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Zuerst blutete und wucherte das Zahnfleisch. Dann fielen nach und nach die Zähne aus, Mus­keln schwanden, Wunden heilten nicht mehr. Die betroffenen Seeleute halluzinierten, erblindeten und star­ben schließlich an der Erkrankung, die heute Skorbut heißt. Manche Schiffe verloren deshalb auf langen Reisen mehr als die halbe Besatzung. Skorbut war zwischen spätem Mittel­alter und Neuzeit das fürchterlichste Schreckgespenst für Matrosen.

Die erste bekannte Vergleichsstudie

Erst der schottische Arzt James Lind legte im Jahr 1747 den Grundstein, der diesem Albtraum allmählich ein Ende bereitete. Er ging davon aus, dass die früher auch Maulfäule genannte Krankheit mit Säuren geheilt werden könne. Nur mit welcher? Lind teilte zwölf Erkrankte in sechs Gruppen ein. Je zwei erhielten dreimal täglich Essig, 25 Tropfen Schwefelsäure oder andere Delikatessen. Doch nur jene zwei Ma­trosen, die Orangen und Zitronen ver­speisten, wurden gesund.

Es dauerte noch Jahrzehnte, bis diese Erkenntnis sich auf dem Speiseplan von Seeleuten niederschlug. Und noch viel später wurde erkannt, dass nicht die Fruchtsäuren, sondern das in den Früchten enthaltene Vitamin C Skor­but heilen und verhindern kann. Doch Lind hatte das Heilmittel mit einer Art von Experiment entdeckt, die auch heute noch als die fast optimale Form gilt, neue medizinische Erkenntnisse zu gewinnen. Er hat die erste bekann­te Vergleichsstudie durchgeführt.

Die Fragen gehen nicht aus

Auch 270 Jahre nach Linds Entde­ckung stellen sich in der Medizin im­mer wieder neue Fragen: Wirkt das neue Medikament besser gegen eine Krebserkrankung als das bisher übli­che? Nimmt die Ernährung Einfluss auf den Verlauf von Rheuma? Wiegt der Nutzen eines Kathetereingriffs ins Herz die Risiken der OP auf? Wel­che Nach­- und Vorteile bringt die le­benslange Einnahme einer Arznei ge­gen eine chronische Krankheit?

Je komplexer die Medizin wird und je mehr Möglichkeiten sie bietet, desto häufiger stoßen das Können und die Erfahrung von Ärztinnen und Ärzten an Grenzen. Vor allem, wenn Behand­lungen nicht so eindeutig wirken wie etwa in Linds Experiment. Dann sind Forscherinnen und Forscher gefragt, die den tatsächlichen Effekt in Studi­en ermitteln – möglichst mit Tausen­den Teilnehmenden.

So funktioniert die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Medizin – von der Studie bis zur Behandlung des Patienten:

So funktionieren heutige evidenzbasierte Studien

Die zuverlässigsten Ergebnisse lie­fert dabei eine verfeinerte Form jener Art von Studien, die bereits James Lind anwendete. Zum Beispiel, wenn Wirksamkeit und Risiken neuer Medi­kamente geprüft werden: Patientin­nen und Patienten werden zwei Grup­pen zugewürfelt, von denen die eine das Medikament, die andere eine Tab­lette ohne Wirkstoff oder die bisherige Standardarznei einnimmt.

Weder die Teilnehmenden selbst noch deren Be­handlerinnen und Behandler wissen, zu welcher Gruppe der oder die Ein­zelne gehört. Nur so liefert eine Unter­suchung ein objektives Ergebnis. Weil die Teilnehmenden zufällig auf Gruppen verteilt werden, sprechen Fachleute von randomisier­ten Studien (random = Englisch für Zufall).

Diese Untersuchungen sind das wichtigste Werkzeug einer Medizin, die auf wissenschaftlichen Erkennt­nissen beruhen will. Noch besser: wenn zu einem Thema gleich meh­rere davon vorliegen, die sich syste­matisch vergleichen und bewerten lassen. Auf diese Weise entsteht ein aussagekräftiges Bild vom Wert einer Therapiemethode.

Ein glühender Verfechter dieser so­ genannten Evidenzbasierten Medizin ist Professor Gerd Antes. Wie diese in die Welt kam und schließlich auch Deutschland erreichte – darüber weiß Antes alle möglichen Anekdoten zu erzählen.

