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Was haben Kapuzinerkresse, Quecksilber und Coronaviren gemeinsam? Alles völlig natürlich! Nicht nur Heilkräuter, auch starke Gifte und gefürchtete Krankheitserreger stammen direkt aus dem Schoß von Mutter Natur. Dennoch hat kaum etwas einen positiveren Klang als das schlichte Wörtchen „natürlich“.

Professor Michael Siegrist ist Psychologe und forscht an der Technischen Hochschule in Zürich über unsere nicht immer gut begründbare Vorliebe für das Natürliche. Er tut das zum Beispiel mithilfe von Schokoladenmousse: In einem Versuch ließ der Forscher Testpersonen die gleiche Süßspeise kosten – mit einem feinen Unterschied. Die einen glaubten, darin sei natürliches Vanillearoma enthalten, die anderen, es sei künstlich. Deutlich bessere Geschmacksnoten bekam – natürlich! – die Mousse mit dem Aroma aus der Natur.

Romantische Verklärung des Natürlichen

„Sobald etwas natürlich ist, erscheint es uns gut“, sagt Siegrist. „Wir verbinden es mit gesünder, umweltfreundlicher und sogar besser im Geschmack.“ Eine romantische Verklärung, die sich laut dem Psychologen im deutschsprachigen Raum besonders stark zeigt. Und die wir uns erst leisten können, seit wir die Gefahren der Natur dank Wissenschaft und Technik größtenteils gebannt haben.

Besonders deutlich zeigt sich unsere Vorliebe für das Natürliche, wenn es um Gesundheit und Krankheit geht. Fast jede und jeder zweite Deutsche hat schon einmal ein naturheilkundliches Verfahren ausprobiert. Auch am Apotheken-Tresen fällt oft die Frage: „Gibt’s da nicht was Natürliches?“ Doch wann ist Medizin eigentlich natürlich – und wie wirksam sind diese Methoden?

Von den Anfängen der Naturheilkunde

Am Anfang der modernen Naturheilkunde war das Wasser. Und einige gebrochene Rippen. Als der junge Bauernsohn Vinzenz Prießnitz im Jahre 1816 nach einem Sturz vom Pferdewagen schwer verletzt wurde, gab der herbeigerufene Arzt ihn verloren. Doch Prießnitz, damals gerade 17 Jahre alt, half sich selbst. In den Wäldern seiner schlesischen Heimat hatte er einmal ein verwundetes Reh beobachtet, das sich offenbar an einer kalten Quelle heilte. Der junge Mann tauchte Tücher in kaltes Wasser, wickelte sie eng anliegend um seinen Brustkorb – und wurde gesund. Seine wundersame Selbstheilung sollte Geschichte schreiben.

„Es war der Anfang einer geistigen Strömung, die später in der Naturheilbewegung ihren aufrüttelnden, lebensvollen Ausdruck fand“, erklärt der Stuttgarter Medizinhistoriker Professor Robert Jütte.

Durch die Industrialisierung entwickelte sich eine Sehnsucht nach Natur

Der Ruf „Zurück zur Natur“ lag Mitte des 19. Jahrhunderts in der Luft. Denn diese wurde immer stickiger. In schnell wachsenden Städten lebten Arbeiterfamilien in engen, feuchten Wohnungen und atmeten die von Schornsteinen verpestete Luft. Die Kinder litten an Rachitis und Diphtherie, ihre Eltern an der Schwindsucht, wie man damals die Tuberkulose nannte.

Doch auch wer komfortabel lebte, konnte mit den Meilenstiefeln der Industriellen Revolution kaum mithalten. „Viele litten an einer neuen Krankheit, der Neurasthenie“, erzählt Jütte. Betroffene waren reizbar, erschöpft, ängstlich: Fortschritts-Burn-out. Eine soziale Bewegung wurde geboren, die sich den Namen „Lebensreform“ gab. Ziel war die Rückkehr zu einer „naturgemäßen Lebensweise“. Manche trieben es auf die Spitze, lebten in Kommunen von selbst gezogener Pflanzenkost, gärtnerten und tanzten nackt unter freiem Himmel. Und holten sich dabei, wie der Schriftsteller Hermann Hesse, schon mal üblen Sonnenbrand.

