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G93.3. Menschen mit ME/CFS kennen diesen Code. Er ist Teil des ICD-10-Codes, mit dem die Weltgesundheitsorganisation Krankheiten einordnet und über den Ärzte ihre Diagnosen stellen. G93.3 bedeutet: Chronisches Fatigue Syndrom, auch Myalgische Enzephalomyelitis genannt – eingeordnet unter "sonstige Krankheiten des Nervensystems".

Für Menschen mit ME/CFS heißt das: Es gibt diese Krankheit. Sie bilden sich ihre Beschwerden nicht ein. Es ist keine psychische Erkrankung, wie so viele Ärzte und Ärztinnen behaupten, sondern eine neurologische. Obwohl das Chronische Fatigue Syndrom schon seit Jahrzehnten im ICD-10-Code steht, wissen Ärzte und Forscher immer noch nicht genau, was hinter dem Beschwerdekomplex steckt, über den so viele Menschen klagen. In Deutschland sind es schätzungsweise 240.000 bis 300.000.

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Long Covid / Post Covid

Viele Menschen haben längerfristig mit den Nachwehen einer Covid-19-Infektion zu kämpfen. Experten fassen die vielfältigen Beschwerden unter dem Sammelbegriff Long Covid oder Post Covid zusammen. Die neue Leitlinie vom Juli 2021 soll dazu beitragen, die Betroffenen angemessen zu behandeln zum Artikel

Ist ME/CFS eine Autoimmunerkrankung?

Hierzulande gibt es lediglich eine Handvoll Wissenschaftler, die sich intensiv mit dem Syndrom befassen. Zwei davon sind Professorin Carmen Scheibenbogen, Leiterin der einzigen Spezialambulanz für Erwachsene mit ME/CFS an der Charitè in Berlin, und Professorin Uta Behrends von der Technischen Universität München, die die einzige Ambulanz für Kinder und Jugendliche mit der Krankheit leitet.

"Vieles spricht dafür, dass es sich bei ME/CFS um eine Autoimmunerkrankung handelt, die unter anderem die Funktionen des autonomen Nervensystems stört", erklärt Scheibenbogen. Das autonome Nervensystem ist der Teil des Nervensystems, der nicht willentlich gesteuert wird. Es besteht aus einem aktivierenden Part, dem Sympathikus, und einem beruhigenden, dem Parasympathikus. Über beide Teile werden zahlreiche Körperfunktionen beeinflusst.

Auch Behrends berichtet über Hinweise, dass hinter dem Syndrom "eine Autoimmunkrankheit stecken könnte, die zu einer Fehlregulation des Immun- und Nervensystems sowie des zellulären Energiestoffwechsels führt". Auslöser scheint in den meisten Fällen eine Infektion zu sein, häufig eine mit dem Epstein-Barr-Virus, dem Erreger des Pfeifferschen Drüsenfiebers. Wie es der Begriff "Syndrom" nahelegt, handelt es sich bei ME/CFS aber wahrscheinlich nicht um eine einheitliche Erkrankung. Vielmehr könnten sich mehrere Krankheitsbilder unter dem Schirm "Chronisches Fatigue Syndrom" sammeln, die zu ähnlichen Beschwerden führen.

Zahlreiche Symptome

Beschwerden finden sich zahlreiche, mit denen Betroffene zu kämpfen haben. Als charakteristisch gelten eine ausgeprägte Erschöpfung sowie eine Verschlimmerung praktisch aller Symptome nach zum Teil sehr geringer körperlicher oder geistiger Aktivität – die sogenannte Belastungsintoleranz. Dazu gesellen sich häufig chronische Kopf-, Muskel- und Gliederschmerzen, Magen-Darm-Probleme, Konzentrations-, Gedächtnis- und Schlafstörungen, ein grippeartiges Gefühl und weitere Symptome. "Manche Patienten sind so schwer krank, dass sie vollständig bettlägerig sind und nicht mehr richtig kauen und schlucken können", so Scheibenbogen. Behrends ergänzt: "Die Lebensqualität dieser Menschen ist zum Teil erheblich eingeschränkt."

Niemand kann besser beschreiben, wie es sich anfühlt, diese Krankheit zu haben, als Betroffene selbst. Sitzt man beispielsweise Birgit S. gegenüber, wirkt die junge Frau aufgeweckt, fröhlich, neugierig – gesund. Dennoch ist ihr Leben nicht mehr das, was es einmal war.

Birgit S., 29, Stuttgart

Radfahren, Inlineskaten, Skifahren: Ich war ein sehr sportlicher und fröhlicher junger Mensch. Mit Abstand am meisten hat mich das Einradfahren begeistert. Ich bestritt Wettkämpfe, holte Medaillen und Pokale, engagierte mich im Verein und leitete die Einrad-AG in der Schule. Das bedeutete mir sehr viel.

