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Wie wahrscheinlich ist es, dass ich in den kommenden zehn Jahren einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleide? Wenn diese Frage beim Praxistermin auftaucht, müssen Ärztinnen und Ärzte weder ein Orakel befragen noch mit den Achseln zucken. Sie können auf sogenannte Scores zugreifen. Daten aus großen Studien wurden dafür in Formeln umgerechnet, die eine Wahrscheinlichkeit in Prozent angeben. Denn das Risiko lässt sich selten aus einzelnen Werten bestimmen – sondern meist nur in der Gesamtschau verschiedener Faktoren. Ausnahme: Menschen, die bereits von einem Infarkt betroffen waren. Dann zählen sie automatisch zur Hochrisiko-Gruppe.

Risiko-Einschätzung möglich

Eine Einschätzung soll etwa „arriba“ bieten, ein vor allem in deutschen Haus­arztpraxen eingesetztes Beratungsinstrument. Ärztinnen und Ärzte tragen dabei unter anderem Alter und Geschlecht ein, ob jemand raucht, Blutdruck- und Cholesterinwerte. Das so ermittelte Risiko können sie für den Patienten oder die Patientin in Form von Smileys darstellen – und ebenso, wie es gesenkt werden kann. Dabei können verschiedene Maßnahmen verglichen werden: etwa, wie viel Änderungen des Lebensstils oder Arzneien bringen. Am Ende entscheiden medizinisches Personal und Betroffene gemeinsam. „Auf diese Weise steigt die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten, und sie halten sich eher an ihre Therapie“, sagt Dr. Günther Egidi, Allgemeinmediziner und Hausarzt in Bremen.

Der arriba-Score basiert auf Daten, die in Framingham erhoben wurden, einer 70.000-Einwohner-Stadt nahe Boston (USA). Seit 1948 untersuchen Forscherinnen und Forscher dort im Fünf-Jahres-Abstand inzwischen 15.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Erhebungen haben wesentlich dazu beigetragen, dass heute etwa hoher Blutdruck und hohe Blutfettwerte als Risiko für Herz und Gehirn bekannt sind. Und dass wir inzwischen wissen: Das ist nicht nur Schicksal, sondern durch Bewegung, Ernährung und Medikamente beeinflussbar.

Anpassung der Studien

Der Framingham-Risikorechner wurde für arriba mit einem Korrekturfaktor auf in Deutschland lebende Menschen angepasst. Denn Menschen bringen ein unterschiedliches Grundrisiko mit, auch innerhalb Europas: In südlichen Ländern ist es geringer als in Nordeuropa. Die Ursachen dafür sind letztlich spekulativ.

Das deutsche Framingham ist Münster. Dort startete Professor Gerd Assmann im Jahr 1978 die Procam-Studie, an der im Laufe der Jahre rund 31.000 Männer und 19.000 Frauen teilnahmen. Im Abstand von vier Jahren wurde ermittelt, wer einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlitten hatte. Insgesamt 51 Faktoren erhoben die Forscherinnen und Forscher, vom Körpergewicht über das familiäre Risiko bis zu Cholesterinwerten. Ähnliche Elemente wie bei der Framingham-Studie kristallisierten sich dabei als die wichtigsten Risikofaktoren heraus. Sie bildeten die Basis für die sogenannten Procam-Scores. Die gibt es, inzwischen aktualisiert, getrennt für das Herzinfarkt- und das Schlaganfall-Risiko.

Procam-Score überzeugt

Doch welches Testsystem ist zuverlässiger? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Genauigkeit der Prognosen für zehn verschiedene Scores verglichen, doch ihre Studie hat methodische Mängel. Auch andere Studien ergeben kein einheitliches Bild. Was die viel benutzten arriba und Procam betrifft, gibt es einige Unterschiede. In arriba wird zum Beispiel die Einstellung eines Diabetes abgefragt, bei Procam wird der Cholesterinwert aufgegliedert.

Während die Entwickle­rinnen und Entwickler von arriba darin keine zusätzliche Information sahen, betont Assmann, Vorsitzender der von ihm und seiner Frau ge­grü­ndeten Assmann-Stiftung für Prävention: „Das LDL-Cholesterin ist neben dem Rauchen der überragende Risikofaktor für einen Herzinfarkt, noch vor einem Diabetes.“ Assmann wirbt für den Procam-Score: Seine Ergebnisse seien hoch­rangiger publiziert, in Deutschland ermittelt und mit wesentlich mehr Menschen hinsichtlich ihrer Qualität bewertet worden als jene von arriba.

Nicht einig sind sich Forschungsteams auch über die Art, wie das Testergebnis Patientinnen und Patienten präsentiert werden sollte: als schlichter Prozentwert, in Form von Smileys oder als eine Art Tachoscheibe von Grün über Gelb bis Rot für hohes Risiko?

Was der Procam-Score bedeutet

Eine neue Idee setzt Assmann um: die Bestimmung des sogenannten Herzalters anhand des Procam-Scores. Der virtuelle Wert gibt wieder, inwieweit das Risiko vom durchschnittlichen im betreffenden Alter abweicht. „Wenn das biologische Herzalter fünf Jahre höher ist als das kalendarische, ist das Motivation genug, zum Arzt zu gehen“, meint Assmann. Mehr als 560.000 Menschen haben bereits mitgemacht. Zum Jahresende soll die Marke von einer Million geknackt werden – auch mit Unterstützung des Wort & Bild-Verlags, in dem die Apotheken Umschau erscheint. Der Verlag ist Partner der Assmann-Stiftung für Prävention.

