Gratulationen zu einem runden Geburtstag klingen eigentlich anders. In sozialen Netzwerken erzählen junge Frauen von einem "Befreiungsschlag". Erst als sie die Pille absetzten, hätten sie ihren Körper wirklich kennengelernt. Andere berichten von Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Depressionen. Bücher feiern die "Freiheit von der Pille" oder sagen schlicht "Bye, bye". Dass die Antibabypille vor 60 Jahren von Feministinnen wie Alice Schwarzer als "Geschenk Gottes" gefeiert wurde, scheint an ihrem Jubiläum fast vergessen. Ebenso, was die Tabletten einst als Neben- wirkung brachten: eine gesellschaft­liche Revolution.

Die Geschichte der Antibabypille begann mit einem fruchtbaren Zufall. ­Eine sichere Verhütung, deren Einsatz die Frau selbst kontrollieren konnte – für Margaret Sanger ein lang gehegter Traum. Seit vier Jahrzehnten kämpfte die amerikanische Frauenrechtlerin für Geburtenkontrolle und gegen das Leben als Gebärmaschine, zu dem ­viele Frauen ihrer Zeit verurteilt waren. Ihr Ideal? Das wäre eine Tablette, einfach zu schlucken wie Aspirin, erzählte sie 1951 auf einer Dinnerparty dem Wissenschaftler Gregory Pincus. Machbar, meinte dieser.

Die Pille als Anstoß für Veränderungen

Bei Kaninchen und Ratten war es bereits gelungen, den Eisprung mittels künstlicher Hormone zu unterdrücken. Sangers Mitstreiterin, Katha­rine McCormick, finanzierte die Forschung mit insgesamt zwei Millionen Dollar. Neun Jahre später wurde der Traum der beiden Frauen Wirklichkeit: Am 18. August 1960 brachte das Pharmaunternehmen Searle in den USA Enovid als Mittel zur Empfängnisverhütung auf den Markt.

Mit der Antibabypille, wie das neue Medikament bald genannt wurde, begann ein neues Zeitalter. "Die Zähmung der Fruchtbarkeit ist als kulturelle Leistung vergleichbar mit der Zähmung der Feuers", erklärt Dr. Christian Fiala. Kaum etwas habe die Welt so verändert, Rollenbilder verkehrt, Machtstrukturen umgeworfen, so der Gynäkologe, der in Wien ein Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch aufgebaut hat.

Abtreibungen und mühsame Verhütung vor der Pille

Dort wird gezeigt, was Frauen in den Jahrhunderten vor der Pille zu tun bereit waren, um eine Schwangerschaft zu verhindern – von Pessaren aus Krokodilkot bis zu Schaumspülungen mit Coca-Cola. Freilich mit mäßigem Erfolg. "12 bis 15 Schwangerschaften im Leben waren nicht die Ausnahme, es war der Schnitt", sagt Fiala. Viele Frauen starben im Kindbett. Oder bei einer Abtreibung.

Auch um 1960 war Verhütung noch immer eine mühsame Sache. Man kaufte verlegen teure Präservative, hantierte wenig lustfördernd mit Pessaren oder errechnete nach der Kalendermethode die fruchtbaren Tage. All das war nicht nur unpraktisch, sondern unsicher. Die "Pille" änderte alles. Mit ihr hatten Frauen erstmals in der Menschheitsgeschichte ein Mittel, ihre Fruchtbarkeit zuverlässig zu kontrollieren – und damit ihr Leben.

Trotz Gegenwehr die Pille findet einen Weg

In der Bundesrepublik ließ die Revolution allerdings noch etwas auf sich warten. Als das Berliner Pharma­unternehmen Schering am 1. Juni 1961 mit Anovlar die erste deutsche Anti­babypille auf den Markt brachte, geschah das verschämt als Medikament gegen Frauenleiden wie Menstrua­­tionsbeschwerden. Erst als ein Artikel im auflagenstarken Wochenmagazin ➔ Stern die neue Pille als das outete, was sie war, entschloss sich Schering, Apotheker und Ärzte zurückhaltend über die Wirkung zu informieren. Die Angst der Firma, ein Sturm der Entrüstung könnte das neue Präparat vom Markt fegen, war groß.

