Ein Betrieb mit Mitarbeitern aus 95 Nationen? Es gab Zeiten, da konnte es sich nur um einen Großkonzern handeln. Doch die Zahl steht für Münchenstift, den kommunalen Anbieter von Altenpflege in der bayerischen Hauptstadt. Multikulti beim Personalmix ist in der Pflegebranche heute der Normalfall – und soll künftig noch mehr Teil der Lösung der Personalnot sein.
#RettetDiePflege
Schon vor der Corona-Pandemie waren die Arbeitsbedingungen für Pflegende in Deutschland schlecht. Das alles hat sich in den vergangenen zwei Jahren noch deutlich verschärft. zum Artikel
Nachgefragt! beim Deutschen Pflegerat e.V.
Impfzwang für Pflegekräfte? Völlig unnötig, sagt Christina Vogler. Mit uns spricht Sie über mangelnde Impfstoffe für das Pflegepersonal und die breite Impfbereitschaft zum Artikel
Nicht mehr ohne
Deutschland sucht händeringend Pflegeprofis. Experten rechnen vor, dass in den nächsten Jahren Hunderttausende von Fachkräften fehlen. So hat Münchenstift einen Bedarf von 150 bis 200 Pflegenden pro Jahr. „Die bekommt man nicht alle auf dem deutschen Arbeitsmarkt“, weiß Sprecher Christian Liesenhoff. Wie viele Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen wirbt der Münchner Heimträger verstärkt um Personal aus dem Ausland – über Kandidatensuche vor Ort, Vermittlungsagenturen oder ein Pflege-Anwerbeprogramm wie„Triple Win“, das 2013 von der Bundesregierung angestoßen wurde.
Wie gut klappt das? Daten für Deutschland gibt es kaum, zumal das Statistische Bundesamt Pflegekräfte nicht nach Herkunft erfasst. Immerhin: Allein die Zahl der ausländischen Pflegeprofis, deren Examen von den deutschen Behörden anerkannt wurden, stieg seit 2016 um das Dreifache.
Damit die Neuen in der deutschen Pflegelandschaft klarkommen, brauchen sie nicht nur gute Sprachkenntnisse. In manchen Ländern ist die Pflege darauf angelegt, den Ärzten zur Seite zu stehen, weiß Annemarie Fajardo vom Deutschen Pflegerat. Man kennt Röntgen und EKG aus dem Effeff, ist aber vielleicht nicht so vertraut mit der Pflege am Patientenbett. Oft durchlaufen ausländische Fachkräfte Anerkennungskurse, um für die Arbeit in Deutschland fit zu sein.
Fachwissen ist das eine. Ankommen im Team und in Deutschland das andere. Klar, dass die Eingewöhnung den ausländischen Pflegekräften viel abverlangt. Doch auch die andere Seite sei gefordert, betont Fajardo. „Wichtig ist, nicht nur die Arbeitskraft zu sehen. Das Haus und die Kollegen sollten offen sein, bereit für Veränderungen.“ Daran, so die Pflegemanagerin, hapere es mitunter.
