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Frau Hasseler, Ende November haben die Ampel-Parteien ihren Koalitionsvertrag veröffentlicht. Hier wird auch das Thema Pflege behandelt. Reichen die Vorschläge im Papier, um die Pflege in Deutschland zu retten?

Nein, das tun sie nicht.

Warum?

Hier gibt einige Punkte, die wir in Koalitionsverträgen seit 20 Jahren finden. Zum Beispiel Entbürokratisierung oder Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Neu dazugekommen ist in den vergangenen Jahren der Punkt Digitalisierung. Aber es wird kaum erklärt, wie das mit der Entbürokratisierung funktionieren soll oder wie man genau die Arbeitsbedingungen verbessern will. Da wird es vermutlich am Ende darauf hinauslaufen, dass es eine Sache zwischen Arbeitgeber und Tarifpartner bleibt.

Und was ist mit der Digitalisierung?

Digitalisierung ist gut und richtig, aber nur mit dem Schlagwort Digitalisierung werden wir die Probleme in der Pflege nicht lösen. Da brauchen wir strukturierte und systematische Ansätze. Im Grunde haben wir in diesem Papier erstmal nur eine Ansammlung von Themen. Mein Eindruck ist auch, dass die Folgen der Pandemie gar nicht einbezogen wurden. Aber die beeinflussen die pflegerische Leistung enorm.

Aber im Vertrag steh doch, dass es wegen Corona eine Milliarde Euro für Pflegekräfte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen geben wird. Auch soll die Steuerfreiheit des Pflegebonus‘ auf 3.000 Euro erhöht werden. Und: Es soll einen schnellen Ausbau des Personalbemessungsverfahrens in der Langzeitpflege geben – also, dass man besser bestimmen kann, wie viel Personal es braucht.

Die ersten genannten Punkte helfen nicht, die Probleme der Pflege langfristig zu lösen. Und das Personalbemessungsverfahren in der Langzeitpflege fördert nicht die professionelle Pflege, sondern eher die weniger qualifizierten Hilfskräfte. Welche Auswirkungen das auf die Qualität hat – das weiß ich nicht. Was ich aber weiß ist, dass wir ein deutliches Bekenntnis zur professionellen Pflege brauchen. Und das fehlt meiner Meinung nach in diesem Koalitionspapier.

Was meinen Sie mit professioneller Pflege?

In Deutschland versteht man unter Pflege vor allem Dinge wie ‚Waschen, Schneiden, Föhnen‘. Das hat aber nichts mit der professionellen Pflege zu tun. Pflegefachkräfte, die zum Beispiel im Krankenhaus arbeiten, übernehmen gemeinsam mit behandelnden Ärztinnen und Ärzten medizinische Verantwortung für die gesundheitliche Versorgung und sind wichtig, damit Erkrankte gut gesund – oder gar nicht erst krank werden.

Im Koalitionsvertrag wird die professionelle Pflege doch einige Male erwähnt?

Ja, aber man merkt auch: Die Verantwortlichen haben nicht verstanden, die professionelle Pflege von der Pflegeversicherung wirklich zu trennen. Die kommt auch oft im Vertrag vor, hat aber nichts mit der professionellen Pflege zu tun: Die Pflegeversicherung ist hauptsächlich dazu gedacht, einen Pflegegrad anzuerkennen, dass Pflegebedürftige zwischen drei Leistungsarten wählen können und die Pflege von Angehörigen Zuhause zu regeln, also die Laienpflege. Die Versicherung hat aber dazu geführt, dass viele Menschen in Deutschland glauben, Pflege bestehe aus Aufgaben wie eben ‚Waschen, Schneiden, föhnen‘. Das Fachliche in der Pflege wird kaum noch beachtet – das merkt man auch bei vielen Politikern.

Martina Hasseler ist Hochschulprofessorin an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften. Sie forscht unter anderem zum Fachkräftemangel in der Pflege.

