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Zuzanna* sieht müde aus, ihr Gesicht ist zerknittert von der Nacht. Sie sitzt auf der Terrasse vor der Küche. Gegen das Novemberwetter trägt sie eine beige Steppjacke. In der einen Hand hält sie eine Zigarette, in der anderen eine Tasse mit polnischem Kaffee. Es ist Spätherbst 2021, und die morgendliche Zigarette ist einer von wenigen Momenten, den sie für sich hat, wenn sie in Deutschland ist. Den Großteil ihrer Zeit muss sie nach Walther* sehen. Für mehrere Wochen dreht sich in ihrem Leben alles um ihn.

Zuzanna ist Mitte 60, seit über zehn Jahren arbeitet sie in Deutschland als sogenannte 24-Stunden-Betreuerin für alte und kranke Menschen. Das bedeutet: Arbeit rund um die Uhr. Für zwei bis vier Monate zieht sie bei pflegebedürftigen Menschen zu Hause ein und ist ihre helfende Hand bei allem, was anfällt.

Wo Pflegerin und zu Pflegender zusammenleben

So auch bei Walther. Sie hat den Plan, wenn der 92-jährige Demenz-Patient vergisst, was gerade ansteht. Sie muss ihn morgens wecken, duschen und anziehen. Mit Walther frühstücken, spazieren gehen und für ihn Essen kochen. „Ich schwitze“, sagt Zuzanna, während sie den Müll leert. Immer wieder schaut sie auf die Uhr und hakt die Programmpunkte des Tages im Kopf ab. Essenszeiten und Arzttermine geben die grobe Struktur vor. Zwischendurch erledigt Zuzanna Aufgaben im Haushalt und bereitet die Mahlzeiten vor. Wenn es nicht Pudding oder Pommes gibt, stochert Walther mit der Gabel in seinem Essen he­rum. Im Alter ist er mäkelig geworden, Bissen für Bissen muss Zuzanna ihn zum Essen ermuntern. Die meiste Zeit sitzen sie sich am Tisch gegenüber und schweigen.

500.000

Geschätzt rund eine halbe Million ausländische Betreuungskräfte arbeiten in deutschen Haushalten (Studie von 2019). 2009 beliefen sich die Schätzungen noch auf rund 200 000

Das Haus von Walther steht in einer kleinen Gemeinde im Kreis Nordfriesland in Schleswig-Holstein. Bis vor Kurzem hat er hier noch gemeinsam mit seiner Frau Marita* gelebt. Auch sie wurde von Zuzanna gepflegt. Im Erdgeschoss wohnt und schläft Walther, im ersten Stock hat Zuzanna ihr Zimmer. Bad und Toilette teilen sie sich. Auf die Frage, ob ihr das unangenehm ist, verzieht Zuzanna das Gesicht. Ein eigenes Bad wäre ihr schon lieber. Die Einrichtung in ihrem Zimmer hat sie nicht verändert. Persönliches von ihr gibt es wenig. Fotos von ihrer Familie hat sie nur auf dem Handy. Eine Schale Quitten steht auf dem Schrank. Die riechen so gut, sagt Zuzanna.

Ganz anders sieht es in ihrem Zuhause in den polnischen Masuren aus: Eine große Hängepflanze schmückt die Küchendecke, der Geruch von Duftkerzen vermischt sich mit dem Zigarettenrauch in der Luft. Gesellschaft hat sie ständig, vor allem ihre Kinder, zehn sind es insgesamt, alle selbst schon erwachsen, besuchen sie regelmäßig.

24-Stunden-Pflegekräfte: Systematischer Gesetzesbruch

So auch an diesem Abend im vergangenen Dezember. Zuzanna ist vor wenigen Tagen erst aus Norddeutschland zurückgekehrt. Zusammen sitzen sie am Wohnzimmertisch und unterhalten sich. Sie möchte sich neu einrichten, die Möbel sind ihr zu alt, ihre Kinder beraten sie. Mittendrin verlässt Zuzanna das Zimmer und holt noch ein paar Bier aus dem Getränkeladen direkt unter ihrer Wohnung. Bis spät sitzen sie so zusammen.

