„Mach mal slow“
Bei der Leichtathletik-WM in Berlin lief der Jamaikaner Usain Bolt 100 Meter in 9,58 Sekunden. Daniel Beerstecher braucht für 100 Meter etwa eine Stunde. Er betreibt Slow Walking, eine Art meditatives Gehen. Der 44-jährige Künstler lebt in der Nähe von Stuttgart. Für sein neuestes Projekt dreht er drei Monate lang jeden Tag eine Runde auf der Tartanbahn des Instituts für Sport und Bewegungswissenschaften der Universität Stuttgart.
Bei Wind und Wetter – mal in Shorts plus Sonnenhut, mal mit Regenjacke – schreitet der Mann mit gefalteten Händen in Zeitlupentempo über die rote Bahn. Wo andere neue Speed-Rekorde aufstellen, übt sich Beerstecher in Entschleunigung. Er möchte einen Kontrast setzen zu unserer schnelllebigen Zeit. Damit ist er nicht allein. Slow Food, Slow Fashion, Slow Gifting, Slow Sex – an kaum einem Lebensbereich scheint der Trend zur Langsamkeit vorbeizugehen. Oder: zu schlendern.
Während er „slow walkt“, wird der Performance-Künstler von drei Kameras überwacht, die jede seiner Bewegungen aufzeichnen. Ein mobiles EEG-Gerät in seinem Stirnband misst die Hirnströme, weitere Sensoren erfassen Herz- und Atemfrequenz, Geschwindigkeit sowie den aktuellen Standort. Alle Daten und Bilder werden live auf einer Website sowie in den sozialen Medien veröffentlicht.
Wozu das Ganze? „Mit den Daten möchte ich irgendwann einer KI beibringen, wie Entschleunigung funktioniert“, erklärt Beerstecher. Zunächst müssen sie aber ausgewertet werden. Dafür geht der Künstler derzeit auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu. „Schon allein anhand dessen, wie lange ich für meine Runde gebraucht habe, kann ich einschätzen, wie konzentriert ich war“, sagt er.
Gedanken und Bewegung in Einklang bringen
Als auf dem Sportgelände einmal gleichzeitig ein Fußballturnier stattfand oder die Technik Probleme machte, legte er die 400 Meter in weniger als drei Stunden zurück. Sobald sich alles gut eingespielt hatte, war er auch mal vier Stunden unterwegs. „Wenn mich etwas beschäftigt, wirkt sich das direkt auf meine Atmung aus“, erklärt Beerstecher. Und daran passe sich wiederum sein Schritttempo an.
„Je langsamer und tiefer ich atme, desto langsamer bin ich unterwegs.“ Sein Rhythmus beim Slow Walken: „Wenn ich einatme, hebe ich das eine Bein und bringe den Fuß nach vorne. Beim Ausatmen setze ich ihn ab, verwurzele ihn sozusagen. Beim nächsten Einatmen hebe ich das andere Bein. Und so weiter.“
Sein Atem bestimmt seine Gehgeschwindigkeit
Damit geht er im doppelten Sinn gegen die Zeit: Studien deuten darauf hin, dass sich unser Schritttempo in den letzten Jahrzehnten beschleunigt hat, vor allem in Großstädten.
Experten wie der britische Psychologe Prof. Dr. Richard Wiseman führen das auch auf technische Errungenschaften wie Internet oder Smartphones zurück. Sie ermöglichen, immer mehr und schneller Informationen zu empfangen und zu verarbeiten. Wir haben das Gefühl, in derselben Zeit immer mehr erreichen und erledigen zu müssen. Dadurch legen wir offenbar auch beim Gehen einen Zahn zu und atmen möglicherweise schneller.
Unsere Atmung wird durch viele Faktoren beeinflusst
Normalerweise atmen wir nicht bewusst, sondern automatisch. Chemorezeptoren, eine Art Fühler, die in den Blutgefäßen verortet sind, melden dem Gehirn, wie viel Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid dort gerade vorhanden ist. Das Atemzentrum, ein Bereich im Hirnstamm, justiert dann nach. Ist zu viel Kohlendioxid im Blut, veranlasst es uns, tiefer und häufiger zu atmen.
Auch äußere Signale wie Stress wirken sich auf das Atemzentrum aus: Wir atmen schneller und tiefer, manche Menschen hyperventilieren regelrecht. Das ist – vor allem auf Dauer – nicht gesund.
