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Herr Professor Ernst, Sie sind bekannt als Verfechter einer Medizin, die sich auf wissenschaftliche Nachweise stützt. Nehmen Sie selbst auch mal etwas ein, dessen Wirkung zweifelhaft ist?

Ja, zum Beispiel Fischölkapseln. Ich leide an einer läs­tigen Schuppenflechte. Die konventionelle Medizin hat da nur richtige Kanonen zu bieten. Die Evidenz für Fischöl bei Schuppenflechte ist nicht überzeu­gend. Ich bin aber experimentierfreudig, auch wenn ich nicht zum Geistheiler gehen würde.

Haben Sie früher bei Patientinnen und Patienten Methoden mit zweifelhafter Wirkung eingesetzt?

Mein erster Job nach dem Studium war im Münchner Krankenhaus für Naturheilweisen. Der Leiter war da­mals ein recht prominenter Homöopath. Ich habe dort einige alternativmedizinische Verfahren erlernt, die ich heute nicht mehr anwenden würde.

Hatten Sie denn den Eindruck, dass es hilft?

Es war verblüffend, wie sich die Beschwerden manch­ mal verbesserten. Doch hatte es eben nur den An­schein, als würden die eingesetzten Methoden helfen. Eine Rolle bei dem Erfolg spielt auch die Erwartungs­ haltung der Patientinnen und Patienten, ebenso dass sich jemand um sie kümmert. Viele Leiden werden überdies ganz von alleine besser.

Sie hatten doch Medizin studiert. Hat Sie das nicht gelehrt, kritischer zu denken?

Wir Mediziner haben im Studium alle Hände voll zu tun, den Lernstoff zu bewältigen. Da kommt man nicht zum kritischen Denken, überhaupt kaum zum Denken. Erst als ich in London zum Wissenschaftler ausgebildet wurde, begann ich, die Dinge analyti­scher zu sehen.

Als erster Leiter eines alternativmedizinischen Lehrstuhls haben Sie viele Methoden untersucht. Warum denken Sie, sind diese heute so beliebt?

Da gibt es viele Gründe. So wurde in den Medien dar­über lange zu positiv berichtet. Selbst in kritischen Artikeln werden am Ende oft wieder Verfechter der Methode zitiert, die alles infrage stellen. So kommt es zu einem falschen Gleichgewicht, das die Wahrheit verzerrt. Stellen Sie sich vor, Sie schreiben einen Be­richt darüber, dass die Erde eine Kugel ist. Da würden Sie am Ende auch kein Mitglied der Flat Earth Society zitieren, der „Flach­Erde­Bewegung“, das sagt: „Und die Erde ist doch eine Scheibe, das ist eindeutig.“ Ir­gendwann ist die Datenlage so eindeutig, dass eine zweite Meinung absurd wird.

Was sind die anderen Gründe?

Die vielen Defizite der konventionellen Medizin! Die Erwartungen wurden jahrzehntelang extrem hochge­ schraubt – und bei allzu vielen chronischen, aber auch manchen akuten Erkrankungen bislang leider nicht erfüllt. Was ebenso wichtig ist: Das Menschliche droht in der Medizin verloren zu gehen. Und Mensch­lichkeit bietet die Alternativmedizin im übermaß.

Dann macht sie doch etwas richtig.

Ja, sicher. Die Medizin steht aus meiner Sicht aber auf zwei Beinen: der Wissenschaft und der Heilkunst, al­so Empathie, Verständnis und dem nötigen Zeitauf­wand dafür. In dieser Heilkunst ist die Alternativme­dizin in der Regel sehr gut. Die Wissenschaft ver­nachlässigt sie völlig. Die konventionelle Medizin macht zu oft das Umgekehrte. Doch eine gute Medizin muss auf diesen beiden Beinen stehen. Ansonsten ist es eben keine gute Medizin.

Wenn die Alternativmedizin mit Empathie und Menschlichkeit etwas bewirkt und die Patientinnen und Patienten zufrieden sind: Hat sie dann nicht doch ihre Berechtigung?

