betroffenen steigen seit Jahren an und Prognosen gehen von einer Zunahme aus. „Holen Sie sich Hilfe“, so lautet oft der Ratschlag, den Ärzte den Betroffenen auf den Weg geben, um Betreuung und Pflege zu Hause zu organisieren. Tatsächlich gibt es einen umfangreichen Katalog an Leistungen der Pflegeversicherung, der in den vergangenen Jahren ausgebaut wurde.

Häufig wissen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen gar nicht, welche Angebote es gibt und wie sie diese nutzen können

Häufig wissen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen gar nicht, welche Angebote es gibt und wie sie diese nutzen können

Überforderte Pflegende

„Überlastet“, „überfordert“, „im Stich gelassen“ – sind die Wörter, die man häufig im Gespräch mit pflegenden Angehörigen hört. Die Zahlen untermauern dies. „Jede vierte Person, die einen Angehörigen zu Hause pflegt, ist durch die Pflege hoch belastet“, fasst Dr. Antje Schwinger vom wissenschaftlichen Institut der AOK eines der Ergebnisse des Pflegereports des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WiDO) zusammen. Jeder vierte Pflegende gab an, dass die Pflege „nur noch schwierig“ oder „eigentlich gar nicht mehr zu bewältigen“ sei. Von denen, die hoch belastet waren, sagte dies jeder Zweite.

Das liegt vor allem daran, dass die Last der Pflege vor allem auf den Familien liegt. 80 Prozent der Pflegebedürftigen leben zu Hause und werden vorwiegend von den Angehörigen versorgt. Im Schnitt wendet die hauptsächlich pflegende Person etwa sechseinhalb Stunden pro Tag für die Unterstützung und Pflege auf. Etwa eineinhalb Stunden werden von Freunden, Verwandten, Ehrenamtlichen und etwa eine Dreiviertelstunde von Pflegediensten oder anderen Hilfen erbracht. Vom großen bunten Katalog der Hilfeleistungen der Pflegeversicherung kommt in der Praxis wenig an. Warum ist das so?

Umfassend und unabhängig beraten lassen

„Häufig wissen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen gar nicht, welche Angebote es gibt und wie sie diese nutzen können“, sagt Kornelia Schmid, Vorsitzende des Vereins Pflegende Angehörige e.V. Das Angebot der Leistungen und Hilfestrukturen – und deren Beantragung – gleiche einem Dschungel, in dem sich jeder seinen Weg mit einer Machete frei schlagen müsse, so Schmid. Das gelte erst recht, wenn Leistungen aus anderen Bereichen dazu kommen, wie etwa für jüngere Pflegebedürftige die Eingliederungshilfe oder Sozialhilfe.

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Kornelia Schmid setzt sich mit ihrem Verein für eine niedrigschwellige, auf die Pflegenden zugehende und unabhängige Beratung ein. Zwar ist das Recht auf Pflegeberatung gesetzlich verankert (und in gewissen Fällen sogar vorgeschrieben), aber in der Realität würden viele Pflegebedürftige sie nicht nutzen, weil sie sie nicht kennen oder der Zugang schwierig sei, moniert Schmid. Fraglich sei auch, ob die Pflegeberatung den Informationsbedarf decke. Eine Umfrage zeigte, dass die meisten auf Pflege angewiesenen Menschen sich von Freunden und Freundinnen, Familienangehörigen und dem Hausarzt oder der Hausärztin beraten lassen.

Eine Evaluation des IGES-Instituts im Auftrag des GKV-Spitzenverbands fand heraus, dass über die Hälfte von einem Pflegedienst oder einer Pflegeeinrichtung beraten wurden. „Unabhängig ist das nicht, weil diese oft ein Interesse haben, eigene Dienstleistungen zu vermitteln“, sagt Kornelia Schmid.