Professor Bernhard Schwaab, Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Professor Bernhard Schwaab, Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Eines haben alle der international rund 300 Scores gemeinsam: Sie können niemals alle Risikofaktoren für Schlaganfälle und Herzinfarkte erfassen. Deshalb sind die Prognosen der Tests nie ganz genau, unter- oder überschätzen das tatsächliche Risiko. Messfehler können ein Übriges tun, etwa durch eine nicht standardisierte Art der Blutdruckmessung. Aus diesen Gründen stößt jeder Score an seine Grenzen. Für Fachpersonal heißt das, dass es auch andere Faktoren im Blick behalten sollte. „Man darf als Arzt nicht eine Zahl behandeln, sondern muss immer den ganzen Menschen betrachten“, betont Professor Bernhard Schwaab, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Eine Prognose mit Aha-Effekt

„Es gibt nicht den einen Score, der alles kann“, sagt Schwaab. Er arbeitet mit dem von der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie entwickelten Score-2, dem dritten in Deutschland häufig eingesetzten Test. Jeder Score sei angreifbar, so Schwaab, aber er sei trotzdem hilfreich. Der Aufwand ist für Patientinnen und Patienten nicht besonders groß. Der Gesundheits-Check, auf den gesetzlich Versicherte über 35 alle drei Jahre Anspruch haben, erfasst alle nötigen Werte. Der Score könnte ein Ansporn für eine gesündere Lebensweise sein. Eine Prognose mit Aha-Effekt.

Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Version hieß es, gesetzlich Versicherte über 35 Jahre hätten alle zwei Jahre Anspruch auf den Gesundheits-Check. Tatsächlich sind es jedoch alle drei Jahre. Den Fehler haben wir korrigiert.


Quellen:

  • Assmann-Stiftung für Prävention: Deutschland bestimmt das Herzalter. https://www.herzalter-bestimmen.de (Abgerufen am 18.04.2023)
  • arriba-Genossenschaft: Kardiovaskuläre Prävention, Kardiovaskuläres Risiko berechnen. https://arriba-hausarzt.de/... (Abgerufen am 25.04.2023)
  • Donner-Banzhoff N, Altiner A: arriba Kardiovaskuläre Prävention, Modul-Beschreibung. https://arriba-hausarzt.de/... (Abgerufen am 25.04.2023)
  • Angelow A et al.: Validierung der kardiovaskulären Risikoprädiktion des arriba-Instruments, Eine Analyse auf Basis von Daten der Study of Health in Pomerania. In: Deutsches Ärzteblatt 11.07.2022, 27-28: 476-482
  • Framingham Heart Study: Three generations of health research. https://www.framinghamheartstudy.org (Abgerufen am 26.04.2023)
  • framingham.com: The framingham heart study. https://framingham.com/... (Abgerufen am 26.04.2023)
  • McCormack J, Pfiffne P: The Absolute CVD Risk/Benefit Calculator. https://cvdcalculator.com/... (Abgerufen am 26.04.2023)
  • Assmann-Stiftung für Prävention: Über die PROCAM-Studie. https://www.assmann-stiftung.de/... (Abgerufen am 26.04.2023)
  • Assmann-Stiftung für Prävention: PROCAM Gesundheitstest PROCAM Schnelltest PROCAM Schlaganfalltest. https://www.assmann-stiftung.de/... (Abgerufen am 26.04.2023)
  • Assmann G et al.: Assessing risk of myocardial infarction and stroke: new data from the Prospective Cardiovascular Münster (PROCAM) study ‡. In: European Journal of Clincical Investigation 01.08.2007, 37: 925-932
  • SCORE2 working group and ESC Cardiovascular risk collaboration: SCORE2 risk prediction algorithms: newmodels to estimate 10-year risk of cardiovascular disease in Europe. In: European Heart Journal 13.06.2021, 42: 2439-2454
  • SCORE2-OP working group and ESC Cardiovascular risk collaboration: SCORE2-OP risk prediction algorithms: estimating incident cardiovascular event risk in older persons in four geographical risk regions. In: European Heart Journal 13.06.2021, 42: 4255-2467
  • Grammer TB et al.: Cardiovascular risk algorithms in primary care: Results from the DETECT study. In: Scientific Reports 31.01.2019, 9: 1101-1112
  • Scheltens T et al.: Estimation of cardiovascular risk: a comparison between the Framingham and the SCORE model in people under 60 years of age. In: European Journal of Cardiovascular Prevention and Rehabilitation 01.10.2008, 15: 562-566
  • Yusuf F et al.: Effect of potentially modifiable risk factors associated with myocardial infarction in 52 countries (the INTERHEART study): case-control study. In: The Lancet 11.09.2004, 364: 937-952
  • Deutsche Herzstiftung: Deutscher Herzbericht 2021. https://herzstiftung.de/... (Abgerufen am 26.04.2023)