Die Medizin ist kein Supermarkt. Der Patient muss nicht das bekommen, was er will, sondern das, was er braucht. Wenn ich nur auf Empathie setze, betrüge ich meine Patientinnen und Patienten um den spezifi­schen Effekt der Therapie, der ihnen zusteht und der auch ganz entscheidend ist. Ich finde das Wort „be­trügen“ hier nicht zu stark. Denn es handelt sich oft um einen Betrug.

Gab es bei den von Ihnen untersuchten Methoden auch einige, deren positive Wirkung Sie überrascht hat?

Verblüfft hat mich tatsächlich das Ölziehen, eine ayurvedische Methode aus Indien. Es gibt einige Stu­dien, die zeigen, dass es für die Mundhygiene wohl positiv ist. Aber eben nur für das – und Schluss. Wie bei fast allen wirksamen komplementären Methoden ist der Bereich, in dem Effekte nachgewiesen werden können, sehr eng.

Wie steht es um die Wirkung anderer beliebter Methoden wie Bioresonanz, Neuraltherapie oder Osteopathie?

Zur Bioresonanz gibt es eine originelle Studie, in der ein Leberkäse an das Gerät angeschlossen wurde. Das ergab ähnliche Werte wie bei einem Menschen. Hinweise auf eine positive Wirkung gibt es keine. Bei der Neuraltherapie werden örtlich wirkende Betäu­bungsmittel gespritzt. Wenn Sie das gegen lokale Schmerzen machen, hilft das natürlich. Dass man da­ mit Migräne oder andere Beschwerden heilen kann, dafür gibt es ebenfalls keine Evidenz. Die Handgriffe der Osteopathen sind relativ milde, wogegen die sehr ähnliche Chiropraktik sogar gefährlich sein kann, wenn die Halswirbelsäule manipuliert wird. Es gibt mehr als 500 publizierte Fälle, in denen die Folge ein Schlaganfall oder der Tod war.

Die von Ihnen kritisierten Methoden haben streitbare Anhänger. Sicher gab es mal ärger.

Den größten mit Prinz Charles, einem der weltweit aktivsten Befürworter alternativer Medizin. Er hatte ein Gutachten erstellen lassen, das zeigen sollte, dass Alternativmedizin dem Gesundheitssystem viel Geld spart. Als ich den Eindruck bekam, dass die Schluss­folgerungen schon feststanden, bevor man die Daten angeschaut hatte, habe ich meine Kooperation aufge­kündigt.

Als die Story dann auf der Titelseite der Times erschien, wurde ich beschuldigt, vertrauliche Informationen an die Presse gegeben zu haben. Es gab eine offizielle Untersuchung. Am Ende wurde ich freigesprochen. Aber während der 13 Monate Inquisi­tion war meine ganze Abteilung kaputtgegangen und ich ging freiwillig in verfrühten Ruhestand. Doch auch Prinz Charles bekam heftigen Gegenwind.

Der Einsatz für die Evidenz hat Sie also viel gekostet. Dennoch muss man verstehen, wenn Menschen, denen die Medizin nicht helfen kann, nach Alternativen suchen. Was würden Sie ihnen raten?

Der Rat ist denkbar einfach: sich gut informieren. Die Befolgung des Rats ist indes denkbar schwierig. Folgt man Ratschlägen auf populären Internetseiten zur Al­ternativmedizin, wird es schnell gesundheitsgefähr­dend, wie wir in Untersuchungen mehrfach nachge­wiesen haben. Inzwischen gibt es aber auch einige gute Infoseiten, etwa die der Cochrane Collaboration. Für mich war der Informationsmangel ein Grund, dass ich mich vor Jahren entschlossen habe, mich direkt an Verbraucherinnen und Verbraucher zu wenden.

Lesetipps zum Thema

Buch: Professor Edzard Ernst: „Alter­nativmedizin – was hilft, was schadet: Die 20 besten, die 20 bedenklichsten Methoden“, GU Verlag, 14,95 Euro

Blog im Internet: www.edzardernst.com

Mehr zum Thema evidenzbasierte Medizin können Sie in der Ausgabe unseres Magazins lesen, die ab 1. September 2021 in den Apotheken ausliegt.

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