In der kleinen Gemeinde in Norddeutschland hingegen kennt Zuzanna kaum jemanden. Wenn sie und Walther ihren täglichen Spaziergang machen, nickt man ihr zu, sagt „Hallo“. Doch Besuch bekommt nur Walther. Dann kümmert sich Zuzanna um Kaffee und Kuchen.

94 Prozent

der häuslichen Betreuungskräfte, die in Deutschland arbeiten, stammen aus Polen.

Der „Branchenreport 2021“ schreibt, dass 94 Prozent der 24-Stunden-Pflegekräfte in Deutschland aus Polen kommen. Zuzanna ist eine von ihnen. Manche von ihnen arbeiten schwarz, andere kommen als Selbstständige. Viele sind wie Zuzanna über Agenturen im europäischen Ausland angestellt, die die Pflegekräfte nach Deutschland entsenden. In diesem Fall gibt es meist zwei Verträge: einen Arbeitsvertrag zwischen Pflegekraft und Agentur und einen Vermittlungsvertrag zwischen Agentur und Familie. Oft ist noch eine deutsche Vermittlungsagentur involviert.

„Das Modell der sogenannten 24-Stunden-Pflege basiert auf systematischem Gesetzesbruch“, sagt Verdi-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler in einer Pressemitteilung von 2021. 24-Stunden-Pflege verstoße gegen den gesetzlichen Mindestlohn und gegen das Arbeitszeitgesetz. Regelungen zur maximalen täglichen Arbeitszeit sowie Ruhezeiten würden nicht eingehalten. Außerdem würden die Betreu­ungskräfte für weniger Stunden bezahlt, als sie tatsächlich arbeiten.

24-Stunden-Pflege: Arbeit rund um die Uhr

1700 Euro netto verdient Zuzanna monatlich. Das sei zwar zu wenig, aber sie beschwert sich nicht. Nicht über die Arbeit, nicht über die Bedingungen, nicht über das Geld. In Polen müsste sie dafür sehr viel mehr arbeiten, sagt sie. Auf dem Papier haben Pflegekräfte wie Zuzanna einen Achtstundentag. Inoffiziell arbeiten sie rund um die Uhr – so gerechnet ergibt sich ein Stundenlohn von etwa zwei Euro.

Offiziell geht Zuzannas Arbeitstag bis 19 Uhr. Bereitschaft hat sie die ganze Nacht. Neben ihrem Bett liegt ein Tablet, das mit einer Kamera im Schlafzimmer von Walther verbunden ist. Falls in der Nacht etwas mit Walther ist, muss sie aufstehen und ihm helfen. Zwei Tage in der Woche besucht Walther die Tagespflege. Zuzannas „freie Tage“, wie sie sagt. Dass sie in dieser Zeit die Wohnung putzt und hin und wieder einkauft, ist für sie selbstverständlich.

12 Euro

pro Stunde beträgt der Mindestlohn in Deutsch­land seit 1. Oktober 2022. Er steht auch ausländischen Betreuungskräften zu.

Österreich als Vorbild in Sachen Bezahlung?

Bezahlung und Arbeitsbedingungen von häuslichen Betreuungskräften wurden zuletzt häufiger diskutiert. So auch 2021, nachdem die Pflegerin Dovrina D. gegen ihren bulgarischen Arbeitgeber klagte, weil in ihrem Arbeitsvertrag weniger Stunden vorgesehen waren, als sie tatsächlich arbeitete. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts: Auch in Bereitschaftszeiten bestehe Anspruch auf Mindestlohn.

