Wie Nachtbetreuung pflegende Angehörige entlastet
Es gießt heute Abend, seit Stunden schon. Die Jalousien sind längst heruntergelassen, aber noch immer dringt das stete, einlullende Plätschern des Regens durch die Fenster und legt sich wie dezente Hintergrundmusik über den Raum. Für Anna Hechendorfer ist das schlechte Wetter ein gutes Omen: „Unsere Gäste werden eine ruhige Nacht haben.“
Die Gäste, das sind neun demenzkranke Menschen, die an diesem Dienstag im August in den Räumen des Münchner Vereins „Wohlbedacht“ übernachten. Anna Hechendorfer, eine junge Fachkraft, kümmert sich um sie. Wenn es regnet, hat sie in ihren Nachtdiensten beobachtet, schlafen die Gäste besser. „Vielleicht wirkt der Regen beruhigend.“ Oder es liege daran, dass es an nassen Tagen meist auch kühler sei.
Nächtliche Betreuung nach der Tagespflege
Viele, die sich für heute angemeldet haben, sind vorher in einer Tagespflege gewesen. Da ging es darum, aktiv zu werden, Anregungen zu erhalten. Jetzt heißt es, zur Ruhe zu kommen. Hechendorfer und ihre Kollegen vom Abenddienst möchten den Tag für ihre Gäste entspannt ausklingen lassen.
Aus dem Radio im Aufenthaltsraum klingt klassische Musik. Manche blättern scheinbar wahllos in Modezeitschriften, andere haben sich in die Fernsehecke mit dem gemütlichen Sofa zurückgezogen und lassen ein Vorabend-Quiz an sich vorbeiziehen. Einer schält mit viel Hingabe einen Apfel. Eine Beschäftigung, die ihn beruhige, erklärt Hechendorfer. Gesprochen wird wenig. Die Frauen und Männer, die hier übernachten werden, sind im fortgeschrittenen Stadium ihrer Demenz.
Umgekehrter Schlaf-wach-Rhythmus bei Demenz
Menschen mit Alzheimer haben weitaus häufiger Schlafstörungen als gesunde Personen gleichen Alters. Sie schlafen schlechter ein und wachen nachts häufiger auf, oft verbunden mit Unruhe und Ängsten. Bei manchen kehrt sich der Schlaf-wach-Rhythmus komplett um: Sie verdösen den Tag und sind nachts auf den Beinen.
Hechendorfer ist auf solche Besonderheiten vorbereitet. Fallen einem Gast im Sessel die Augen zu, fragt sie ihn, ob er ins Bett möchte – meist wird diese Frage verstanden. Dann lotst sie ihn eine Etage tiefer in eines der Gästezimmer, egal ob es früher Abend oder nach Mitternacht ist. Man brauche für diese Arbeit Geduld und Gelassenheit, aber auch viel Kreativität, erzählt die Fachfrau, die mit Demenzkranken arbeitet, seitdem sie mit 17 ein Schulpraktikum absolvierte. „Jede Nacht ist ein Abenteuer.“ Wenn ein schlafloser Gast auf der Suche nach einer Aufgabe nachts durch die Gänge geistert, improvisiert sie eine Beschäftigung. Boden kehren, Schuhe putzen, Servietten falten – all das hat sie sich schon einfallen lassen.
Den Betroffenen hilft das. Aber welcher pflegende Partner, welche Tochter, welcher Sohn kann so etwas zu Hause leisten? Die Forschung lässt vermuten, dass Angehörige von Demenzkranken nachts noch mehr belastet sind als tagsüber. Sie schlafen schlechter als Pflegende, die sich um Familienmitglieder mit körperlichen Krankheiten kümmern. Und sie nehmen häufiger Schlaf- und Beruhigungsmittel als Menschen ohne Pflegefall im Haus.
Wichtige Erholungspausen für pflegende Angehörige
Marie Wagner*, 69 Jahre, weiß, was nächtliche Pflege bedeutet. Ihr Mann Günter*, 74 Jahre, übernachtet heute in der Einrichtung, seit 2022 zählt er zu den Stammgästen. Marie Wagner bucht die Betreuung für mehrere Nächte im Monat. Das sei ganz toll, sehr hilfreich, erzählt sie. Vor sieben Jahren entwickelte ihr Mann eine Demenz, kaum dass er in den Ruhestand gegangen war. Über die Jahre verschlimmerte sich die Erkrankung. Ist Günter nachts zu Hause, findet Marie Wagner kaum Schlaf.
„Er gehört zu den Betroffenen, die ihren Harndrang spüren“, berichtet sie. „Aber er findet die Toilette nicht mehr und irrt durchs Haus.“ Und das alle ein bis zwei Stunden. Manchmal ziehe er sich an und wolle „nach Hause“. Damit meint er den Ort seiner Kindheit, hat Wagner verstanden. Einmal konnte ihr Mann die Nachtbetreuung wegen personeller Engpässe in der Einrichtung nicht aufsuchen. Nach mehreren schlaflosen Nächten am Stück habe sie Herzrhythmusstörungen bekommen, so Wagner, die selbst Ärztin ist.
