Chronisches Fatigue Syndrom: Die übersehene Krankheit
Wenn man Professorin Carmen Scheibenbogen eine Anfrage per E-Mail schickt, besteht ihre Antwort meist nur aus ein, zwei Wörtern. Videogespräch nächste Woche? Ja, geht. Mehr als eine halbe Stunde ist nicht drin. Carmen Scheibenbogen leitet das Institut für Medizinische Immunologie an der Charité Berlin und hat keine Zeit zu verlieren.
Zu viele Patientinnen und Patienten benötigen ihre Hilfe. Auch wenn die Ärztin nicht so viel für sie tun kann, wie sie gern würde. Zumindest noch nicht. Scheibenbogen und ihr Team erforschen und behandeln Erkrankungen, bei denen das Immunsystem nicht mehr richtig arbeitet.
Besonders im Fokus steht die Krankheit ME/CFS. Diese Abkürzung steht für Myalgische Enzephalomyelitis beziehungsweise Chronisches Fatigue-Syndrom. Schon der Name macht ratlos. Und bis heute die Erkrankung selbst. 250 000 bis 300 000 Menschen sollen hierzulande daran leiden. Ein Viertel von ihnen laut Deutscher Gesellschaft für ME/CFS so schwer, dass sie das Haus nicht mehr verlassen können. Manche sind bettlägrig. Es gibt keine zugelassene Therapie, keinen Biomarker, der die Krankheit anzeigt. Und nur Theorien, wie sie entsteht und Beschwerden verursacht.
Wer in Scheibenbogens Sprechstunde kommt, hat meist einen Arztmarathon hinter sich, von der Hausärztin über HNO, Internist oder Rheumatologin hin zu Neurologe, Endokrinologin oder Kardiologe. Denn die Beschwerden können ganz unterschiedlich sein: Die Betroffenen leiden über Monate hinweg unter Kopf- oder Gliederschmerzen, geschwollenen Lymphknoten, Fieber. Sie können oft nicht mehr richtig schlafen, sich nicht konzentrieren, fühlen sich, als sei das Gehirn permanent vernebelt. Bekommen ohne offensichtlichen Anlass Herzrasen, Schwindel, Kreislaufprobleme oder Blutdruckschwankungen. Haben aber keine Erkältung. Keine Gelenkentzündung. Und das Herz ist auch in Ordnung.
Was alle Patientinnen und Patienten mit ME/CFS eint: Sie werden schnell und lang anhaltend erschöpft. Die Erschöpfung steht dabei in keinem Verhältnis zur vorangegangenen Tätigkeit. Viele können nur noch wenig oder gar nicht mehr arbeiten, schaffen es nicht mehr, einzukaufen, die Wohnung zu putzen. Ein Spaziergang kann sie ebenso anstrengen wie Zähneputzen oder Nachdenken. Für manche ist aufrechtes Sitzen oder den Kopf halten zu viel. Obwohl ihre Ruhepausen zwangsweise immer länger werden, schöpfen Erkrankte keine neue Kraft. Wie ein defekter Akku, der nicht mehr lädt.
Erkrankung chronisch unerkannt
Nun ist dauerhafte körperliche und geistige Erschöpfung kein unbekanntes Phänomen. Manche Patientinnen und Patienten haben sie zum Beispiel nach einer Krebserkrankung. Ihnen hilft unter anderem moderate Bewegung, die Beschwerden ein Stück weit in den Griff zu bekommen. Bei Erkrankten mit ME/CFS jedoch verstärken Sport und Bewegung die Symptome. Diese Post Exertional Malaise (Verschlechterung nach körperlicher, geistiger oder emotionaler Anstrengung) kann bis zu 48 Stunden nach Belastung eintreten.
„Sie müssen raus an die frische Luft gehen, Sport machen“: Wie oft er diesen Satz gehört hat, weiß Tim S. (Name geändert), früher selbst sportlich, nicht mehr. Rund 30 Ärztinnen und Ärzte hatte der Mittdreißiger aus dem Raum München aufgesucht. Lange Zeit fand niemand eine Erklärung für seine krankhafte Erschöpfung. Obwohl es ihm zunehmend schlechter ging, wurde Tim S. oft gespiegelt: Müsste er sich nicht einfach ein wenig zusammenreißen?