Dann kam 2008. Erst bekam ich eine Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs, kurz nach Weihnachten dann Pfeiffersches Drüsenfieber. Mehrere Wochen war ich ans Bett gefesselt. Ich war so schwach, dass ich kaum essen und trinken konnte. Nach circa acht Wochen quälte ich mich wieder in die Schule. Aber ich wurde einfach nicht mehr gesund.

Ein Ärztemarathon begann. Da die Ärzte bei mir nichts Ungewöhnliches fanden, schoben sie alles auf die Psyche. Mir war aber von Anfang an klar, dass meine Beschwerden nicht einfach nur psychosomatisch sind. Ich fühle mich, als hätte ich eine echte Grippe und einen Kater: Gliederschmerzen, starkes Krankheitsgefühl, Schwäche, Erschöpfung, Zittern am ganzen Leib, wenn ich versuche aufzustehen, Schwindel, Übelkeit, Magenkrämpfe, Durchfall, heftige Kopfschmerzen und Muskelkrämpfe. So fühle ich mich jeden Tag, auch an meinen guten Tagen. Es gibt keinen Tag, an dem es mir wirklich gut geht. Und es wird von Jahr zu Jahr schlechter, was mir große Angst macht. Wie lange habe ich noch die Kraft, diesen Zustand auszuhalten?

Nach neuneinhalb Jahren stand endlich die Diagnose: Chronisches Fatigue Syndrom. Ich habe wohl eine milde bis moderate Form dieser Krankheit, mit stärkeren Schüben. Leider gibt es keine Medikamente gegen ME/CFS, da man noch so wenig darüber weiß.

Das Einzige, was ich machen kann: viel Ruhe und ein gutes Energiemanagement. Da ich finanziell darauf angewiesen bin, arbeite ich noch zu 50 Prozent, womit ich aber eigentlich immer mein Energielevel überschreite. Die restlichen Tage verbringe ich meistens im Bett. Ich verzichte auf alles, was nicht unbedingt sein muss, plane die Tage und Wochen genau durch, koche einmal die Woche und friere das Essen in kleinen Portionen ein, mache nur leichte Hausarbeit, wenn nötig. Das bedeutet aber auch: Ich habe viele meiner Hobbys verloren, sehe meine Freunde nur selten, kann keine Ausflüge machen, muss auf Sport verzichten. Der größte und schmerzhafteste Verlust ist, dass ich nicht mehr Einradfahren kann.

Auch Thorsten Meier* (*Name von der Redaktion geändert) merkt man nichts an. Er sieht sportlich aus, trägt Outdoorkleidung, redet ruhig und gelassen. Und doch ist alles anders, als es scheint.

Thorsten Meier, 45, München

Ich hatte einen Vollzeitjob, machte oft Dienstreisen und pendelte täglich zwei Stunden zur Arbeit. Zusätzlich war ich sportlich sehr aktiv, fünf- bis sechsmal pro Woche Laufen, Bergwandern, Kraft- und Fitnesstraining, Badminton, Schwimmen. Ich legte circa 8000 bis 12000 Schritte pro Tag zurück. Natürlich pflegte ich soziale Kontakte, unterhielt mich angeregt, ging aus.

Dann hatte ich Pfeiffersches Drüsenfieber, das bei mir sehr schwer verlief. Ich musste zwei Wochen ins Krankenhaus und lag davon fünf Tage auf der Intensivstation. Die Diagnose ME/CFS bekam ich etwa anderthalb Jahre später. Das war 2014. Die Krankheit verläuft bei mir moderat bis schwer.

Ich fühle mich schon nach kleinsten Tätigkeiten, nach wenigen hundert Metern Gehen oder ein paar Minuten Stehen so erschöpft, dass ich mich rasch hinlegen muss. Es ist eine andere Erschöpfung als eine, die man nach einem langen Arbeitstag oder einer Bergtour empfindet. Sie ist unangenehm, krankhaft. Außerdem kann ich mich schlecht konzentrieren, sodass ich manchmal nicht mehr als eine Seite Text lesen kann. Ich schwitze stark unter den Achseln und habe Zuckungen beim Einschlafen, wie bei einem Restless Legs Syndrom. Im Gegensatz zu anderen Betroffenen habe ich aber kaum Schmerzen und Verdauungsprobleme.

Das Einzige, was mir hilft: innerhalb meiner Energiegrenzen bleiben und mich so oft ins Bett zu legen wie nötig. Für das Energiemanagement, das Pacing, braucht es Erfahrung, ein gutes Körpergefühl und viel Selbstdisziplin. Mein Alltag sieht heute so aus: Aufstehen, duschen, frühstücken, dann liegen und ausruhen. Einkaufen mit dem Auto, wieder liegen und ausruhen. Essen machen, hinlegen und ausruhen. Lesen soweit möglich, Filme ansehen. Hin und wieder Arztbesuche. Wo ich nicht mit dem Auto hin kann, das bleibt für mich unerreichbar.