Daniel Beerstecher hat dies am eigenen Leib erfahren: Während eines Studienaufenthalts in Japan vor etwa 15 Jahren erlitt er einen Burn-out. Er suchte Rat bei einem Arzt, der sagte: „Während Sie hier liegen und ich arbeite, atmen Sie ungefähr doppelt so schnell wie ich. Wenn Sie Ihre Atmung unter Kontrolle bekommen, ist die eine Hälfte Ihrer Probleme gelöst. Und für die andere Hälfte haben Sie dann auch genügend Kraft.“ Diese Worte nahm sich der Künstler zu Herzen und begann zu meditieren. Ihm wurde klar: Um den Atem zu entschleunigen, müssen auch die Gedanken zur Ruhe kommen.
Mehr Kontrolle über die eigenen Gedanken erlangen
Abstellen kann man diese zwar nicht, aber gewissermaßen filtern. „Wenn ein Gedanke kommt, lässt man ihn wieder los und kehrt mit der Aufmerksamkeit zu seinem Atem zurück“, erklärt Beerstecher. Das Wichtigste sei, die Gedanken nicht zu bewerten und in eine Art Negativspirale zu geraten.
Der Slow Walker gibt Kurse in „Mindfulness-based stress reduction“, kurz MBSR. Diese Meditationsmethode wurde in den 1970er-Jahren von dem US-amerikanischen Wissenschaftler Jon Kabat-Zinn entwickelt. Sie umfasst unterschiedliche Achtsamkeitsübungen, zum Beispiel aus dem Yoga.
Zahlreiche Studien deuten darauf hin, dass ein solches Programm Menschen mit unterschiedlichen Leiden, zum Beispiel chronischen Schmerzen, Depressionen oder Angststörungen, helfen kann. Geht es also weniger um Langsamkeit als um Achtsamkeit? Und was bedeutet das überhaupt?
Ein kurzer Einblick in das Konzept der Achtsamkeit
Das Konzept der Achtsamkeit stammt aus dem Buddhismus und kann als besondere Form der Meditation verstanden werden. „Ursprünglich ist es ein Werkzeug, um das Leiden auf der Welt zu reduzieren. Die Annahme ist: Alles Leben ist Leiden und das Leiden existiert durch unser Ego“, erklärt der Sozialwissenschaftler und Achtsamkeitsforscher Dr. Simon Schindler aus Berlin.
Unser Ego beinhaltet Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche. Ziel der Meditation sei es, dieses aufzulösen. Die heutige Interpretation und Anwendung der Achtsamkeitsmeditation ist völlig anders, fast schon konträr. „Es ist häufig etwas, das jeder für sich, quasi als individuelle Wellness, praktiziert“, erklärt Schindler. Im Grunde geht es darum, den gegenwärtigen Moment bewusst und wertungsfrei wahrzunehmen.
Dagegen sei grundsätzlich nichts einzuwenden. Man müsse aber aufpassen, sich nicht auf missionarischen Abwegen zu verlieren, sagt Simon Schindler. „Menschen neigen dazu, sich stark mit dem zu identifizieren, was sie tun, sei es Achtsamkeit, Yoga oder eine Religion.“ Dadurch entfremde man sich schnell von der eigentlichen Idee und versuche, andere zu überzeugen, so Schindler, früher selbst „unkritischer Achtsamkeitsfan“.
Heute erforscht er die Nebenwirkungen. „Achtsamkeitsfans“ würde Schindler gerne sagen: „Schaut mal genauer hin. Es gibt vielleicht auch Seiten, die nicht so wünschenswert sind.“ Denjenigen, die damit fremdeln, rät er, es mal auszuprobieren. Sich zu Hause hinzusetzen und zu meditieren koste schließlich nichts. Mit Stille umgehen, Geduld haben, einfach nur da sein zu können: „Das sind wertvolle Fähigkeiten“, sagt der Sozialpsychologe.
Zwischen Achtsamkeit und Entschleunigung
Was hat das nun aber mit Langsamkeit zu tun? „Ich glaube, die Langsamkeit lehrt einen die Achtsamkeit“, sagt Slow Walker Daniel Beerstecher. „Würde ich nicht achtsam mit meinen Gedanken umgehen, wäre eine Runde im Stadion eine ziemliche Tortur.“ Er meditiert täglich etwa eine Stunde, gern im Gehen, denn: „Im Sitzen stürmen die Gedanken leichter auf mich ein. Im Gehen kann ich mich sowohl auf den Atem als auch auf die Bewegung konzentrieren.“
Auch beim Yoga geht es darum, Atem und Bewegung in Einklang zu bringen, den eigenen Rhythmus zu finden. Dennoch müsse Yoga nicht unbedingt langsam sein, erklärt Dr. Svenja Borchers, Yoga-Lehrerin und Neurowissenschaftlerin aus der Nähe von Oldenburg. Zwischen ruhigem Yin Yoga und schweißtreibendem Power Yoga existiert eine ganze Bandbreite.