Individuelle Bedürfnisse ermitteln

„Eine Pflegeberatung sollte individuell auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sein“, sagt Kornelia Schmid. Dabei, so ihre Forderung, sollten auch die Angehörigen und ihre Bedürfnisse einbezogen werden. Gezielte Beratungsangebote zu der eigenen Gesundheit, der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf und der finanziellen Absicherung sollten selbstverständlich sein. Bislang gilt der Anspruch auf Pflegeberatung nur für den Pflegebedürftigen, pflegende Angehörige benötigen dessen Zustimmung, wenn sie sich beraten lassen wollen.

Situationen und Bedarfe umfassend analysieren und passgenau beraten – so die Strategie, die Wissenschaftler mit dem sogenannten Care und Case Management empfehlen. Professor Thomas Klie, ein erfahrener Sozial- und Pflegeexperte, zieht im WiDO-Report das Fazit, dass die aktuellen Strukturen davon weit entfernt seien: „Faktisch bezieht sich die Pflegeberatung, die in den Händen der Pflegekassen liegt, auf die Information über Rechtsansprüche und die Aufstellung eines standardisierten Versorgungsplans.“

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Mehr bedarfsgerechte Angebote

Das Hauptproblem liegt aber im Vorhandensein von Angeboten. „Häufig gibt es vor Ort nichts Passendes. Gerade für jüngere Pflegebedürftige fehlen Hilfen“, sagt Madeleine Viol vom Sozialverband VdK. Knapp 600.000 der Pflegebedürftigen sind unter 65 Jahren, so die Pflegestatistik. „Sie haben andere Bedürfnisse als ältere Pflegebedürftige und oftmals andere Krankheitsbilder“, erklärt Viol. Zudem benötigen sie nicht nur pflegerische Versorgung, sondern auch Unterstützung und Assistenz für ein selbstbestimmtes Leben.

Bislang seien Pflegedienste, Angebote zur Kurzzeitpflege und Tagespflege vorwiegend auf Menschen über 65 Jahren ausgelegt. Der Barmer-Pflegereport konstatierte schon vor vier Jahren, einen Mangel an Angeboten für Jüngere. Vor allem bei der Kurzzeitpflege gebe es massive Versorgungslücken, auch die Tagespflege sei nicht entsprechend ausgerichtet. 20 Prozent der Befragten würden dieses Angebot gerne nutzen, tatsächlich tun es nur 13 Prozent.

„Mein Mann würde gerne zu einer Tagespflege gehen und für mich wäre es eine gute Unterstützung“, erzählt Kornelia Schmid, deren Mann seit knapp 30 Jahren mit Multipler Sklerose lebt. „Aber die einzige Möglichkeit wäre, dass er in eine Einrichtung mit meist über 80-Jährigen Menschen mit fortgeschrittener Demenz geht.“ Madedeine Viol kennt die Situation aus vielen Beratungsgesprächen und sagt: „Das Pflegepersonal ist in den Einrichtungen damit häufig überfordert, weil es unterschiedliche Bedürfnisse abdecken müsste und dafür keine Kapazitäten hat.“ Es brauche nicht nur mehr Angebote für jüngere Pflegebedürftige, sondern ebenfalls qualifiziertes und erfahrenes Personal.

Zeit ist oft wichtiger als Geld

Der WiDO-Report zeigt auf, dass die Schwerpunkte bei den Unterstützungsleistungen oft falsch gelegt werden. Im Fokus stehen oft finanzielle Maßnahmen. Für Pflegebedürftige und ihre Familien in häuslichen Strukturen spielen sie allerdings eine untergeordnete Rolle. Sie erleben vor allem zeitliche und emotionale Belastungen und wünschen sich mehr Unterstützung etwa bei Betreuung und Beschäftigung im Alltag, Ernährung, Mobilität oder auch Hilfe in der Nacht. „Wir müssen in der ambulanten Pflege die individuell sehr unterschiedlichen Bedarfslagen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen stärker in den Blick nehmen“, fordert Antje Schwinger. Kornelia Schmid hofft, dass daraus Konsequenzen folgen und mehr unterstützende Maßnahmen entstehen, für jeden Pflegebedürftigen und seine Angehörigen, egal wie alt oder jung er ist.

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