Martina Hasseler ist Hochschulprofessorin an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften. Sie forscht unter anderem zum Fachkräftemangel in der Pflege.

Was meinen Sie damit?

Viele Politiker verstehen nicht, wozu ausgebildete Pflegefachkräfte da sind. Die Imagekampagne ‚Ehrenpflega‘ zum Beispiel hat gezeigt, dass so manche Politiker denken, man kann nicht ungebildet genug sein, um in der Pflege zu arbeiten. Zudem kommt immer wieder die Idee auf, Arbeitslose in den Beruf zu schicken. Als ob es ein Job wäre, den jeder machen kann. Die Pflegeversicherung hat einen Anteil an diesem Bild. Und es gibt noch einen Punkt im Koalitionspapier, der zeigt, dass Politiker den Beruf Pflege nicht ernstnehmen.

Welchen?

Der Teil mit der Befragung, ob die Pflege zukünftig in einer Selbstverwaltung organisiert werden soll. Also, dass es eine Körperschaft für Pflegeberufe gibt wie eine Pflegekammer. Ich verstehe nicht, warum man hier eine Befragung durchführen will. Eine Befragung wird großen Schaden für die Pflegeberufe anrichten. Das hat man in Niedersachsen und Schleswig-Holstein gesehen. Mir fällt keine andere Berufsgruppe ein, bei der man so verfahren hat. Es ist eigentlich die Aufgabe der Politik, die Entscheidung für eine Selbstverwaltung der Pflegeberufe zu treffen – aber bisher hat sie sich immer davor gedrückt.

Was beanstanden Sie noch?

Ich finde es überraschend, dass die Pflegebudgets im Bereich der Krankenhausfinanzierung nicht angesprochen werden. Oder das wahre Problem der Pflegeversicherung: Dass Investoren die Versicherung dazu nutzen, um ihre Rendite zu erhöhen. Es ist ja bekannt, dass private Pflegeunternehmen auf Kosten der Steuerzahler Gewinne erwirtschaften. Das Geld sollte aber zurück ins System fließen, um eine bessere pflegerische Versorgung zu gewährleisten.

Gibt auch positive Punkte im Koalitionsvertrag?

Da gibt es tatsächlich ein paar: Zum Beispiel, dass die professionelle Pflege durch heilkundliche Aufgaben ergänzt werden soll, oder der Punkt mit den „Community Health Nurses“. Das sind ja quasi die Gemeindeschwestern, die es früher gab und man jetzt wieder ausgegraben hat. Oder, dass der Pflegerat im Gemeinsamen Bundesausschuss...

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… auch GB-A genannt, dem höchsten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen …

…ein Mitspracherecht bekommen soll. Es ist zwar nur eine Stimme. Außerdem vertritt der Pflegerat nur bestimmte Verbände, man kann also über seine Legitimation diskutieren. Aber so hat man wenigstens eine kritische Stimme der Pflege im GB-A. Gut finde ich auch, dass Pflegestudierende ein Ausbildungsgehalt bekomme sollen. Wobei ich mir hier auch gewünscht hätte, dass eine Akademisierung der Pflege angesprochen wird. So wie es auch im internationalen Raum üblich ist. Aber das sind auch nur Pünktchen, die uns im Gesamtsystem nicht weiterhelfen.

Sie wollen, dass man für eine Arbeit als Pflegefachkraft studieren muss?

Genau. Das wäre nicht nur gut, um das Qualifikationsniveau, sondern auch das Ansehen der Pflege steigern. Denn es zeigt: Pfleger oder Pflegerin kann nicht jeder oder jede sein. Nehmen wir als Beispiel Irland: Da wurde der Beruf in den 90er-Jahren akademisiert. Wer bereits Pfleger war, musste sich nachqualifizieren. Die Folge: In Irland ist das ein hochanerkannter Beruf. Man ist stolz, als Pfleger zu arbeiten. In Deutschland dagegen ist es für viele der Job, den man macht, wenn man in der Schule nicht aufgepasst hat. Vor allem: Die Qualität der Pflege in Krankenhäusern, Pflegeheimen, ambulanter Pflege, Rehabilitation wird steigen. Patienten und Pflegebedürftige profitieren davon.

