Wenn die Figur nicht der Norm entspricht
Dicke haben schrecklich dicke Beine, Dicke ham'n Doppelkinn, Dicke schwitzen wie die Schweine, Stopfen, fressen in sich rin", sang Marius Müller-Western- hagen 1978. Indem er Beleidigungen, Vorurteile und Klischees aneinanderkettete, wollte er angeblich auf Diskriminierung aufmerksam machen und der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Genützt hat es wenig. Eine negative Haltung gegenüber Dicken ist auch 40 Jahre später noch Main stream. Laut der repräsentativen Forsa-Umfrage "XXL-Report" im Auftrag der DAK finden 71 Prozent der Deutschen stark Übergewichtige unästhetisch, 15 Prozent meiden bewusst den Kontakt. Und wie ein Experiment der Universität Tübingen zeigte, haben selbst psychologisch geschulte Personaler Vorurteile gegenüber adipösen Bewerbern.
Wird jemand wegen seines Aussehens diskriminiert oder verbal angegriffen, spricht man von Bodyshaming ("Körperbeschämung"). "Der Begriff ist neu, Mobbing aufgrund von Äußerlichkeiten gab es aber schon immer", sagt Professorin Martina de Zwaan, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Menschheitsgeschichtlich sicherte die Angst vor dem Fremden das Überleben. In unserer modernen Welt hat sie keinen entscheidenden Nutzen mehr, dennoch fühlen wir uns unter vertraut wirkenden Menschen wohler: Eine Studie der Wilfrid Laurier University im Journal of Personality and Social Psychology zeigte, dass Personen im öffentlichen Raum unbewusst die Nähe ähnlicher Menschen suchen.
Drei Zahlen zum Thema Bodyshaming
Anonymität als Risikofaktor
Allerdings es ist ein großer Unterschied, ob man jemanden aufgrund seines Erscheinungsbildes unbewusst meidet oder aktiv mobbt. Doch was lässt Menschen zu "Bodyshamern" werden? "Zu dieser Art von aggressivem Verhalten kann es kommen, wenn die Kompetenz im Umgang mit Neuem fehlt", erklärt Katharina Koller vom Institut für Jugendkulturforschung in Wien. "Und wenn gleichzeitig persönlichkeitspsychologisch eine gewisse Unflexibilität gegeben ist." Kulturelle Werte und Charaktereigenschaften wie Risikobereitschaft oder ein geringes Selbstwertgefühl spielen ebenfalls eine Rolle. Vor allem aber gilt: Je anonymer die Situation und je geringer die erwartbaren Konsequenzen, desto wahrscheinlicher sind aggressive Äußerungen.
Während verbale Attacken auf Menschen mit Migrationshintergrund oder Behinderungen mittlerweile gesellschaftlich verpönt sind, wird das sogenannte Fatshaming, also das Mobben von Übergewichtigen, weiterhin akzeptiert. "Dass schwere Adipositas eine Erkrankung ist und vielfältige Ursachen hat, wird ignoriert", sagt de Zwaan. "Egal, ob jemand sich selbst oder andere aufgrund des Körpergewichts diskriminiert: Die landläufige Meinung ist, Dicke seien selbst schuld an ihrem Aussehen." Die Ergebnisse des "XXL-Reports" bestätigen: Die Mehrheit der Deutschen findet, Über- gewichtige seien schlicht "zu faul" und "zu undiszipliniert" zum Abnehmen. "Leistung, Selbstkontrolle und Fitness gelten in unserer Gesellschaft als wichtigste Werte – das spiegelt sich in den Schönheitsidealen wider", erklärt Katharina Koller, Co-Autorin der Studie Bodyshaming und Social Media. Während es in Entwicklungsländern ein Zeichen für Wohlstand ist, etwas fülliger zu sein, gilt bei uns erst derjenige als vollwertiger Teil der Gesellschaft, der dem Überangebot an Nahrung erfolgreich widersteht.
