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Eine beginnende Blasenentzündung, ein Schnupfen oder gelegentliche Magenbeschwerden: Bei solchen Alltagsbeschwerden verlassen sich viele Menschen auf die Heilkräfte von Kräutern, Wurzeln, Blättern, Blüten. Doch rezeptfreie Medikamente mit pflanzlichen Inhaltsstoffen gibt es auch für schwerwiegendere Erkrankungen – etwa Johanniskraut bei leichter bis mittelschwerer Depression oder Ginkgo-Präparate zur Anwendung bei leichter Demenz.

Die Bandbreite der sogenannten Phytotherapie ist enorm. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher fragen sich: Wirken alle pflanzlichen Mittel gleich gut?

Unvergleichbare Mischung

Mit einer Antwort auf diese Frage tut sich die Pharmazie bis heute schwer. Der Grund: Weil pflanzliche Arzneimittel (Phytopharmaka) aus Extrakten einer oder mehrerer Heilpflanzen entstehen, enthalten sie ein komplexes Gemisch zahlreicher Inhaltsstoffe. Das unterscheidet sie deutlich von synthetisch hergestellten Präparaten. Diese setzen sich meist nur aus einem oder wenigen Wirkstoffen zusammen.

Inhalts- und Wirkstoffe pflanzlicher Medikamente sind außerdem vom Extraktionsverfahren abhängig. So können aus vergleichbarem pflanzlichem Ausgangsmaterial je nach Auszug verschiedene Mittel entstehen. Die Folge: Pflanzliche und synthetische Arzneien lassen sich nach den Kriterien der evidenzbasierten, auf wissenschaftlichen Belegen beruhenden Medizin nur bedingt vergleichen.

„Bei den Arzneimittelbehörden existieren mehrere Zulassungsverfahren, die solchen Unterschieden Rechnung tragen“, erklärt Professorin Ute Wittstock vom Institut für Pharmazeutische Biologie der Technischen Universität Braunschweig. Dabei bestehen für Pflanzenarzneien zwei Möglichkeiten: Erstens die Zulassung als „pflanzliches Arzneimittel“ für ein bestimmtes Anwendungsgebiet. Das entspricht der sogenannten rationalen Phytotherapie. Zweitens die Registrierung als „traditionelles pflanzliches Arzneimittel“. Letztere müssen in Bezug auf den Wirknachweis weniger hohen Anforderungen genügen als zugelassene Phytopharmaka.

Eine Frage der Zulassung

Damit ein Medikament – gleich welcher Art – eine amtliche Zulassung erhält, prüfen es die Behörden auf drei Punkte: Unbedenklichkeit, pharmazeutische Qualität, Wirksamkeit.

Bei den ersten beiden Kriterien sind die Anforderungen für alle potenziellen Medikamente grundsätzlich gleich. Bei der Wirksamkeit gibt es Unterschiede.

Für ein „rationales“ pflanzliches Arzneimittel muss in Studien mit vielen Teilnehmenden für jedes einzelne Präparat nachgewiesen sein, dass es wirkt. Für ein „traditionelles“ Pflanzenmedikament reichen indirekte Belege für einen therapeutischen Nutzen, etwa Berichte über erfolgreiche Anwendungen am Menschen. Typisch bei traditionellen Arzneipflanzen ist eine lange Anwendungsdauer.

Tee oder Tropfen?

„Und auf keinen Fall darf man pflanzliche Arzneimittel mit einer weiteren Kategorie, den Homöopathika, in einen Topf werfen“, betont Wittstock. Letztere basieren zwar oft auf Pflanzen, für sie muss aber keinerlei Wirksamkeitsbeleg erbracht werden. Ob man solche Mittel anwenden möchte, ist eine Frage persönlicher Überzeugung.

Wer sich selbst mit Pflanzenmedizin behandeln möchte, sollte sich gut beraten lassen – am besten von seiner Apothekerin oder seinem Apotheker. „Sie sind die Spezialisten, auch für pflanzliche Arzneimittel“, sagt Wittstock. „Und sie haben Tipps, welche Arzneiform für eine bestimmte Person bei einem bestimmten Problem am besten geeignet ist.“ Etwa wenn es darum geht, ob man bei Blähungen einen Arzneitee trinkt oder lieber zu Tropfen greift.

Die meisten pflanzlichen Präparate in Deutschland und der Europäischen Union sind laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) traditionelle pflanzliche Arzneimittel. „Sie sind zur Eigenbehandlung üblicher Alltagsbeschwerden eine verlässliche Wahl“, sagt Matthias Melzig, Professor für Pharmazeutische Biologie an der Freien Universität Berlin. Dass sie helfen, ist nur indirekt belegt, doch die jahrzehntelange Anwendungserfahrung spricht für den erhofften milden Nutzen. „Viele dieser Medikamente könnten sicherlich eine Zulassung als rationales pflanzliches Präparat erhalten.“

Allerdings würden viele Hersteller vor den Millionen Euro an Kosten zurückschrecken, welche die aufwendigen Wirksamkeitsstudien verursachten. Und natürlich bestehe das Risiko, wie auch bei synthetischen Arzneimitteln, dass die Studien am Ende nicht das erhoffte Ergebnis brächten. Einzelne Unternehmen beschreiten diesen Weg trotzdem. Deshalb findet sich zum Beispiel im Apotheken-Regal mit Präparaten gegen Schlafstörungen ein spezieller Extrakt aus der Baldrianwurzel, der ein „rationales Phytopharmakon“ ist. Viele andere Mittel sind als „traditionell“ eingestuft. Ähnliches gilt etwa für Johanniskrautpräparate bei Depressionen, Extrakten aus Traubensilberkerze gegen Wechseljahresbeschwerden oder Ginkgo-Mittel bei nachlassender Gedächtnisleistung im Alter.

Beratung ist wichtig

Punkten können pflanzliche Medikamente mit guter Verträglichkeit – auch darum eignen sie sich zur Selbsttherapie. „Spätestens seit dem Mittelalter konzentriert sich die medizinische Bewertung von Heilpflanzen in Europa auf die Wirkprinzipien“, erklärt Melzig. „Entsprechend groß ist die Erfahrung.“

Trotzdem sind pflanzliche Mittel keineswegs frei von Neben- und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Oft gilt: Je höher die pflanzlichen Wirkstoffe in der Arznei konzentriert sind, desto eher muss man neben der gewünschten Wirkung auch mit unangenehmen Begleiterscheinungen rechnen.

Schon allein deshalb sollten sich Patientinnen und Patienten in ihrer Apotheke beraten lassen. Auch um herauszufinden, ob es vielleicht nicht doch besser wäre, zunächst ärztlichen Rat einzuholen, ehe man sich „etwas Pflanzliches“ kauft.

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