Das bedeutet: Mein Leben hat sich komplett verändert: Arbeiten, Sport und anspruchsvolle intellektuelle Betätigung sind nicht mehr möglich – also genau das, was mein Leben früher ausgemacht hat. Auch soziale Kontakte habe ich stark eingeschränkt. Intensive Gespräche sind einfach zu anstrengend. Zudem schäme ich mich, eine Krankheit zu haben, die man mir nicht ansieht, die niemand kennt oder die sogar für eine Geisteskrankheit oder Hypochondrie gehalten wird.

Es fehlt an Diagnoseverfahren und Therapien

Die beiden Fälle zeigen nicht nur, wie sehr ME/CFS das Leben der Erkrankten auf den Kopf stellt, sondern woran es noch mangelt: an geeigneten Diagnoseverfahren und Therapien. "Wir benötigen dringend Biomarker, um Patienten eindeutig diagnostizieren zu können", sagt Behrends. Das würde Betroffenen wie Birgit S. jahrelange Arzt-Odysseen ersparen. "Doch dafür müsste die Forschung besser gefördert werden. Derzeit finanziert sie sich in erster Linie über Spenden", ergänzt die Ärztin. Momentan wird die Diagnose per Ausschlussverfahren gestellt. Das heißt: Lässt sich keine andere Erkrankung finden, die zu ähnlichen Beschwerden führt, und passt der typische Symptomkomplex, dann gilt ME/CFS als sehr wahrscheinlich.

Da noch so wenig über die Krankheit bekannt ist, fehlt auch eine maßgeschneiderte Therapie. "Bislang können wir nur Symptome wie Schmerzen und Schlafstörungen behandeln", erläutert Scheibenbogen. Gegen die Belastungsintoleranz, die schon durch leichte Aktivitäten oder Stress ausgelöst wird und zu teils dramatischen Zustandsverschlechterungen führt, gibt es kein Patentrezept. "Hier hilft ein individuelles Energiemanagement", so Behrends. Also genau das, was Betroffene wie Birgit S. und Thorsten Meier machen: alles so weit herunterfahren, wie notwendig, um Überlastungen zu vermeiden. Das heißt: alle Aktivitäten der krankheitsbedingt eingeschränkten Energie so gut es geht anpassen.

Problem: Viele Ärzte kennen sich mit ME/CFS zu wenig aus

"Ein riesiges Problem ist zudem, dass sich viele Ärzte und Ärztinnen nicht mit der Krankheit auskennen", sagt Birgit Gustke, Vorsitzende des Selbsthilfevereins Fatigatio. Viele Betroffene werden fälschlicherweise für psychisch krank gehalten und bekommen keine oder kontraproduktive Therapien verordnet. Zum Beispiel Sport, der einen Menschen mit ME/CFS aber rasch körperlich überlasten kann.

So müssen Viele kämpfen, obwohl sie eigentlich keine Kraft haben. Nicht nur mit Ärzten, sondern auch mit Krankenkassen, wenn es um die Erstattung bestimmter Untersuchungen geht, mit ihrer Rentenversicherung wegen der Genehmigung einer Erwerbsminderungsrente, mit Behörden, die den Schwerbehindertenausweis ausstellen. "Auch Freunde und Familie verstehen oft nicht, was mit dem Angehörigen los ist", so Gustke.

Initiativen von Betroffenen

Um für mehr Aufmerksamkeit, Anerkennung und Forschung zu sorgen, ergreifen Patientenorganisationen, Ärzte, Stiftungen und Privatleute die Initiative. Die Niederländerin Evelyn van den Brink, die schwer an ME/CFS erkrankt ist, ließ sich beispielsweise im Oktober 2019 im Krankenbett ins Europäische Parlament bringen. Mit Sätzen wie "wir sind nur unsichtbar, wenn man nicht hinsieht" und "auch Krebs, Multiple Sklerose und AIDS galten früher als psychisch bedingt, bis man die Ursachen herausfand" plädierte sie für mehr Mittel für die biomedizinische Forschung.

Im März 2020 fand ein erstes parlamentarisches Fachgespräch im Bundestag statt, bei dem Patientenorganisationen und Politiker über die schlechte Versorgungslage der Erkrankten in Deutschland sprachen. Ärztinnen wie Scheibenbogen und Behrends organisieren Fortbildungen für ihre medizinischen Kollegen. Und: "Wenn es mehr Geld für die Forschung gäbe und mehr Unterstützung seitens der pharmazeutischen Industrie, dann könnten wir wahrscheinlich in wenigen Jahren gezielte Medikamente entwickeln", hofft Scheibenbogen.

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