Eine weitere Frage ist: Kann man anderen Ländern guten Gewissens das Pflegepersonal abwerben? Das Programm „Triple Win“ und viele Kliniken und Heime betonen, sich am Kodex der Weltgesundheitsorganisation WHO zu orientieren: Fachkräfte nur aus solchen Staaten zu holen, die keinen Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal kennen. Dazu gehören zum Beispiel die Philippinen oder Tunesien: Länder mit einer jungen Bevölkerung, in denen der Pflegebedarf geringer ist als bei uns. Anders sieht es aus bei Ländern, die einen ähnlichen Altersschnitt haben wie Deutschland, etwa Bulgarien. „Hier aktiv Fachkräfte abzuwerben, finde ich ethisch fragwürdig“, so Fajardo. „Diese Länder haben das gleiche Problem wie wir.“
Kommentar: Verhinderter Traumberuf
Pflege-Boni, Prämien für Rückkehrer in den Beruf: Mit solchen Vorschlägen zeigt die Politik, dass sie die Sorgen und Nöte der Pflegekräfte nicht verstanden hat. Ein Kommentar von Kai Klindt zum Artikel
Respekt vor Älteren
Ohnehin: „Es werden ab 2030 rund 250 000 Stellen unbesetzt sein. Diese Zahlen können nicht durch ausländische Pflegekräfte gedeckt werden“, sagt Pflege-Professorin Miriam Tabira Richter von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg. „Wir müssen den Pflegeberuf zusätzlich auch bei uns attraktiver machen.“
Als kleine Erfolgsgeschichte in der Pflege entpuppt sich das Werben um Menschen, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland geflüchtet sind. Derzeit bietet Münchenstift pro Jahr 20 Plätze in einem Vorbereitungskurs für die Pflegeausbildung an. Der Andrang sei groß, freut sich die Sozialarbeiterin Christina Schnabl, die das Projekt managt: „Wir können bei Weitem nicht alle unterbringen, die sich bewerben.“
Wer im Mangelberuf Pflege arbeite, habe bessere Aussichten, auf Dauer in Deutschland bleiben zu können, erklärt Schnabl. Doch „dies ist nicht die ausschlaggebende Motivation – darauf achten wir“. Viele geflüchtete Menschen kämen aus einer Kultur, in der das Alter großen Respekt genießt. „Man möchte ein Lächeln auf dem Gesicht eines Älteren sehen“, sagt Schnabl.
So sehr Mitarbeiter mit ausländischen Wurzeln in der Pflege zum Alltag gehören, „sie stoßen dabei auch auf Diskriminierung“, weiß Pflegewissenschaftlerin Richter, die sich mit Migration in der Pflege befasst. Sei es, dass eine schwarze Pflegerin für eine Reinigungskraft gehalten wird oder Patienten Sätze sagen wie: „Ich möchte aber von einer richtigen Krankenschwester versorgt werden.“ „Ausländisch“ aussehenden Pflegekräften werde oft nicht die gleiche Kompetenz zugetraut wie dem „deutsch“ aussehenden Personal.
Es bleibt also noch viel zu tun. Die Pflege, findet Christina Schnabl, sei eigentlich ein gutes Feld, um Vorurteile abzubauen: „Man arbeitet gemeinsam an einer schönen Aufgabe: sich um hilfebedürftige Menschen zu kümmern.“
Krissa Fabillo (l.) kam 2020 auf die Abteilung von Doreen Müller (r.) im Klinikum Nürnberg
Krissa Fabillo, Krankenschwester
„Der, die oder das? Wo steht das Verb in einem Satz? Die deutsche Grammatik ist für mich schwer. Ich arbeite jetzt auf einer Aufnahmestation. Da muss ich viele Gespräche führen. Das ist anstrengend! Aber ich lerne dadurch viel. Auch ein bisschen Fränkisch: ‚Bassd scho!‘, das mag ich. Vieles ist anders als auf den Philippinen. Für mich war es ungewohnt, Männer zu pflegen, einen Katheter bei einem Mann zu legen. In meiner Heimat zahlt man für alles in der Klinik selbst. Man muss sogar die Fäden zur Operation mitbringen. In Deutschland gibt es Krankenkassen. Das ist ein Vorteil! Ich möchte hier professionell wachsen, vielleicht eine Weiterbildung machen.“
Doreen Müller, Stationsleiterin
„Krissa ist die zweite Fachkraft in meiner Abteilung, die aus dem Ausland angeworben wurde. Die erste kam aus Aserbaidschan. Zugegeben, am Anfang gab es im Team viel Skepsis: Ob die sich hier einfügen? Ob die hierbleiben? Das Verständnis von Pflege unterscheidet sich ja. Patienten waschen, Essen reichen, das machen im Ausland oft die Angehörigen. Aber wir haben bisher nur gute Erfahrungen gemacht. Die größte Herausforderung ist die Sprache. Das ist der Dreh- und Angelpunkt – ich muss dem Patienten sagen können, was ich mache, was ich von ihm möchte. Umgekehrt nützt es uns, dass Krissa fließend Englisch spricht. Die ausländischen Pflegekräfte haben eine unglaubliche Motivation: Dieser Ehrgeiz, zu lernen, sich etwas aufzubauen. Da ziehe ich immer wieder den Hut.“
Azubi Mustafa AmirI (r.) kümmert sich im Münchner Pflegeheim Haus St. Maria um die demenzkranke Frau von Guido Bucholtz (l.)