Unruhige Nächte: Vorsicht mit Medikamenten
Von Schlaf- und Beruhigungsmitteln raten Experten bei Menschen mit Demenz in der Regel ab. Die Wirkung vieler dieser Arzneimittel ist bei ihnen wenig bis gar nicht untersucht. Dagegen dürften die bekannten Nebenwirkungen wie erhöhtes Sturzrisiko und Müdigkeit am Tag den Betroffenen eher noch mehr zusetzen als Gesunden. Demenz-Medikamente wie Donepezil, die vor allem in der frühen Phase der Erkrankung zum Einsatz kommen, um die geistige Leistungsfähigkeit zu stützen, könnten unter Umständen auch einen positiven Effekt auf die Nachtruhe der Patientinnen und Patienten haben.
Nachtpflege: Großer Bedarf, kleines Angebot
So groß der Leidensdruck der Angehörigen häufig ist, so klein ist das Angebot an nächtlicher Betreuung. Während es in Deutschland inzwischen mehr als 4500 Tagesstätten für pflegebedürftige Menschen gibt, weist die Statistik für Ende 2021 gerade mal 13 Einrichtungen der Nachtpflege aus. Wie kann das sein?
Die Frage geht an die Altenpflegerin Annette Arand, die heute zum Team des Nachtdiensts gehört und in einem Bürokämmerchen neben den Gästezimmern arbeitet. Arand, die auch Sozialpädagogin ist und sich im Vorstand von Wohlbedacht engagiert, hat die Nachtbetreuung vor einigen Jahren mit auf den Weg gebracht.
Nächtliche Betreuung für Menschen mit Demenz sei „wahnsinnig aufwendig“, meint sie. „Man muss sich das vorstellen wie einen Hotelbetrieb.“ Die Belegung schwanke von Nacht zu Nacht. Das Angebot sei schwer planbar und, weil viel Personal benötigt wird, mit hohen Kosten verbunden. „Der Bedarf ist riesig“, bestätigt Arand. Gemessen an den Anfragen könnte der Münchner Verein noch sehr viel mehr Betroffene beherbergen – hätte man geeignete Räume und genügend Pflegekräfte. Aber auch hier hat man mit der angespannten Personalsituation in der Branche zu kämpfen.
Oft anderes Verhalten in der Nachbetreuung
Kündigt sich ein neuer Gast an, gehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Wohlbedacht mit den Angehörigen einen Fragebogen durch: Wann geht er oder sie für gewöhnlich schlafen? Gibt es Einschlafrituale? Liegt der Gast gerne auf Kopfkissen oder lieber flach? „Die Praxis zeigt aber, dass sich die Gäste oft anders verhalten als zu Hause“, berichtet Arand. Wer sonst bis in den frühen Vormittag schläft, steht in der Nachtbetreuung womöglich schon um sieben Uhr auf. Manche entdecken hier plötzlich Hausarbeit für sich.
In dieser Nacht wird der Frühstückstisch schon um vier Uhr morgens gedeckt. Ein Gast, den es nicht im Bett hielt, hat angefangen, das Geschirr aus den Schränken zu holen. Anna Hechendorfer lässt ihn machen. Was auch sonst?
Quellen:
- Peter-Derex L, Yammine P, Bastuji H et al.: Sleep and Alzheimer's disease. Sleep Medicine Reviews: https://www.sciencedirect.com/... (Abgerufen am 13.09.2023)
- Liu Y, Leggett AN, Kim K et al.: Daily sleep, well-being, and adult day services use among dementia care dyads. Aging & Mental Health: https://www.tandfonline.com/... (Abgerufen am 13.09.2023)
- Simon MA, Bueno AM, Blanco V et al.: Sleep Disturbance, Psychological Distress and Perceived Burden in Female Family Caregivers of Dependent Patients with Dementia: A Case-Control Study . Healthcare: https://www.mdpi.com/... (Abgerufen am 13.09.2023)
- McCleery J, Sharpley AL: Pharmacotherapies for sleep disturbances in dementia. Cochrane Library: https://www.cochranelibrary.com/... (Abgerufen am 13.09.2023)
- Ball EL, Owen-Booth B, Gray A et al.: Aromatherapy for dementia. Cochrane Library: https://www.cochranelibrary.com/... (Abgerufen am 13.09.2023)
- Statistisches Bundesamt: Pflegeheime (Anzahl). Gliederungsmerkmale: Jahre, Deutschland, Pflegeangebot, Träger, Kapazitätsgrößenklassen. https://www.gbe-bund.de/... (Abgerufen am 13.09.2023)