Gut betreut bis zuletzt

Stiller Abschied: Viele Palliativpatienten wünschen sich, ihre letzten Wochen im Kreis der Familie zu verbringen.
An diesem Morgen trägt die Hilfe Fahrradhelm: Krankenschwester Luise Merz und Ärztin Dr. Larissa Thiem haben für die kurze Strecke zu ihrem Patienten in einem Münchner Vorstadtviertel das Dienstrad genommen, ein signalrotes Doppelsitzer-E-Bike.
Josef Bäumler* liegt in einem Pflegebett, umrahmt von Schränken und Regalen voller Bücher. „Eisklammern“, bringt er hervor und zeigt auf die weißen FFP-2-Masken der beiden Besucherinnen. Ein Scherz? So ganz klar wird das nicht. Bäumler ist 94 und dement. Nach mehreren Stürzen ist er bettlägerig und hat Schmerzen, überall am Körper. Seine Frau Helga*, fünf Jahre jünger, weiß, dass es wohl dem Ende zugeht. Ihr großer Wunsch ist, bis zuletzt an seiner Seite zu sein, vielleicht noch den einen oder anderen schönen Moment zu teilen. Etwa wenn die Eichhörnchen auf den Ahornbäumen vor dem Fenster von Ast zu Ast hüpfen.
Symptome lindern und das Wohlbefinden fördern
Luise Merz und Larissa Thiem stehen dem Ehepaar auf diesem Weg zur Seite. Sie gehören zum SAPV-Team des LMU-Klinikums München. Das Kürzel SAPV steht für „Spezialisierte ambulante Palliativversorgung“, ein Angebot, das zum Einsatz kommt, wenn Hausarzt und Pflegedienst für die Versorgung schwer kranker und sterbender Menschen zu Hause nicht mehr reichen.
So hat Larissa Thiem die Arzneitherapie von Josef Bäumler umgestellt. Blutdruckmittel und Cholesterinsenker seien am Ende des Lebens in der Regel verzichtbar, erklärt die Ärztin: Es gehe der Palliativmedizin allein darum, Symptome zu lindern, das Wohlbefinden zu fördern. Was Josef Bäumler dafür jetzt braucht, steht im Bücherbord unter dem Band mit den Erzählungen von Ludwig Thoma: Verdauungshelfer gegen die Verstopfung; ein Beruhigungsmittel, wenn die Nacht schlecht ist; ein starkes Schmerzmittel.
Nicht zuletzt wollen Merz und Thiem der Ehefrau das Gefühl geben, nicht allein zu sein. Rund um die Uhr ist das SAPV-Team in Bereitschaft, Helga Bäumler hat die Notrufnummer an drei Stellen in der Wohnung angepinnt. „Das ist eine solche Beruhigung“, sagt sie.
Zuhause sterben: oft ein unerfüllter Wunsch
Zu Hause sterben können, im Kreis der Familie: Das wünschen sich knapp 60 Prozent der Menschen in Deutschland, so eine Umfrage von 2017. Die Realität sieht anders aus. „Nur etwa ein Viertel der Menschen sterben zu Hause“, sagt Prof. Claudia Bausewein, Direktorin der Palliativmedizin am Münchner Uniklinikum Großhadern und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Rund die Hälfte der Sterbefälle ereigne sich im Krankenhaus, jeder fünfte in Pflegeeinrichtungen.
Warum ist die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit derart groß? Bausewein rückt die Umfragezahlen zurecht: Die Teilnehmenden seien hauptsächlich gesunde Menschen, für die das Thema Sterben weit weg sei. „Mit eigener Betroffenheit ändert sich die Einstellung häufig“, beobachtet die Ärztin. Je belastender Symptome würden, desto eher gebe es den Wunsch, doch im Krankenhaus sterben zu können. „Viele schätzen die Sicherheit.“ Bausewein formuliert das Ziel daher anders: „Der Sterbeort, den sich der Patient in seiner aktuellen Lage wünscht, sollte erfüllt werden.“
Früh Kontakt zu Palliativversorgung suchen
Doch auch das gelingt nicht immer. Schwer kranke Menschen kommen in ihren letzten Tagen und Stunden als Notfall ins Krankenhaus. Grund sei oft, dass Patient und Angehörige schlecht vorbereitet in die Situation stolpern würden, so die Erfahrung von Eva Rössler, Krankenschwester und Leiterin des Palliativdiensts im Rotkreuzklinikum München: „Leider wird in den Familien kaum rechtzeitig darüber geredet.“ Zwar hätten viele eine Patientenverfügung, „doch die ist oft zu allgemein formuliert“.
Die wichtigere Vorsorgevollmacht, in der man beispielsweise den Partner ermächtigt, über Therapien und Klinikeinweisungen am Lebensende zu entscheiden, hätten dagegen nur wenige, berichtet Rössler. Studien zeigen: Wer sich rechtzeitig um Vorsorgedokumente kümmert, hat bessere Aussichten, dort zu sterben, wo sie oder er es möchte.