Boom an Wasserheilanstalten, Licht- und Luftkuren

Auch in der Heilkunde trat der Zeitgeist eine nie da gewesene Welle der Natürlichkeit los. Um 1850 gab es in Deutschland bereits mehr als 70 Wasserheilanstalten, deren Leiter in der inzwischen weltberühmten Gräfenberger Kuranlage von Vinzenz Prießnitz gelernt hatten. Bald keimte an vielen Orten Konkurrenz auf: In seinem „Jungborn“ verordnete der gelernte Buchhändler Adolf Just Licht- und Luftkuren.

Der Müsli-Erfinder Max Oskar Bircher-Benner servierte in seinem Züricher Sanatorium „Lebendige Kraft“ selbst dem König von Siam Rohkost. Im bayerischen Bad Wörishofen kurierte Pfarrer Sebastian Kneipp wie Prießnitz mit Wasser – und führte zudem die Kräutermedizin in die Naturheilkunde ein. „Man warf ihm vor, er hätte die Naturmedizin verheublumt und verbrennnesselt“, erzählt Jütte.

Die Ärzteschaft reagierte verhalten, oft sogar feindlich. Den Erfolg konnte das nicht aufhalten. Laienvereine gründeten sich, die die neuen Ideen verbreiteten. Gegenüber der sogenannten Schulmedizin wuchs Anfang des 20. Jahrhunderts indes die Skepsis, trotz wegweisender Neuerungen wie der Entdeckung des Röntgens. „Therapeutisch vermochte die Medizin damals aber noch recht wenig“, sagt Jütte. Die Vorwürfe klingen bekannt. Beklagt wurde der Verlust der Ganzheitlichkeit.

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Steile Karriere der Homöopathie und Naturheilkunde im Dritten Reich

Der ärztliche Blick, so hieß es, richte sich nur noch auf kranke Organe und Zellen. Von einer „Entseelung der Heilkunde“ war die Rede. „Die Ärzte beklagten, dass die sogenannten Kurpfuscher immer mehr Zulauf bekamen“, berichtet Pharmazeutin Dr. Roswitha Haug, die sich in ihrer Doktorarbeit einer gern verdrängten Epoche von Homöopathie und Naturheilkunde gewidmet hat: ihrer kurzen, aber steilen Karriere im Dritten Reich.

„Die Nationalsozialisten haben naturheilkundliche Verfahren von Anfang an gefördert“, berichtet Haug. Der Preis war hoch: die bedingungslose Unterwerfung unter die Blut-und-Boden-Ideologie des Dritten Reichs. „Im Blick stand einzig die Gesundheit des Volkskörpers, bestehend aus rassenreinen Arbeitern und Soldaten und fortpflanzungsfähigen Frauen, die dem Staat solche gebären“, schildert Haug. Der „verjudeten“ Schulmedizin wollte man die „Neue deutsche Heilkunde“ entgegensetzen. Unter deren Dach sollten alle Außenseitermethoden vereint werden, auch Therapien, die ursprünglich nicht zur Naturheilkunde gehörten wie die Homöopathie und die Behandlung mit Schüßlersalzen. Aus den Kreisen der lange diffamierten Naturheilkunde regnete es begeisterte Reaktionen.

Hitler merkte schließlich, dass man mit Wasserkuren und Globuli keinen Krieg gewinnt.

Der Aufschwung war auch in den ärztlichen und pharmazeutischen Zeitschriften sichtbar. „Die Zahl der Fortbildungen in Homöopathie und Phytotherapie nahm deutlich zu“, so Haug. In der Ausbildung lernten Apotheker jetzt, wie man Globuli herstellt. Doch kamen die Methoden der Naturheilkunde auch auf den Prüfstand. Zum Beispiel in grauenerregenden Menschenversuchen in Konzentrationslagern. So versuchte man in Dachau, Malaria und Blutvergiftungen mit Schüßlersalzen zu kurieren. Ohne Erfolg.

