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Frau Dr. Kohl, was Angehörige von Menschen mit Demenz belastet, ist meist weniger die Vergesslichkeit des Patienten als sein Verhalten, etwa nächtliche Unruhe oder der Drang, die Wohnung zu verlassen. Können Medikamente da helfen?

Menschen mit Demenz bekommen Beruhigungsmittel hauptsächlich aufgrund von psychischen und Verhaltenssymptomen verschrieben. Die Bandbreite der Symptome, die im Laufe einer Demenzerkrankung auftreten können, ist hierbei sehr groß: Es kann zu Ängsten, Unruhe, Aggressionen, enthemmtem Verhalten, Hinlauftendenz, Schlafstörungen aber auch Halluzinationen oder Wahnvorstellungen kommen. Bei diesen Symptomen können Beruhigungsmittel durchaus für einen gewissen Zeitraum notwendig und hilfreich sein. Am häufigsten kommen dann die sogenannten Antipsychotika zum Einsatz.

Dr. Sarah Kohl, Gerontopsychiaterin, Klinikum rechts der Isar München

Dr. Sarah Kohl, Gerontopsychiaterin, Klinikum rechts der Isar München

Wie wirken diese Medikamente?

Antipsychotika, die beispielsweise auch bei Schizophrenie angewendet werden, helfen sehr gut gegen psychotische Symptome wie Halluzinationen oder Wahn. Tatsächlich werden diese Medikamente bei Demenz jedoch zumeist aufgrund anderer Symptome, wie etwa Unruhe verordnet. Man macht sich hierbei eine Nebenwirkung der Antipsychotika zu Nutze: die beruhigende Wirkung. Man könnte auch, etwas zugespitzt, sagen: Es kommt zu einer Ruhigstellung der demenzkranken Patienten. Die sedierende, also beruhigende Wirkung des Medikaments unterdrückt das unerwünschte Verhalten. Das kann phasenweise notwendig sein, allerdings sollte die Medikation aufgrund von Nebenwirkungen nur vorübergehend gegeben werden. Die dauerhafte Gabe ist ein Problem.

Was ist daran problematisch?

Antipsychotika haben viele Nebenwirkungen, gerade bei älteren Menschen mit Demenz. Sie machen schwindelig, senken den Blutdruck und können mit Bewegungsstörungen, wie Muskelsteifigkeit, einhergehen. So verstärken sie die Sturzgefahr. Zudem können Antipsychotika die geistigen Fähigkeiten beeinträchtigen – das ist natürlich etwas, was man gerade bei Demenz vermeiden will. Antipsychotika können durch die dauerhafte Sedierung auch die Lebensqualität verringern und sie erhöhen das Risiko für einen Schlaganfall.

Trotzdem bekommen nach Studien rund 40 Prozent der dementiell Erkrankten in Deutschland diese Medikamente. Woran liegt das?

Dafür gibt es viele Gründe. Ich denke, dass zu wenig Wert auf die Anwendung von nicht-medikamentösen Maßnahmen, wie körperliche Aktivierung, Beschäftigungstherapie oder auch Entspannungsverfahren gelegt wird. Das kann mitunter mit Überforderung oder Zeit- und Personalmangel in der Pflege zu tun haben, aber vielleicht auch mit einem fehlenden Bewusstsein für die Risiken von Antipsychotika. Außerdem weiß man, dass diese Medikamente – einmal angesetzt – zu selten wieder reduziert oder abgesetzt werden.

Mit Ihrem Projekt "Decide"* wollen Sie das Problem angehen.

Wir werben für einen verantwortungsvolleren und bewussteren Umgang mit Antipsychotika bei Menschen mit Demenz. Wir wollen die Medikamente nicht verteufeln, es gibt Fälle, wo sie auch bei Demenz absolut ihre Berechtigung haben, wo sie hilfreich und nützlich sind. Aber es gibt eben auch dieses unkritische Weiterverordnen, über Monate und Jahre. Da wollen wir Wege aufzeigen, wie man beispielsweise Antipsychotika risikoarm wieder reduzieren oder sogar absetzen kann.

Es ist immer gut, wenn Angehörige über die Medikamente Bescheid wissen

Sehen Sie Unterschiede zwischen der Versorgung im Heim und der Pflege zu Hause?