Sie selbst praktiziert und unterrichtet einen eher dynamischen Yogastil. „Das heißt aber nicht, dass ich immer nur schnell und kraftvoll übe. Ich schaue immer: Was brauche ich gerade?“ Entschleunigung ist für sie der erste Schritt, um sich über die eigenen Bedürfnisse bewusst zu werden. Ihrer Ansicht nach brauchen wir nicht nur Langsamkeit, sondern eine gute Balance zwischen schnell und langsam.
Multitasking und Stress sind verknüpft
Der aktuelle Trend zur Langsamkeit rühre vermutlich daher, dass sich viele Menschen mental überfordert fühlen, „durch den Alltag, die Informationsflut, das Multitasking“, so Borchers. Telefonieren, E-Mails lesen und gleichzeitig die Kinder im Blick haben: Multitasking wird von vielen erwartet, kann aber eigentlich nicht funktionieren. Neurowissenschaftliche Studien belegen: Das Gehirn kann sich nur auf je eine anspruchsvolle Tätigkeit konzentrieren.
Tut man mehrere Dinge gleichzeitig, wechselt es ständig hin und her. Das Ergebnis: Man bekommt nur die Hälfte mit. Multitasking macht also weder effizienter noch leistungsfähiger, sondern stresst. Eins nach dem anderen erledigen und sich genügend Zeit dafür lassen – der „Slow Mode“ ist quasi ein Gegenentwurf zum Multitasking. Im besten Fall kann er helfen, die innere Ruhe wiederzufinden.
Mehr Bewusstsein schaffen – ein erster Schritt
Schindler hat nicht explizit die Langsamkeit für sich entdeckt, versucht aber hin und wieder, Dinge bewusst zu tun. Daraus resultiere meist automatisch Langsamkeit. Er erinnert an eine klassische Achtsamkeitsübung nach Jon Kabat-Zinn. Dabei geht es darum, eine Rosine mit größtmöglicher Achtsamkeit und Aufmerksamkeit zu essen. Das dauert. Und dauert.
Kann man Dinge nicht auch schnell und achtsam tun? „Doch, natürlich“, sagt Neurowissenschaftlerin Svenja Borchers. „Wenn ich achtsam eine Tomate schneide, kann das nur eine Sekunde dauern. Aber dann sind meine Gedanken komplett beim Schneiden dieser Tomate.“ Ihrer Ansicht nach ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir achtsam sind, höher, wenn wir Dinge langsam tun.
Doch langsam bedeutet nicht automatisch achtsam. „Ich kann auch eine Minute lang eine Scheibe von der Tomate schneiden und mit den Gedanken trotzdem ganz woanders sein.“ Fragt sich, wie dies in den Alltag passen kann, Gemüse bewusst langsam zu schnippeln. Ein Griff in die Kühltruhe und in zehn Minuten stünde die heiße Pizza schließlich auf dem Tisch. In der Zwischenzeit kann der Abwasch und die Post erledigt werden. Praktisch.
Aber: Habe ich heute überhaupt Lust auf Pizza? Oder möchte ich nicht doch lieber einen frisch zubereiteten Salat?
Wie sich bewussteres Essen auswirkt
Das frage man sich viel zu selten, findet Ernährungspsychologin Prof. Dr. Ulrike Gisch von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie forscht zum intuitiven Essverhalten, einem Konzept, das ursprünglich aus den USA kommt. „Meistens essen wir, was wir für die Familie geplant haben oder was eben gerade im Kühlschrank liegt.“ Ein durchgetakteter Alltag erlaubt oft nichts anderes.
Trotzdem solle man versuchen, wieder mehr in sich hineinzuhören, und sich etwas Zeit für die Nahrungsaufnahme nehmen, so die Forscherin. Wer langsamer isst, achtet intensiver auf die Signale des Körpers. Das Sättigungsgefühl setzt erst circa 20 Minuten nach Beginn des Essens ein. Wer beim Essen oft auf Smartphone, Fernseher oder Tablet schaut, ernährt sich im Schnitt ungesünder und hat ein erhöhtes Risiko für Übergewicht, so Studien.