Finden Medizinerinnen und Mediziner keine offensichtliche körperliche Ursache, scheint es naheliegend, die Psyche verantwortlich zu machen. Viele stufen Betroffene als depressiv ein, halten ihre Beschwerden für psychosomatisch bedingt. Doch Tim S., irgendwann vollständig bettlägrig, war sich sicher: Keine Depression der Welt konnte seinen erbarmungswürdigen Zustand verursachen.
Was ist nur los mit mir?
Seit über 50 Jahren hat die Weltgesundheitsorganisation WHO ME/CFS als Erkrankung des Nervensystems gelistet. Doch bis heute lernen viele Medizinstudierende in Deutschland in ihren sechs Jahren Studium nichts darüber. Viele Betroffene erhalten ihre Diagnose deshalb nicht von Fachärztin oder -arzt, sondern müssen diese – wie Tim S. verzweifelt und nach langer Internetrecherche – dazu selbst überzeugen.
Auf anfängliche Erleichterung folgt oft Ernüchterung: Deutschlandweit gibt es nur zwei Spezialzentren für ME/CFS. Eines ist in der Kinderklinik München Schwabing am Klinikum Rechts der Isar der TU München unter Leitung von Professorin Uta Behrends. Wegen des großen Andrangs werden dort derzeit nur Betroffene aus Bayern behandelt. Das andere ist Scheibenbogens Ambulanz an der Charité. Auch sie nimmt nur noch Erkrankte aus Berlin und Brandenburg auf.
Am Tiefpunkt seiner Erkrankung wäre eine Reise in die Hauptstadt für Tim S. sowieso unmöglich gewesen, glaubt er heute. Sein Körper war dafür schlicht zu schwach.
Für einen Teil der ME/CFS-Betroffenen ist jedes Geräusch, jeder optische Reiz, selbst Tageslicht überfordernd. Nach und nach scheiden sie aus ihrem bisherigen Alltag aus, liegen in abgedunkelten Zimmern. Sie verschwinden. Eine Situation, die so ausweglos scheint, dass manche sich das Leben nehmen. Doch es gibt Hoffnung.
Rund zehn Patientinnen und Patienten behandelt Carmen Scheibenbogen pro Woche. Bislang heißt das vor allem: ihnen Arzneien verschreiben, die Symptome wie Kopfschmerzen lindern. Ihnen Entspannungstechniken zeigen, mit denen sie zur Ruhe kommen, besser schlafen. Und ihnen nahelegen, dass sie mit ihrer minimalen Energie streng haushalten müssen. Pacing heißt das: Erkrankte beobachten genau, wann ihre Einbrüche auftreten. Und bauen dann selbst zwischen kleinsten Anstrengungen ausreichend Pausen ein.
Wichtig für Betroffene ist zudem, dass sie und ihr Umfeld unterstützt werden. Weil ihr Leid nicht erklärbar scheint, wird es auch von Krankenkassen oft nicht in der Schwere anerkannt. Zur Arbeitsunfähigkeit – laut einer dänischen Studie sind 60 Prozent betroffen – kommt die Pflegebedürftigkeit. Zur finanziellen Belastung die psychische. Ab Januar untersucht Scheibenbogens Institut zusammen mit einer Rehaklinik in einer Studie, wie 250 Betroffene bestmöglich versorgt werden können. Uta Behrends in München führt ein gemeinsames Patientenregister mit Biobank für ME/CFS. Beide Expertinnen geben zudem ärztliche Fortbildungen. Das trifft sich gut. Denn mit der Covid-19-Pandemie ist die Forschung laut Fachleuten noch dringlicher geworden.
Los geht’s oft mit einem Virus
Häufig bricht ME/CFS nach einem schweren Infekt aus. Oft, wie bei Tim S., mit dem Epstein-Barr-Virus. Es löst das Pfeiffersche Drüsenfieber aus. Neuere Studien weisen darauf hin, dass das Immunsystem nach der Infektion im Krisenmodus bleibt, nicht mehr runterfährt. Vermutlich passiert das aufgrund einer Autoimmunreaktion, die den Energiestoffwechsel einschränkt. Die Abwehr greift körpereigene Strukturen an.
Es gibt Behandlungsansätze mit neuen Arzneien. In kleinen Studien schienen sie teils zu wirken. „Wir müssen die Pharmaindustrie ins Boot holen. Dann könnte es in drei Jahren zugelassene Medikamente geben“, sagt Scheibenbogen. Die werden dringend benötigt. Denn Scheibenbogen behandelt auch Long-Covid-Betroffene. Und stellt fest: Etwa jeder Zehnte erfüllt die Kriterien von ME/CFS.