Die Ampel-Koalition möchte sich diesem Thema annehmen und „eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich“ gestalten, heißt es im Koalitionsvertrag. Der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege, in dem Agenturen und Dienstleister für ausländische Betreuungskräfte organisiert sind, schlägt ein Modell wie in Österreich vor. Dort sind häusliche Betreuungskräfte selbstständig tätig und so auch sozialversichert. Aber: Vor 24-Stunden-Diensten und Ausbeutung sind sie so noch nicht geschützt. Ein Gespräch über die Arbeitsbedingungen meidet Zuzanna: „Da kannst du nichts machen, wenn dir die Arbeit nicht gefällt, dann musst du was anderes machen.“

Pflege bis zum Lebensende

Bevor Zuzanna zu einer neuen Familie kommt, erfährt sie nichts über die Personen vor Ort. Lediglich wann und wo sie arbeiten wird. Walthers Kinder haben Zuzanna anhand eines Steckbriefs ausgewählt. „Die Betreuerin hat ihren Senioren das Alltagsleben erleichtert“, steht dort. „In der Freizeit arbeitet sie gerne im Garten. Sie interessiert sich auch für Floristik.“ Oben rechts in der Ecke ist ein kleines Foto von ihr: Die kurzen grauen Haare hat sie darauf ordentlich zum Seitenscheitel gekämmt, sie lächelt freundlich.

Die erste Frau, die Zuzanna gepflegt hat, begleitete sie über vier Jahre bis zu deren Tod. Sogar über Weihnachten ist sie einmal geblieben, weil sie sich wohlgefühlt hat. Eine andere Familie hat sie nach zwei Wochen verlassen, weil die Tochter ihres Patienten sie schikaniert habe, erzählt sie.

In der Familie in Norddeutschland fühlt sie sich wohl. Seit März 2021 fährt sie immer wieder hin. Die Familie behandle sie gut, sagt sie. Hin und wieder bekommt sie einen Bonus ausgezahlt, und wenn Zuzanna im Supermarkt Süßigkeiten als Mitbringsel für ihre Enkelkinder kauft, zahlt Walthers Tochter diese auch mal mit. Auch von den Schmerztabletten darf sie sich nehmen, wenn ihr mal wieder der Rücken wehtut. Walther ist ihr inzwischen sehr ans Herz gewachsen, und auch zu seiner Frau Marita hatte Zuzanna eine enge Bindung aufgebaut. Als sie erfuhr, dass Marita vor ihrem Tod nicht mehr nach Hause kommen wird, weinte sie. Die alte Dame solle zu Hause sterben. „Ich bleibe ein paar Tage länger, kein Problem.“ Doch dazu kam es nicht. Kurz nachdem Zuzanna vergangenen Winter wieder abgereist war, starb Marita.

Treffpunkt der Kulturen

Multikulti? In der Pflege längst Alltag. Ohne Mitarbeiter aus dem Ausland ist die Arbeit nicht zu schaffen. Über Chancen, Probleme – und Vorurteile zum Artikel

Auch mit Walther ist es für Zuzanna in den vergangenen Monaten immer schwerer geworden. Seit seiner Corona-Infektion sind Herzrhythmusstörungen dazugekommen, die Arbeitsbelastung wird mehr. Konnte er vor einem Jahr noch selbst auf die Toilette gehen, muss sie ihn jetzt auch dabei unterstützen. Ruhig war es die vergangenen Wochen längst nicht mehr, erzählt sie im September am Telefon. Immer wieder mache Walther laute Geräusche, die Zuzanna als Schreie beschreibt. „Er bleibt nicht ruhig, das ganze Dorf hört ihn beim Spazieren“, sagt sie. Seine Tochter, die gegenüber wohnt, besucht ihn nun noch regelmäßiger – mehrmals täglich hilft sie Zuzanna. Denn für diese ist es nur noch unter großer Kraftanstrengung möglich, Walther alleine aus dem Bett zu heben. Seit der Covid-Infektion ist Walther außerdem inkontinent. „Das Bett war jede Nacht nass“, erzählt Zuzanna. Jetzt trägt er nachts Windeln, damit sie im besten Fall nicht mehr aufstehen muss.