Würde eine Akademisierung aber nicht dazu führen, dass weniger Menschen Pflegekraft werden können – und den Notstand sogar verschlimmern?

Das Argument kommt oft, aber dem ist nicht so. Mit mehr Studiengängen werden wir mehr Bewerber haben, da die Pflege eine Profession sein wird – und nicht mehr die Resterampe der Nation. Länder wie Irland und Portugal hatten während der Pandemie sogar einen Zulauf an Pflegekräften. In Deutschland hat sich der Satz durchgesetzt „Pflegen kann jeder.“ Das ist aber nicht so, gute Pflege braucht sehr gut qualifizierte Pflegeberufe. Wenn dem so wäre, dass jeder pflegen kann, dann müssen und sollten wir die Pflegeausbildung streichen.

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Was für Lösungsvorschläge hätten Sie noch, um die Pflege zu retten?

Natürlich brauchen wir andere Finanzierungsstrukturen. Das in den 200er Jahren eingeführte Fallpauschalensystem hat dazu geführt, dass Pflegefachkräfte im zweistelligen Bereich entlassen wurden. Das ist einer der Hauptgründe, warum die Pflege aktuell in diesem desolaten Zustand ist. Auch die Pflegeversicherung hat die Leistungen beruflicher Pflege nie wirklich in der Fachlichkeit entlohnt. Berufliche Pflege muss leistungsrechtlich verankert werden, damit sie finanziert wird.

Was haben die Fallpauschalen damit zu tun?

Das System funktioniert so: Die Fallpauschalen decken nur medizinische Prozedere wie eine Operation ab, aber nicht die gesamte pflegerische Behandlung davor oder danach. Pflegekräfte haben in so einem System also keinen wirklichen ökonomischen Wert und wurden wegrationalisiert. Pflege wurde gar nicht ausreichend abgebildet. Das neue Pflegebudget, so wie es jetzt wohl gelebt wird, hat nicht das Potenzial, die Krankenhauspflege zu stärken. Man kann mit Dingen wie Personalbemessungsgrenzen nicht die Pflege retten, wenn es nicht genug Personal gibt, um in dem Bereich zu arbeiten. Viele Pflegekräfte können den Wahnsinn des Arbeitsalltags bereits nur so entgehen, indem sie in Teilzeit arbeiten. Pflege ist für viele einfach keine Arbeit, die sie bis ins hohe Rentenalter aushalten. Und es ist auch kein Beruf für junge Menschen: Zumindest in der Ausbildung betragen die Abbruchquoten etwa 30 Prozent. Falls meine Tochter in die Pflege wollte würde ich sie nicht unterstützen. Es könnte so ein schöner Beruf sein, aber nicht unter diesen Bedingungen.

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Das klingt alles gar nicht gut.

Wir brauchen im Bereich Pflege eben den ganz großen Wurf – ähnlich wie beim Klimawandel. Und den sehe ich in diesem Koalitionspapier nicht. Ich denke, wir haben hier Politik für professionelle Pflege in homöopathischen Dosen. Wenn wir den großen Wurf aber nicht hinbekommen, wird es nur noch schlimmer werden. Und wir müssen uns damit abfinden, dass viele von uns im Alter nicht die pflegerische Leistung bekommen werden, die ihnen zustehen würde. Dies gilt auch für Krankenhäuser. Gute Pflege funktioniert nur mit einer guten Personalausstattung von Pflegepersonal, das gut ausgebildet ist. Gute Pflege ist nicht nur für Patienten und Pflegebedürftige gut, sondern spart auch noch Geld im System.

Frau Hasseler, vielen Dank für das Gespräch.