Guido Bucholtz, Angehöriger
„Als ich Mustafa das erste Mal sah, ist mir gleich aufgefallen: Der kommt so fröhlich daher, hat so eine Ausstrahlung. Der ist hier genau richtig! Ich weiß, wie wichtig eine positive Ansprache für meine demenzkranke Frau ist, die hier in die Tagespflege geht. Ich muss auch ehrlich sagen, es ist eine Bereicherung, dass hier Menschen aus so vielen Nationen arbeiten. Das sorgt für Gespräche und bringt Leben ins Heim. Und junge Männer wie Mustafa kommen bei den Bewohnerinnen gut an. Dass mal das eine oder andere deutsche Wort fehlt, spielt gar nicht so die große Rolle. Das Heim hat mal ein Kochbüchlein zusammengestellt mit landestypischen Rezepten der Mitarbeiter von überallher. Das fand ich toll. Leider ist mir die Moussaka nicht so gelungen …“
Mustafa Amiri, Pflege-Auszubildender
„Wenn ich den Bewohnern meine Geschichte erzähle, werden sie oft traurig. Sie haben viel Mitgefühl. Ich bin Ende 2015 nach Deutschland geflüchtet, war vorher mit meiner Familie in der Türkei und im Iran, habe als Kind gearbeitet. An die Pflege als Beruf hatte ich nie gedacht. Meine Betreuer in München schlugen mir vor, ein Praktikum im Heim zu machen. Da habe ich erst gemerkt, wie viel Spaß das macht! Ich mag es, Menschen zu helfen, ich sehe das vom Herzen her. Wenn ich nach einer Woche an der Berufsschule wieder ins Heim komme, freuen sich die Bewohner. Alle wollen mich umarmen, das ist so ein Glück! Manchmal singe ich türkische oder persische Lieder für die Bewohner, wenn es ihnen nicht gut geht. Sie hören das gerne. Zu meinen Kumpels sage ich: Ganz ehrlich, das ist ein toller Job! Ich habe auch schon eine Freundin überzeugt, in die Pflege zu gehen.“
Hausgemeinschaft auf Zeit: Monika N. (r.) unterstützt Sabine D. (l.) im Alltag
Sabine D., Seniorin
„Monika kam Ende 2020 zum ersten Mal zu mir nach Celle, und sie war mir gleich sympathisch. So warmherzig! Wir mögen beide Musik: Ich sitze gern am Flügel und spiele, und sie erträgt das geduldig. Wir unterhalten uns auf Englisch. Auch wenn grammatikalisch nicht alles stimmt, verständigen wir uns gut, mit Händen und Füßen. Nach sechs Wochen reist sie wieder zu ihrer Familie nach Polen. Zu mir kommen verschiedene Betreuungskräfte. Wir haben hier einen richtigen Wechsel drin. Ich hatte schon öfter den Atlas auf dem Tisch liegen und habe geschaut, wer wohin gehört. Ich bin früher viel gereist. In Polen war ich leider noch nicht. Gerne würde ich Monika das Celler Schloss zeigen.“
Monika N., Betreuungskraft
„Ich lerne langsam Deutsch. Wir sprechen englisch miteinander, das lerne ich seit zwei Jahren mit Internetvideos. Aber bei unseren Kontakten ist nicht nur die Sprache wichtig. Oft reichen Aussehen und Körpersprache. Frau D. und ich haben viele gemeinsame Interessen: Wir mögen Spaziergänge, bei denen sie mir deutsche Wörter beibringt. Wir mögen beide klassische Musik und Tanzen. Heimweh nach Polen habe ich eigentlich nicht. Ich bin immer nur sechs Wochen in Deutschland. Ich finde, die deutsche und die polnische Kultur sind sich ziemlich ähnlich. Aber beim Essen gibt es Unterschiede. 2020 habe ich als Küchenassistentin in einem Gasthaus im Schwarzwald die Geheimnisse der deutschen Küche erfahren. Ich lerne sehr gerne lokale Gerichte kennen.“