Langsamer und bewusster zu essen kann also der Gesundheit nutzen. Slow Food nur mit „langsam essen“ zu übersetzen, greife viel zu kurz, findet Dr. Nina Wolff, Vorsitzende des Vereins Slow Food Deutschland: „Es geht vor allem um das ganze Drumherum: Was ist das für ein Lebensmittel? Wie wurde es hergestellt? Wie geht es den Menschen, die es produziert haben? Was hat das für eine Bedeutung für Tiere? Und wie geht es der Umwelt damit?“
Solche Fragen sollte man sich bereits beim Einkauf stellen. Das kostet etwas Zeit, zumindest zu Anfang. Ein weiteres Hemmnis: Nachhaltig produzierte Lebensmittel, etwa Fleisch vom Biobauernhof, sind oft deutlich teurer als konventionell hergestellte Supermarktware.
„Slow food“ für mehr Nachhaltigkeit
Auch hierfür gebe es aber Ansätze, sagt Wolff. Um Ernährung zukunftsfähig zu gestalten, müssten wir ohnehin alle den Schwerpunkt auf pflanzliche Lebensmittel verlegen, fordert Slow Food Deutschland. Gemüse und Obst möglichst regional und saisonal einzukaufen spart Geld und Treibhausgase. Wer die Möglichkeit hat, kann sogar selbst anbauen – oder Lebensmittel vor der Tonne retten.
Auf seiner Website stellt der Verein viele Tipps und Rezepte zur ganzheitlichen und alltagstauglichen Verwertung von Lebensmitteln zur Verfügung. „Wer sich das nötige Wissen erarbeitet und einen Plan aufgestellt hat, braucht weder besonders viel Zeit noch Geld, um ‚Slow-Food-ig‘ zu leben“, meint Wolff.
Das Schwierigste sei, tatsächlich ins Tun zu kommen. Doch anders als bei vielen anderen Dingen werde man sofort belohnt: mit Genuss. „Essen ist viel mehr als die Aufnahme von Nährstoffen. Es ist der direkteste Weg, sich mit der Welt zu verbinden.“ „Slow Food“ wirke sich nicht nur positiv auf die eigene Gesundheit aus, sondern auch auf die des Planeten.
„Slow“ hilft nicht nur gegen Stress
Ganz im Sinne der Nachhaltigkeit sind dann auch weitere Aspekte wie „Slow Fashion“ und „Slow Gifting“. Dabei geht es darum, Kleidung oder Geschenke zu kaufen, die eine lange Lebensdauer haben, aus zweiter Hand stammen oder recycelt werden können. Sie haben also weniger mit Luxus und Müßiggang zu tun, sondern vielmehr mit bewusstem Konsum.
Ein ganzes Leben im „Slow Mode“ zu führen ist vermutlich nicht praktikabel. Und auch nicht zielführend. „Man muss keine zweimonatige Langzeit-Performance durchführen, um Entschleunigung zu erfahren“, sagt Slow Walker Beerstecher.
Der Alltag biete schon genügend Gelegenheiten dafür. An der ein oder anderen Stelle kann es sich sicher jeder und jede leisten, kurz innezuhalten, dem Strudel des Alltags zu entgehen – und sich ein wenig Langsamkeit zu gönnen.
Quellen:
- Daniel Beerstecher: Daniel Beerstecher. Online: https://danielbeerstecher.de/... (Abgerufen am 27.12.2023)
- Daniel Beerstecher: Die Kunst der Entschleunigung, Achtsames Unterwegssein. Online: https://www.diekunstderentschleunigung.de/... (Abgerufen am 27.12.2023)
- Levine R V, Norenzayan A: The Pace of Life in 31 Countries. In: Journal of cross-cultural psychology 01.03.1999, 30: 178-205
- Wiseman R: Pace of Life Project, Method. Online: http://www.richardwiseman.com/... (Abgerufen am 27.12.2023)
- Schindler S, Pfattheicher S, Reinhard M-A: Potential negative consequences of mindfulness in the moral domain. In: European Journal of Social Psychology 21.01.2019, 49: 1055-1069
- Schindler S, Friese M: The relation of mindfulness and prosocial behavior, What do we (not) know?. In: Current Opinion in Psychology 01.04.2022, 44: 151-156
- Borchers S: Svenja Borchers, Move better. Feel better. Be better.. Online: https://www.svenjaborchersyoga.de/... (Abgerufen am 27.12.2023)
- Slow Food Deutschland, Ecologic Institut, Technische Universität Berlin (TU Berlin): Lebensmittelverschwendung reduzieren, Tipps und Rezepte. Online: https://www.slowfood.de/... (Abgerufen am 27.12.2023)
- La Marra M, Caviglia G, Perrella F: Using Smartphones When Eating Increases Caloric Intake in Young People, An Overview of the Literature. In: Frontiers in Psychology 03.12.2020, 11: 587886