Soziale Medien setzen Maßstäbe
Als besonders empfänglich für Schönheitsideale gelten Teenager. Da sie die sozialen Medien vor allem zur Selbstdarstellung nutzen, werden Facebook, Instagram und Youtube zu einem entscheidenden Multiplikator bestehender Schönheitsideale. Ob wir etwas ästhetisch ansprechend finden oder nicht, wird nämlich vor allem durch Erfahrungen bestimmt, wie auch eine Zwillingsstudie der Harvard Medical School im Magazin Current Biology belegte: Wer ständig dünne, durchtrainierte Menschen mit makelloser Haut sieht, wird entsprechend in seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung beeinflusst.
Verstärkend kommt hinzu, dass die jungen Social-Media-Nutzer es gewohnt sind, permanent bewertet zu werden, wie die Studie Bodyshaming und Social Media zeigt: Wer ein Bikini- oder UngeschminktSelfie postet – weil es für solche Bilder in der Regel besonders viel Beifall gibt –, nimmt abwertende Kommentare bewusst in Kauf. Folgenlos bleibt das Mobbing trotzdem nicht: 39 Prozent der befragten 15- bis 19-jährigen Mädchen fühlten sich durch negatives Feedback gekränkt, 22 Prozent waren danach mit ihrem Aussehen unzufriedener als zuvor, und 11 Prozent änderten sogar ihr Essverhalten.
Positive Gegenbewegung
Sogenannte "Body Positivity Activists" – meist Menschen, die selbst auf unterschiedliche Weise von den gängigen Schönheitsidealen abweichen – haben dieser Entwicklung den Kampf angesagt und posten unter Hashtags wie #bodypositive Selfies und Erfahrungen mit Bodyshaming.
Prominente wie das Model Winnie Harlow, das unter der Weißfleckenkrankheit Vitiligo leidet, oder die adipöse Gossip-Sängerin Beth Ditto sind in vorderster Reihe dabei. "In meiner Kindheit hätte ich mir gewünscht, auch mal einen Körper wie meinen in den Medien zu sehen", sagte Ditto in einem Interview mit dem Online-Magazin vip.de. "Die Body-positivity-Bewegung ermöglicht be- sonders jungen Frauen ein erweitertes Identifikationsmodell und setzt kranken Mager-Trends etwas entgegen", lobt Katharina Koller. Allerdings werde hier eine andere Art von Druck erzeugt: "Sich nicht darum kümmern zu dürfen, was andere von einem denken, kann sehr schwierig sein."
Dass unter dem Stichwort "body-positive" auch Fotos von sehr hübschen Menschen kursieren, die sich ungeschminkt oder mit kaum sichtbaren "Makeln" präsentieren, führt die Ursprungsidee ebenfalls ein Stück weit ad absurdum.
Vertrautes Schubladendenken
Zwar liegt es in der Natur des Menschen, Unbekannte über ihr Aussehen in eine bestimmte Schublade einzusortieren – Stereotype entlasten das Gehirn und ermöglichen eine effiziente Informationsverarbeitung. Aber ist es trotzdem möglich, die innere Stimme abzuschalten, wenn sie allem Wissen zum Trotz mal wieder Bodyshaming betreibt? "Dass Sie hinschauen und sich Ihren Teil denken, wenn beispielsweise ein sehr dicker Mensch vor Ihnen steht, können Sie nicht verhindern – aber Sie können Ihre Vorurteile hinterfragen", so Koller. Das erfordert einen kritischen Umgang mit sich selbst und dass man seine Stereo- type-Komfortzone verlässt.
Marius Müller-Westernhagen spielt seinen Song "Dicke" heute übrigens nicht mehr auf Konzerten und würde ihn auch so nicht mehr veröffentlichen, erklärte er in einem Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen: "Ausgerechnet die Leute, denen ich den Spiegel vorhalten wollte, haben es nicht kapiert."