All das zeigt die Atmosphäre der Zeit", sagt die Historikern Dr. Eva- Maria Silies, die der Geschichte der Pille in Deutschland ihre Doktorarbeit widmete. Tatsächlich formierten sich schon bald Fronten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. "Man fürchtete Sittenverfall und die Entgleisung vor allem der weiblichen Jugend", berichtet Silies. Nicht nur konservative Politiker und katholische Theologen sahen den Untergang des Abendlandes nahen. Im Jahr 1964 unterzeichneten fast 200 Ärzte die sogenannte Ulmer Denkschrift, die vor den verheerenden Folgen der folgenlosen Liebe warnte. 1968 erklärte Papst Paul VI. in der berühmt gewordenen Enzyklika Humanae vitae sein unerbittliches "Nein" zur Pille – und zu allen anderen Verhütungsmitteln. Den Segen dazu verweigert der Stuhl Petri selbst Eheleuten übrigens bis heute.

Aufhalten ließ sich der Erfolg der neuen Verhütungsmethode nicht. "Die Verschreibung lief zwar strikt über Ärzte. Und viele hatten konkrete Vorstellungen, wer die Pille bekommen sollte", sagt Silies: Verheira­tete, die bereits Kinder haben. Doch die ­Frauen fanden Wege. Ledige besorgten sich das Arzneimittel oft über Verwandte, Freunde oder auf dem Schwarzmarkt. Im Jahr 1969 nahmen gut zwei Millionen, also etwa 16 Prozent, der deutschen Frauen im gebärfähigen Alter die Antibabypille. Bis Mitte der 70er stieg der Anteil auf etwa ein Drittel.

Unterstützerin des gesellschaftlichen Wandels

Gleichzeitig wurde möglich, was vorher undenkbar schien: Auf den Titelseiten des Kultmagazins Twen präsentierten nackte Frauen lasziv Themen zu Sexualität. In Berlin praktizierten die Mitglieder der Kommune 1 öffentlichkeitswirksam die freie Liebe. "Viel wurde erstmals sagbar und zeigbar", sagt Silies. Babys waren nur selten das Ergebnis der neuen Freizügigkeit.

Seit Mitte der 60er brachen die Geburtenraten ein, man sprach vom ­­"Pillenknick". Doch begann die Kurve bereits zu kippen, als noch wenige Frauen das Verhütungsmittel nahmen. "Die Pille war nur ein Faktor, der zu der Entwicklung beitrug", sagt Silies. Das Ideal der Hausfrau und Mutter war bereits vorher ins Wanken geraten, die Gesellschaft befand sich im Wandel. Durch die Pille bekam dieser mächtig Rückenwind.

Als klar wurde, dass das neue Verhütungsmittel die meisten Frauen doch nicht in männermordende Vamps verwandelt hatte, ebbten die mora­lischen Bedenken langsam ab. Wellen heftiger Kritik gab es trotzdem. Dahinter steckten teils Sorgen, die Pil­len­nutzerinnen noch heute umtreiben, etwa die Angst vor Nebenwirkungen und Langzeitschäden.

Die Schattenseiten der Revolution

Als die Antibabypille auf den Markt kam, wurde gerade der Contergan-Skandal aufgedeckt. Auch waren die ersten Verhütungspräparate Hormonbomben. "Moderne Pillen enthalten eine viel geringere Dosis", sagt Dr. Melanie Henes, Leiterin der Hormon- und Kinderwunschsprechstunde am Uniklinikum Tübingen. Damals steckten in einer einzigen Tablette teils so viele Hormone wie heute in einer ganzen Monatspackung. Entsprechend stärker waren die Nebenwirkungen. Dabei zählten Übelkeit und Gewichtszunahme zu den eher harmlosen. Bald hörte man aus den USA Berichte über gefährliche Blutgerinnsel. Hinzu kam die Angst vor Krebs. Immer wieder gab es Wellen teils hysterischer Medienberichte – und Wellen, in denen Frauen das Verhütungsmittel absetzten. "Das begleitet die Pille von Anfang an", sagt Historikerin Silies. Anfang der 70er-Jahre kam Gegenwind zudem von unerwarteter Seite. Hatten Mitglieder der Frauenbewegung die Pille anfangs als große Befreierin gefeiert, waren es viele nun leid, die Last der Lust alleine zu tragen. Tatsächlich beschränkte sich der männliche Anteil oft auf die Frage: "Du nimmst doch die Pille?" Und welchen Grund sollte es für die Frau, nachdem das Schwangerschaftsrisiko gebannt war, noch geben, sich zu verweigern? Viele fühlten sich weniger sexuell befreit als sexuell ausgebeutet. Sie setzten die Pille ab und taten Kritik an der Pharmaindustrie kund. "Das war auch ein Lernprozess innerhalb der Frauenbewegung", so Silies. Das Problem: Eine zuverlässige Alterna­tive war nicht in Sicht.