Erschöpfung für finanzielle Unabhängigkeit

War sie zu Beginn vier Monate am Stück bei ihm, ist die Erschöpfung heute auch am Telefon kaum zu überhören: „Die Arbeit ist schwer, viel länger geht das nicht mehr.“ Diesmal möchte sie eigentlich gerne schon nach sechs Wochen abreisen. Sie ist müde und vermisst ihre Mutter. Doch trotz der Anstrengung möchte Zuzanna Walther gern in den Tod begleiten und überlegt, dafür doch noch ein paar Wochen länger zu bleiben. Ihren Kundinnen und Kunden einen ruhigen Tod zu ermöglichen, liegt Zuzanna am Herzen.

Die Entscheidung ist aber keine leichte. Wenn Zuzanna in der kleinen norddeutschen Gemeinde arbeitet, vermisst sie ihr Zuhause. Mehrmals pro Woche telefoniert sie mit ihren Kindern. Dann blüht Zuzanna auf, lacht und tauscht sich rege auf Polnisch aus. Es fällt ihr nicht leicht, ihre Familie immer wieder für mehrere Wochen zurückzulassen. Doch die 250 Euro, die sie in Polen an Rente bekommt, reichen nicht aus. Darum arbeitet Zuzanna weiter, pendelt zwischen ihrer Heimatstadt und Deutschland hin und her. Bestimmt noch vier bis fünf Jahre, wenn sie gesund ist und es schafft, sagt sie. Auch wenn sie auf ihre finanzielle Unabhängigkeit stolz ist: „Geld ist nicht alles“, sagt sie, „ich muss mich auch um meine Mutter kümmern.“

Richtig glücklich? Nur zuhause

Schon jetzt hilft Zuzanna ihr, wo sie nur kann, wenn sie in Polen ist. Regelmäßig besucht sie sie im Nachbardorf, bringt ihr Lebensmittel, saugt die Wohnung, putzt das Bad. Wenn sie aus Deutschland wiederkommt, haben sie sich viel zu erzählen. Zuzanna zeigt ihr Fotos von Walthers Familie, die sie von seiner Tochter bekommen hat. Stundenlang sitzen sie in dem Zimmer mit den niedrigen Decken und bunten Vorhängen beisammen, bis ihr Sohn kommt und sie abholt.

Mit Walthers Familie hat Zuzanna Glück gehabt, findet sie. Trotzdem freut sie sich jedes Mal Wochen vor ihrer Abreise aus der norddeutschen Gemeinde auf die Zeit in ihren eigenen vier Wänden. Der letzte Besuch zu Hause sei viel zu kurz gewesen, klagt sie. Nur 25 Tage war sie da. Erst musste sie wegen einer Covid-Infektion länger in Deutschland bleiben, dann wollte die zweite Pflegekraft, die sie ablöst, nicht länger bleiben. Wenn sie diesmal abreisen wird, möchte sie mindestens zwei Monate in Polen bleiben.

Mittlerweile ist sie zum 20. Mal Großmutter geworden, das Leben zu Hause bleibt nicht stehen, während Zuzanna in Deutschland arbeitet. Ob sie denn glücklich ist? „Glücklich bin ich, wenn ich zu Hause bin“, sagt sie und erzählt begeistert von einem Kinderwagen, den sie im Dorf in einem Schuppen mit gratis Flohmarkt-Sachen gefunden hat. Im Bus hat sie ihn mit nach Polen transportiert, zusammen mit all den anderen Souvenirs, die sie ihrer Familie jedes Mal mitbringt.

*Namen von der Redaktion geändert


Quellen:

  • Holsing C, Leistner S. Branchenreport 2021. Häusliche 24-Stunden-Pflege- und Betreuung. https://www.24h-pflege-check.de/assets/downloads/Branchenreport-2021.pdf

  • https://www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++759b76cc-d4f3-11eb-aa0a-001a4a16012a

  • Koalitionsvertrag der Ampelkoalition (hier Seite 64): https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf

  • "24-Stunde-Pflege": Die Schweiz und Österreich als Vorbilder? https://www.dw.com/de/24-stunden-pflege-die-schweiz-und-%C3%B6sterreich-als-vorbilder/a-58126863

  • Mindestlohn 2022: Was ändert sich? https://www.dgb.de/schwerpunkt/mindestlohn