Nach allem, was wir wissen, ist die Quote der Verordnungen von Antipsychotika bei Menschen mit Demenz, die zu Hause leben, nur geringfügig niedriger als in der stationären Versorgung im Pflegeheim. Sowohl in der stationären, wie auch in der häuslichen Versorgung von Menschen mit Demenz spielen Beruhigungsmittel eine große Rolle.

Woran erkenne ich überhaupt, dass mein Angehöriger Antipsychotika bekommt?

Sehen Sie sich den Medikationsplan Ihres Angehörigen an. Manchmal steht auch in der rechten Spalte, warum der Patient ein Medikament bekommt. Wenn da etwas steht wie "bei Unruhe" oder "bei Schlafstörungen", ist das schon mal ein Hinweis. Die häufigsten verordneten Antipsychotika bei Demenz sind Risperidon, Pipamperon, Melperon und Quetiapin.

Und dann?

Ich ermuntere jeden Angehörigen, das Gespräch mit dem behandelnden Arzt zu suchen. Warum bekommt mein demenzkranker Angehöriger dieses Medikament? Was ist das Ziel der Behandlung, wie lange soll das Mittel genommen werden? Auf welche möglichen Nebenwirkungen soll man achten? Kann man es vielleicht reduzieren? Es ist immer gut, wenn Angehörige über die Medikamente Bescheid wissen.

Was hilft anstelle von Medikamenten, wenn mein demenzkranker Angehöriger nicht zur Ruhe kommt, immer herumläuft, vielleicht aggressiv wird?

Für psychosoziale Maßnahmen gibt es gute Belege aus Studien, zum Beispiel für Beschäftigungstherapie oder Bewegungsangebote. Das ist natürlich immer sehr individuell und hängt von den Vorlieben und dem Krankheitsstadium des Patienten ab. Was alle psychosozialen Maßnahmen gemeinsam haben, ist, dass da jemand ist, der sich auf den Menschen mit Demenz einlässt, der sich Zeit nimmt. Das ist schon die halbe Miete. Ob man dann gemeinsam ein Puzzle legt, aus der Zeitung vorliest, Fotoalben ansieht oder eine Runde spazierengeht, ist am Ende nicht so relevant. Und man sollte als Angehöriger Hilfen von außen nutzen.

Was kann das sein?

Für Angehörige, die Menschen mit Demenz zuhause pflegen, kann Unterstützung – zum Beispiel durch ehrenamtliche Helfer – sehr entlastend sein. Als hilfreich erleben viele auch den Austausch mit anderen Angehhörigen – hier empfehle ich beispielsweise die Alzheimer Gesellschaften. Tagespflegeeinrichtungen können helfen, den Tag zu strukturieren. Sie machen Beschäftigungsangebote, die auf Menschen mit Demenz zugeschnitten sind – das ist wichtig, denn man sollte sowohl Überforderung wie auch Langeweile vermeiden. Therapien wie beispielsweise Ergotherapie oder Physiotherapie kann der Arzt bei Demenz verordnen – übrigens auch als Hausbesuch. Ein strukturierter Tagesablauf mit regelmäßigen Aktivitäten kann das Risiko von Verhaltenssymptomen senken. Und woran man immer denken sollte: Hinter Verhaltenssymptomen wie Unruhe und Aggression können auch körperliche Beschwerden stecken, etwa Schmerzen. Das sollte man mit dem Hausarzt abklären.

*Das Projekt "Decide", das vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege gefördert wird, will den Einsatz von beruhigenden Psychopharmaka bei Menschen mit Demenz reduzieren. Mehr unter: www.decide.bayern

Hilfe für Helfer: Wo Angehörige von Menschen mit Demenz Unterstützung bekommen

  • Alzheimer-Telefon der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft. Hilfe und Beratung bundesweit unter 030/2 59 37 95 14
  • Kostenlose psychologische Beratung für pflegende Angehörige bei Stress und seelischer Belastung: pflegen-und-leben.de
  • Beratungsstelle für seltene Demenzerkrankungen (zum Beispiel Frontotemporale Demenz oder Demenz in jungem Lebensalter). Kontakt unter Tel. 089/8 18 02 09 30 (bundesweit)
  • Ambulante Pflegedienste und Tagespflegestätten in der Nähe:
    pflegelotse.de
  • Adressen von Pflege- und Demenzberatungsstellen unter: zqp.de/beratung-pflege/