Lifestyle Produkt Pille und ihre Gefahren

Heute, 60 Jahre nach dem Befreiungsschlag, verhütet noch immer fast die Hälfte der sexuell aktiven Frauen mit der Pille. Neben der Hormonspirale und der Sterilisation gilt sie nach wie vor als das sicherste Verhütungsmittel. Doch gibt es eine neue Welle der Pillenskepsis. Nach einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheit­liche Aufklärung hat die Zahl der Nutzerinnen in jüngster Zeit spürbar abgenommen, vor allem unter jungen Frauen. Die Kritik trifft erneut die Pharmaindustrie. Sie hatte die Pille zunehmend als Lifestyle-Produkt ➔ mit "Feel-Good-Faktor" und "Figur-­Bonus" vermarktet, Schminkspiegel inklusive – bis die Realität sie hart einholte. Gerade die Mittel der sogenannten 3. und 4. Generation, die als sehr gut verträglich galten, zeigten ein erhöhtes Risiko für Thrombosen, gefährliche Blutgerinnsel in Gefäßen.

Das Risiko für eine Throm­bose ist auch hier gering", sagt Henes – und weitaus niedriger als bei den Pillen der Anfangszeit. Bildet sich ein Gerinnsel, können die Folgen aber tödlich sein. In den USA entschloss sich der Pharmakonzern Bayer zu einer außergerichtlichen Einigung und zahlte betroffenen Frauen ein Schmerzensgeld von insgesamt zwei Milliarden Dollar. In Deutschland sind die Klagen bislang gescheitert.

Aufklärung zu alternativen Verhütungsmitteln ist unerlässlich

Die Folgen aber sind spürbar. Frauenarzt Fiala spricht von einem Verhütungs-Paradoxon. Noch nie gab es so gute Möglichkeiten, eine Schwangerschaft zu verhindern – die Zahl der Abtreibungen aber steigt teils sogar an. "Ich sehe die Konsequenzen in meiner Praxis", berichtet Fiala, der auch Schwangerschaftsabbrüche vornimmt.

Schuld an der Entwicklung sind für ihn nicht nur die Anti-Pillen-Berichte in den Medien. "Die Erinnerung, was die natürliche Fruchtbarkeit bedeutet, ist verloren gegangen." Ersetzt werde sie durch eine Projektion der eigenen Fantasien und Wünsche, eine Idealisierung von Natürlichkeit. "Durch natür­­liche Verhütung ist man aber schnell mal natürlich schwanger", so Fiala. Auch Henes merkt, dass vor allem junge Frauen gegenüber der Pille kritischer sind als noch vor einigen Jahren. Über Alternativen zu hormoneller Verhütung aufzuklären hält die Medizinerin für unerlässlich. "Manche Jugendliche kommen mit einer Verhütungs-App und Kondomen gut klar." Auch eine Hormonspirale mit Gestagen kann schon für junge Mädchen eine Alternative darstellen.

Unterschiedliche Pillen für unterschiedliche Frauen

Doch hält Henes nichts davon, die Pille zu verteufeln. "Sie ist auch heute noch ein hervorragendes Medikament." Nicht nur bei Endometriose oder starker Akne – sondern nach wie vor zur Verhütung. Auch macht es die Vielzahl der Präparate möglich, die richtige Pille für die jeweilige Frau zu wählen. Minipillen etwa, die nur Gestagen enthalten, erhöhen die Thrombosegefahr kaum. Auch die klassischen Kombipillen mit Östrogen und Gestagen gibt es in unterschiedlicher Zusammensetzung mit verschiedenen Zusatzeffekten.

Nach 60 Jahren hormoneller Verhütung der Frau: Wo bleibt eigentlich die Pille für den Mann? Bereits im Jahr 1977 berichtete das Nachrichtenmagazin Spiegel, man sei nur noch zwei bis drei Jahre von der Markteinführung entfernt. Heute warten Frauen – und Männer – noch immer darauf. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation 2011 eine große Studie mit verhütender Hormoninjektion gestoppt hat, scheint die Antibabypille oder -spritze für den Mann erneut in die Ferne gerückt. Die Gründe für den Abbruch brachten viele Frauen ins Grübeln: Die Männer klagten über Nebenwirkungen wie Hautpro­bleme, Stimmungsschwankungen und Gewichtszunahme.

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