In Buchenwald testete man die Wirkung des pflanzlichen Mittels Echinacea an schmerzhaften Phosphorverbrennungen. Untersuchungen wurden auch in Kliniken durchgeführt. Geprüft wurde etwa, ob sich homöopathische Globuli gegenüber Placebos, wirkstofflosen Scheinmedikamenten, bewähren. Und das bei schweren Leiden wie Lungenentzündungen und Geschlechtskrankheiten. Die Ergebnisse waren auch hier katastrophal. „Hitler merkte schließlich, dass man mit Wasserkuren und Globuli keinen Krieg gewinnt“, so Jütte.

Naturheilkunde heute so beliebt wie nie zuvor

Im Nachkriegsdeutschland wurde es zunächst still um Naturheilkunde und Homöopathie. In der Epoche des Wirtschaftswunders herrschte erneut Fortschrittseuphorie, auch in der wissenschaftlichen Medizin, die immer mehr therapeutische Erfolge vorweisen konnte. Bis in den 1970er Jahren die Folgen der Umweltverschmutzung erneut eine Sehnsucht nach dem natürlichen Leben aufkommen ließen. Mitglieder der Ökobewegung kauften ihr Vollkorngetreide im Reformhaus – und setzten bei Krankheiten wieder gern auf natürliche Therapien.

Und heute? Die Medizin kann inzwischen auf ein riesiges Repertoire an wirksamen Behandlungen zurückgreifen. Die Naturheilkunde aber ist beliebt wie kaum je zuvor. Einzug gehalten haben ihre Methoden nicht nur in vielen Arztpraxen – sondern auch an einigen Universitäten. Dr. Barbara Koch ist stellvertretende Leiterin der Ambulanz für Naturheilkunde an der renommierten Berliner Charité.

Viele Patientinnen und Patienten, die hier Hilfe suchen, leiden an chronischen Erkrankungen, an Schmerzen, Magen-Darm-Problemen, Entzündungen wie Rheuma oder Stoffwechselstörungen wie Diabetes. Die herkömmliche Medizin kann hier oft nur die Symptome lindern. Auch die Naturmedizin hat keine Wundermittel zu bieten. Doch hilft sie Betroffenen auf andere Art, mit ihrer Erkrankung zurechtzukommen.

Mehr Studien nötig: „Die Naturmedizin auf wissenschaftliche Beine stellen“

„Naturheilkunde heißt: Was kann ich selbst tun, um Einfluss auf meine Gesundheit, auf mein Leben, auch meine Umwelt zu nehmen?“, sagt Koch. Dies geschieht mit Methoden, die ihre Wirksamkeit zum Teil durchaus in Studien zeigen konnten. „Wir versuchen hier, die Naturmedizin auf wissenschaftliche Beine zu stellen“, berichtet die Internistin. So stehen die positiven Effekte von Bewegung und Ernährung, etwa von pflanzlicher Kost und Fastenkuren, heute außer Frage.

Dr. Barbara Koch ist Oberärztin an der Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin

Dr. Barbara Koch ist Oberärztin an der Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin

Die sogenannte Mind-Body-Medizin, die über Psyche und Körper heilsam auf den gesamten Organismus zu wirken versucht, hat ebenfalls nachweis­bare Effekte auf die Lebensqualität. Auf den Prüfstand gestellt werden zudem traditionelle Methoden aus Fernost wie Yoga, Ayurveda und die Akupunktur. Auch hier gibt es einige positive Ergebnisse.

Doch Naturmedizin ist noch mehr. Wenn Koch über ihre Arbeit spricht, benutzt sie gerne Wörter wie „wir“ und „gemeinsam“. „Das Gespräch ist sehr wichtig“, sagt sie. „Es geht darum, den Menschen zu verstehen, ihn dort abzuholen, wo er steht.“ Auch Zuwendung ist Medizin – wie übrigens wissenschaftliche Studien belegen. In Konkurrenz zur herkömmlichen Medizin sieht sich die Expertin nicht. „Naturheilkunde ist keine Alternativmedizin“, sagt sie. Ihr Ziel wäre es, dass naturheilkundliche Elemente in jede Behandlung einfließen.

Vorsicht vor „Kurpfuschern“

Außerhalb der Universitäten geht es in Sachen Naturheilkunde deutlich bunter zu. Angeboten werden Infusionen mit hoch dosierten Vitaminen und ominöse Eigenbluttherapien mit UV-Licht- Bestrahlung. „Mit der ursprünglichen Idee von Naturheilkunde hat das nichts zu tun“, sagt Jütte. Selbst die ureigensten Methoden der Schulmedizin von einst – wie etwa das Schröpfen – firmieren heute unter dem Label „Naturheilkunde“. Dass sie wirken, haben viele dieser Methoden bislang nicht zeigen können.