Vordenker der evidenzbasierten Medizin

Zum Beispiel, dass die Wurzeln der Be­wegung in Kanada liegen. Und dass ein wichtiger Meilenstein ein 1972 veröffentlichtes Buch von Archie Cochrane gewesen ist, in dem die Prinzipien der neuen Denkweise nie­dergeschrieben sind. Nach dem briti­schen Arzt ist die internationale Cochrane­ Collaboration benannt. De­ren deutsche Vertretung, das Coch­rane­Institut in Freiburg, wurde seit der Gründung 1998 bis 2018 von Gerd Antes geleitet.

In Deutschland kam das Thema in den 90er­Jahren an. 1995 tauchte erst­ mals der inzwischen gängige Begriff auf, der die Orientierung der Medizin an der Wissenschaft beschreibt: Evi­denzbasierte Medizin. Während „Evi­dence“ im Englischen Beweis bedeutet, steht das deutsche Wort „evident“ für „offensichtlich“ oder „naheliegend“. Weil die kurz EbM genannte Bezeich­nung international schon länger gän­gig war, wurde sie hierzulande genau so übernommen.

Weitere Möglichkeiten, Wissen zu erwerben

„Es geht dabei um das beste verfüg­bare Wissen“, erklärt Antes. Das lie­fern im Idealfall randomisierte Ver­gleichsstudien – aber nicht nur. So kann beispielsweise auch die Nachbe­obachtung von Medikamenten nach ihrer Zulassung seltene Nebenwirkun­gen aufdecken. Daten aus Registern können Hinweise etwa auf die Risiken bestimmter Ersatzgelenke liefern. Oder aufzeigen, wie gut Menschen mit bestimmten Erkrankungen versorgt werden.

Überall, wo es keine randomi­sierten Studien gibt, würde Antes schwächere Methoden ebenfalls ak­zeptieren – allerdings mit entspre­chender Vorsicht.

Der eigene Eindruck kann täuschen

Doch ist die Orientierung an wis­senschaftlichen Studien nicht zu ein­seitig? Für viele Patientinnen und Pa­tienten steht etwas ganz anderes im Vordergrund: Sie wollen selbst beur­teilen, wie gut eine Therapie bei ihnen anschlägt. Doch der persönliche Ein­druck kann täuschen. Oft beruht die vermeintlich heilende Wirkung allein auf dem sogenannten Placeboeffekt.

Ein Beispiel: Werden Medikamente in Studien mit wirkstofffreien Scheinme­dikamenten verglichen, zeigen auch Letztere meist eine gewisse Wirksam­keit. Der Glaube daran macht’s. Oder schlicht das gute Gefühl, dass sich je­mand kümmert. Doch das echte Medi­kament könnte das behandelte Leiden womöglich viel besser lindern.

Früher schonen, heute bewegen

Wie wichtig und richtig die Orientie­rung an der Wissenschaft ist, zeigen manche Irrtümer der Medizin. Sie hatten sich eingeschlichen, weil Studi­en fehlten oder schlecht gemacht wa­ren – bis gute Untersuchungen den Wissensstand veränderten.

So wird Frauen in den Wechseljahren heute empfohlen, Hormonpräparate allenfalls kurzzeitig und in der nied­rigstmöglichen Dosis einzunehmen, weil inzwischen die Risiken gut be­kannt sind. Rückenpatientinnen und ­-patienten erhielten lange den Rat, sich zu schonen oder ins Bett zu legen. Heute weiß man, dass Aktivität meist das Beste fürs Kreuz ist. Ähnliches gilt für Herzleiden: Angepasst an die ärztlich empfohlene Belastbarkeit pro­fitieren Patientinnen und Patienten sogar von Sport. Menschen mit Knie­arthrose wiederum nützt eine Gelenk­spiegelung samt Spülung meist nicht viel: Eine vorgetäuschte OP schnitt in Studien nicht schlechter ab.

Der Placeboeffekt

Viele alternative Therapien wirken nur über den Placeboeffekt. Das viel­leicht beste Beispiel dafür ist die Ho­möopathie. Dabei werden beliebige Ausgangsstoffe – vom Nervengift Arsen über Pflanzenextrakte bis zu Hundekot – stark verdünnt. Meist so stark, dass die Ausgangssubstanz in den Präparaten nicht mehr nachzu­ weisen ist. Dass solche Mittel trotz­ dem heilen sollen, widerspricht allem, was wir über den Körper wissen. Den­ noch hat die Homöopathie „eine zwei­te Chance bekommen“, wie der HNO­ Arzt Dr. Christian Lübbers es aus­drückt: In Studien hätten sie eine einwandfreie Wirksamkeit nachweisen können. Doch in allen elf bisher dazu existierenden Übersichtsarbei­ten – vier davon von Homöopathen ei­nes britischen Instituts erstellt – miss­lang dieser Nachweis.

