Sehnervenentzündung (Optikusneuritis)
Eine Entzündung des Sehnervs heißt Optikusneuritis. Sie kann unterschiedliche Ursachen haben. Im typischen Fall macht sich die Sehnervenentzündung durch Sehprobleme auf einem Auge und Schmerzen bei Augenbewegungen bemerkbar. Am häufigsten erkranken Menschen zwischen dem 18. und dem 45. Lebensjahr. Eine Sehnervenentzündung kann im Zusammenhang mit einer Multiplen Sklerose (MS) auftreten.
Welche Beschwerden weisen auf eine Sehnervenentzündung hin?
Bei einem typischen Verlauf verschlechtert sich das Sehvermögen auf einem Auge über Stunden bis wenige Tage. Die Betroffenen sehen mit dem Auge nicht mehr scharf oder bemerken Ausfälle in ihrem Blickfeld. Augenbewegungen sind schmerzhaft, auch leichter Druck auf den Augapfel kann weh tun.
Innerhalb von zwei bis vier Wochen bessern sich die Symptome normalerweise wieder. Meistens bleibt eine gewisse Beeinträchtigung der Kontrastempfindlichkeit, des Farbsehens sowie des räumlichen Sehens zurück.
Vor allem nach wiederkehrenden Sehnervenentzündungen kann der Sehnerv verkümmern. In wenigen Fällen kommt es zu einer chronischen Entzündung mit einem langsam fortschreitenden Verlust der Sehfähigkeit.
Unter bestimmten Umständen spricht man von einer atypischen Sehnervenentzündung:
- Der Patient ist jünger als 18 oder älter als 45 Jahre
- Die Sehverschlechterung ist schmerzlos
- Die Sehnervenentzündung betrifft beide Augen
- Die Beschwerden halten an ohne spontane Besserung.
Ebenso untypisch ist es, wenn der Arzt von Beginn an Veränderungen an der sogenannten Papille feststellen kann (siehe Abschnitt Diagnose). Die Papille ist die Stelle am Augenhintergrund, an der der Sehnerv in die Netzhaut eintritt.
Wichtig: Sehstörungen oder Augenschmerzen können zahlreiche Ursachen haben. Nicht immer ist eine Sehnervenentzündung schuld. Deshalb ist es ratsam, rasch einen Arzt aufzusuchen.
Welche Untersuchungen führen zur Diagnose?
Meistens ist der Augenarzt der erste Ansprechpartner. Er führt dann eine umfassende Untersuchung der Sehschärfe, der Pupillenreaktion, der vorderen und hinteren Augenabschnitte (mittels Spaltlampenuntersuchung) sowie des Gesichtsfeldes durch.
Wegweisend ist die Überprüfung der Pupillenreaktion: Fällt helles Licht durch eine Pupille, leitet der Sehnerv diese Information normalerweise rasch an das Gehirn weiter. Das erteilt den Pupillen beider Augen quasi den Befehl, sich sofort zu verengen (Pupillenreflex). Diese Reflexbahn überprüft der Arzt, indem er mit einer kleinen Lampe ins Auge leuchtet. Ist nun bei einem Auge der Sehnerv erkrankt, gelangt die Information "helles Licht" nicht mehr so gut zum Gehirn. Folge: Beide Pupillen verengen sich nicht ausreichend. Leuchtet der Arzt dagegen mit der Lampe in das gesunde Auge, funktioniert der Regelkreis normal. Beide Pupillen verengen sich wie beim Gesunden.
Dieser sogenannte relative afferente Pupillendefekt ist ein wichtiges Zeichen einer Sehnervenerkrankung. Denn bei vielen anderen Ursachen einer Sehverschlechterung (zum Beispiel beim grauen Star) ist es nicht zu finden. Dieser Befund ist auch deshalb so wichtig, weil es trotz messbarer Sehverschlechterung meistens keine sichtbaren Veränderungen am Augenhintergrund gibt. Unter Medizinern gibt es dazu den Spruch "Der Patient sieht nichts, und der Arzt sieht auch nichts". Nur manchmal ist die Papille geschwollen.
Sind bei einer Sehnervenentzündung weitere Schritte nötig?
Neben der augenärztlichen Untersuchung ist auch die Suche nach Symptomen einer neurologischen Erkrankung wichtig, zum Beispiel Gefühlsstörungen oder Lähmungen. Daneben wird der Arzt nach weiteren Beschwerden wie Fieber, Hautausschlag, Gelenkschmerzen oder Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit fragen, was auf eine zugrundeliegende Allgemeinerkrankungen hindeuten könnte.
Experten empfehlen zusätzlich zumindest eine einmalige MRT-Untersuchung des Gehirns. Damit kann der Arzt das Risiko des Betroffenen für das Auftreten einer Multiple Sklerose genauer abschätzen (siehe Abschnitt "Sehnervenentzündung und Multiple Sklerose" weiter unten).
Eine atypische Sehnervenentzündung kann bei bestimmten rheumatischen Erkrankungen oder Infektionen auftreten (zum Beispiel Lupus erythematodes, Sarkoidose, Borreliose, Syphilis). Daher ist manchmal auch die Untersuchung von Blutproben auf bestimmte Marker rheumatologischer Erkrankungen und Zeichen für bestimmte Infektionen wie eine Borreliose sinnvoll. Meistens tritt die Sehnervenentzündung in diesen Fällen aber erst dann auf, wenn die Grunderkrankung bereits bekannt ist.