Für Hilfesuchende ist oft schwer zu erkennen, ob sie ihrer Gesundheit etwas Gutes tun oder auf einen „Kurpfuscher“ von heute hereinfallen. Denn auch bei der Naturheilkunde verhält es sich wie bei dem Wörtchen „natürlich“. Heilsam oder sogar schädlich? Um das zu erkennen, reicht es nicht, dem Wohlklang eines Wortes zu vertrauen. Wichtig sind fundierte Informationen und ein immer kritischer Blick. Auch in die Geschichte.

Heilen mit der Natur

Ob Halsweh oder Verstopfung: Pflanzliche Arzneien sind bei vielen Beschwerden eine gute Wahl und gehören daher unbedingt in die Hausapotheke:

  • Arnika: Helfer bei kleinen Verletzungen. Als Salbe oder Tinktur lindert Arnika Schmerzen und Schwellungen bei Verstauchungen und Prellungen. Nur auf unverletzter Haut anwenden.
  • Baldrian: Wirkt beruhigend und ist daher bei Prüfungsangst sowie als Einschlafhilfe zu empfehlen.
  • Bittere Schleifenblume: Lindert als Bestandteil von Kombipräparaten Beschwerden wie Völlegefühl, Blähungen und Reizdarmsymptome.
  • Cayennepfeffer (Chili): Regt die Durchblutung in der Haut an. Lindert als Salbe Muskelschmerzen wie Verspannungen und wird zudem als Pfalster von Ärztinnen und Ärzten bei Nervenschmerzen eingesetzt, etwa bei Gürtelrose oder Polyneuropathie.
  • Efeu: Als Hustensaft oder Tee löst Efeuextrakt festsitzenden Schleim aus den Bronchien und lindert so Husten. Wilden Efeu nicht selbst sammeln. Die Pflanze ist giftig.
  • Kamille: Lindert leichte Entzündungen. Zu empfehlen bei Problemen wie Blähungen, Halsschmerzen und entzündetem Zahnfleisch. Äußerlich und innerlich anwendbar.
  • Lavendel: Gut für Schlaf und Psyche. Studien zufolge wirkt das Öl beruhigend, schlaffördernd und eventuell auch angstlösend.
  • Leinsamen: Enthält Schleimstoffe, die Wasser binden. Zu empfehlen bei träger Verdauung und Verstopfung.
  • Thymian: Wirkt gegen Bakterien und entspannt die Muskulatur in den Bronchien. Zu empfehlen bei Erkältungen und Husten, besonders in der Kombination mit Schlüsselblume.

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Quellen:

  • Wort & Bild Verlag: Umfrage: 46 Prozent haben alternative Heilmethoden ausprobiert. Online: https://www.presseportal.de/... (Abgerufen am 01.02.2023)
  • Esch T: Der Nutzen von Selbstheilungspotenzialen in der professionellen Gesundheitsfürsorge am Beispiel der Mind-Body-Medizin. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz: https://link.springer.com/... (Abgerufen am 01.02.2023)
  • Immanuel Krankenhaus Berlin. Naturheilkunde: Abgeschlossene Studien. Online: https://naturheilkunde.immanuel.de/... (Abgerufen am 01.02.2023)
  • Haug R: Die Auswirkungen der NS-Doktrin auf Homöopathie und Phytotherapie, eine vergleichende Analyse von einer medizinischen und zwei pharmazeutischen Zeitschriften, Dissertation. Hochschulschriften: https://leopard.tu-braunschweig.de/... (Abgerufen am 01.02.2023)
  • Donner F: Der Donner Bericht, Bemerkungen zu der Überprüfung der Homöopathie durch das Reichsgesundheitsamt 1936 bis 1939. Online: https://www.kwakzalverij.nl/... (Abgerufen am 01.02.2023)
  • Goddemeier C.: Geschichte der Medizin: Erfinder des Stethoskops. Deutsches Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/... (Abgerufen am 13.09.2022)