Lübbers berät in seiner Praxis schon lange Patientinnen und Patien­ten, die noch nicht einmal vom Place­boeffekt der Homöopathika profitie­ren. Eines Tages entfernte er einer Vierjährigen mit fiebriger Mittelohr­ entzündung Globuli aus dem Gehör­gang. Das war für ihn der endgültige Anlass, sich auch öffentlich für eine ehrliche Aufklärung über Homöopa­thie zu engagieren.

Sonderstatus für pflanzliche und anthroposophische Medikamente

Homöopathische Mittel profitieren wie anthroposophische und viele pflanzliche Medikamente von einer Sonderregel im Arzneimittelgesetz: Für sie genügt meist eine Registrie­rung bei der zuständigen Behörde. Auch bei Präparaten, für die eine for­male Zulassung nötig ist, sind die Hür­den niedrig. Das bedeutet: Ein stren­ger Wirksamkeitsnachweis entfällt. „Hier wird mit zweierlei Maß gemes­sen“, urteilt Lübbers, „das kann im Sinne der Patientensicherheit und des Verbraucherschutzes nicht länger tole­riert werden.“

Zwar gebe es außer Verdünnungs­fehlern bei giftigen Ausgangsstoffen keine direkte Gefahr. Indirekte aber sehr wohl: indem eine andere Behand­lung verzögert oder unterlassen wird. „Die Versorgung sollte sich auf wissen­schaftlich nachgewiesene Wirksam­keit stützen“, fordert Dr. Dagmar Lüh­mann. „Das gilt für Therapien, dia­gnostische Verfahren, die Bedeutung von Risikofaktoren wie für den Krank­heitsverlauf.“ Lühmann ist stellvertre­tende Vorsitzende des Deutschen Netz­werks Evidenzbasierte Medizin, das seit 1998 für das wissenschaftsbasier­te Konzept wirbt.

Die drei Säulen der Evidenzbasierten Medizin

Seither hat sich einiges getan, etwa was die Qualität von Leitlinien für Ärztinnen und Ärzte betrifft, das Me­dizinstudium oder die Entscheidung darüber, was Krankenkassen bezah­len müssen. Allerdings bedauert Lüh­mann: „Was die praktische Umset­zung in Praxen und Kliniken angeht, gibt es noch viel Luft nach oben.“

Dabei degradiert die EbM Medizine­rinnen und Mediziner keineswegs. Denn sie basiert auf drei Säulen: dem bestmöglichen Wissensstand, der Ärztlichen Erfah­rung und den Wünschen von Patientinnen und Patienten. Behandler kön­nen zum Beispiel von einer Leitlini­en­Empfehlung abweichen, wenn sie im Einzelfall nicht passt. Sie können Behandlungsprioritäten setzen, wenn jemand an mehreren Krankheiten zu­gleich leidet.

Letzten Endes entscheidet ohnehin nicht die Wissenschaft über eine The­rapie, sondern die Patientin oder der Patient – etwa darüber, ob man bei Gelenkverschleiß lieber mit Schmerz­mitteln lebt oder einen Gelenkersatz will. Fiele eine der drei Säulen weg, würde das EbM­Gebäude zusammen­stürzen.

Die Wissenschaft bleibt ständig im Fluss, jederzeit können neue Erkennt­nisse alte Dogmen stürzen. Daher schützt Patientinnen und Patienten nichts besser vor unwirksamen und womöglich schädlichen Therapien als der aktuellste Wissensstand. Nichts gibt ihnen eine bessere Chance auf wirksame Behandlungen. James Lind würde sicher zustimmen. Dank seiner Vergleichsstudie wurde Skorbut ver­hindert und geheilt, das Schreckge­spenst der Seeleute vertrieben.

Hier können Sie sich selbst informieren

Behandelt meine Ärztin oder mein Arzt mich so, wie es nach derzeiti­gem Wissensstand richtig ist? Hier hilft der Blick auf diese Websites:

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