Sehnervenentzündung und Multiple Sklerose
Es gibt statistische Zusammenhänge zwischen einer Sehnervenentzündung und einer Multiplen Sklerose (MS). Dazu einige Zahlen:
- Bei 15 bis 20 Prozent aller Betroffenen mit einer MS ist eine Sehnervenentzündung das erste Zeichen der Erkrankung.
- Bei der Hälfte aller Betroffenen mit MS tritt irgendwann im Verlauf eine Sehnervenentzündung auf.
- Nach einer Sehnervenentzündung besteht eine statistische Wahrscheinlichkeit von 38 Prozent, innerhalb der nächsten zehn Jahre eine generalisierte MS zu entwickeln, also eine MS, die verschiedene Körperregionen betrifft.
Mit Hilfe einer MRT-Untersuchung kann man das Risiko etwas genauer eingrenzen. Sind im MRT des Gehirns typische Veränderungen, sogenannte Entmarkungsherde, vorhanden, liegt die Wahrscheinlichkeit, an einer generalisierten MS zu erkranken, bei über 50 Prozent. Fehlen sie, liegt das Erkrankungsrisiko nur bei etwa 20 Prozent.
Wichtig zu wissen: Bei diesen Angaben handelt es sich lediglich um statistische Werte. Auch wer ein erhöhtes Risiko trägt, muss also keinesfalls zwangsläufig an MS erkranken! Für die weitere Behandlung kann es dennoch sinnvoll sein, das (rein rechnerische) Risiko zu kennen.
Welche Therapie ist bei einer Sehnervenentzündung nötig?
Meistens bessert sich eine Sehnervenentzündung innerhalb von zwei bis vier Wochen von selbst. Eine Behandlung mit hochdosiertem Methylprednisolon (Kortison) kann die Erholung des Sehvermögens beschleunigen, beeinflusst das Endergebnis aber nicht. Eine Therapie kann zum Beispiel dann angebracht sein, wenn besondere berufliche Anforderungen an das Sehvermögen bestehen oder der Patient auf dem nicht betroffenen Auge bereits aus anderen Gründen schlecht sieht.
Eine neurologische Betreuung ist in jedem Fall sehr wichtig, denn der Verlauf einer MS lässt sich mit einer ganzen Reihe von Medikamenten günstig beeinflussen. Bei hohem Risiko kann eine solche Therapie bereits nach einer einzigen Optikusneuritis sinnvoll sein. Ziel muss es sein, weitere Schübe möglichst zu verhindern.
Eine Behandlung erscheint auch dann sinnvoll, wenn sie den Verlauf der Grunderkrankung günstig beeinflussen kann. So sollen beispielsweise Patienten mit einem hohen Risiko für eine MS nach einer Behandlung mit bestimmten Wirkstoffen seltener MS-Schübe erleiden als ohne Therapie. Ist eine (atypische) Optikusneuritis Teil einer Sarkoidose erfolgt in der Regel eine niedrig dosierte Dauertherapie mit Kortikosteroiden und Metothrexat. Dies ist aber sehr selten.
Ihr Arzt wird gemeinsam mit Ihnen etscheiden, ob eine Behandlung notwendig ist, und wenn ja mit welchen Wirkstoffen.
Was können Sie sich selbst Gutes tun?
Häufig verschlechtert sich das Sehvermögen bei Anstrengung und Hitze. Deshalb ist es sinnvoll, sich während der akuten Entzündung etwas zu schonen und Hitze (zum Beispiel Saunabesuche) zu vermeiden. Da auch bei recht guter Sehschärfe das räumliche Sehen gestört sein kann, sollten Sie sich erst wieder ans Steuer setzen oder gefährliche Arbeiten aufnehmen, wenn die Entzündung geheilt ist. Ansonsten können Sie selbst nichts zur Heilung beitragen. Lesen oder Bildschirmtätigkeit ist nicht schädlich und somit erlaubt.
Seltene Ursachen für eine Sehnervenentzündung und ihre Behandlung
Seltener kann eine Sehnervenentzündung nach verschiedenen Virusinfekten (Masern, Mumps, Windpocken, Röteln, Keuchhusten, Epstein-Barr-Virus-Infektion) vorkommen. Bei Kindern ist das häufiger der Fall. Ein bis drei Wochen nach dem Infekt kommt es zu einem plötzlichen Sehverlust manchmal auch beider Augen. Oft kann der Augenarzt eine Entzündung der Papille sehen. Meist erholt sich das Sehvermögen ohne Behandlung wieder. Manchmal sind Medikamente (Kortikosteroide und Virostatika) nötig.
Tritt eine Optikusneuritis im Rahmen einer Infektion mit bestimmten Bakterien auf, sind in der Regel Antibiotika notwendig. Beispiele sind eine Entzündung der Nasennebenhöhlen, Katzenkratzkrankheit, Syphilis, Borreliose oder eine bestimmte Form der Hirnhautentzündung, die sogenannte Kryptokokkenmeningitis.
Beratender Experte: Prof. Dr. med. Helmut Wilhelm
Professor Dr. Helmut Wilhelm, Facharzt für Augenheilkunde, Schwerpunkt Neuroophthalmologie, ist Oberarzt an der Klinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Tübingen. Er ist Sprecher der Sektion Neuroophtalmologie der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Pupille, klinische Neuroophthalmologie, und Verkehrsophthalmologie.
Wichtiger Hinweis: Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder –behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen. Die Beantwortung individueller Fragen durch unsere Experten ist leider nicht möglich.