Palliativmedizin beschränke sich nicht auf die Sterbephase, stellt Expertin Claudia Bausewein klar. Das Fachgebiet ist gefragt, sobald eine unheilbare Krankheit auftritt, die aller Voraussicht nach das Leben verkürzt. Bausewein wünscht sich, dass Betroffene und Angehörige früh den Kontakt zur Palliativversorgung suchen – das kann ein Gespräch mit dem Hausarzt sein oder ein Termin in der Palliativambulanz einer Klinik.
Auch bei Herzschwäche Hilfe anfordern
Mit Krebspatienten sprechen Ärzte oft beizeiten darüber, wie es weitergehen soll, wenn die Therapie keine Heilung mehr erwarten lässt. Bei Menschen mit anderen schweren Erkrankungen passiere dies selten, bedauert Dr. Mathias Pfisterer, Geriater und Palliativmediziner am Agaplesion Elisabethenstift in Darmstadt. Beispiele sind Herzschwäche und das Lungenleiden COPD – chronische Erkrankungen, die zu den häufigsten Todesursachen bei Senioren zählen.
Zwar unterscheidet sich der Verlauf in den letzten Lebensmonaten: Ein Tumorleiden verschlechtert sich eher fortlaufend, während bei Herz-Kreislauf-Leiden auf kritische Phasen Zeiten vorübergehender Besserung folgen können. Doch der Bedarf an Palliativmedizin ist der gleiche, weiß Bausewein: „Wir haben viele Studien, die belegen, dass die Bedürfnisse und Probleme von Palliativpatienten unabhängig von der Grunderkrankung vergleichbar sind.“
So haben die meisten weniger Angst vor dem Tod als vor dem, was davor kommt: dem Sterben. „Da ist es wichtig zu fragen: Wovor genau fürchten Sie sich? Vor Schmerzen? Davor, sehr leiden zu müssen? Vor dem Verlust der Autonomie? Und dann zu überlegen, welche dieser Ängste wir nehmen können.“ Nicht jeder Sorge kann Bausewein begegnen – etwa der, pflegebedürftig zu werden. Viele Kranke brauchen in den letzten Tagen Hilfe bei der Körperpflege. „Aber viele Ängste haben auch damit zu tun, dass die meisten Menschen die Möglichkeiten der Palliativversorgung nicht kennen.“
Morphin wird gezielt eingesetzt
Hier habe sich in den vergangenen 20 Jahren „unheimlich viel bewegt“, sagt Geriater Pfisterer. Viele Hausärzte haben sich in Palliativmedizin fit gemacht – es ist eine der häufigsten Zusatzbezeichnungen, die sich Ärzte aufs Praxisschild schreiben dürfen. Im Medizinstudium ist das Fach mittlerweile Pflicht. Ambulante Palliativversorgung wurde Kassenleistung – allerdings setzt der Personalmangel dem Angebot mancherorts Grenzen.
Auch das medizinische Wissen zum leidlosen Sterben ist gewachsen. „Die Therapie mit Arzneimitteln ist der wichtigste Baustein“, erklärt Claudia Bausewein. Laut Studien haben Menschen in palliativer Behandlung bis zu zehn Symptome auf einmal. Neben Schmerzen und Atemnot können dazu Übelkeit, Schlaflosigkeit, Depression oder Verstopfung zählen. Mit einer gezielten Arzneitherapie lassen sich die Beschwerden lindern. Morphin etwa dient heute in der Palliativmedizin nicht nur zur Schmerzbekämpfung. Das Opiat wirkt auch gegen Luftnot. Wenn Symptome sehr belastend sind und Medikamente nicht ausreichend anschlagen, können Ärzte mit Patient und Angehörigen die Gabe starker Beruhigungsmittel erwägen, die das Bewusstsein dämpfen.
Allein die Aufklärung, dass es solche Wege gibt, lasse den Todes-
wunsch vieler Schwerkranker schwinden, beobachtet Dr. Elisabeth
Jentschke, Psychoonkologin und Gerontologin vom Uniklinikum Würzburg. Aussagen wie „Ich will nicht mehr“ oder „Haben Sie nicht etwas, damit es zu Ende ist?“ kämen zwar immer wieder vor. Doch „meist ist es so: Die Menschen wollen nicht sterben, sondern anders leben“, weiß Jentschke. Darauf deutet auch die Zwischenbilanz einer Studie mit pflegebedürftigen Menschen hin, die die Expertin zurzeit durchführt: Der Todeswunsch ist bei Heimbewohnern stärker als bei Patienten im Hospiz oder auf der Palliativstation. Jentschke führt dies unter anderem darauf zurück, dass sich Menschen im Heim häufig in ihrer Selbstbestimmung beschnitten fühlten.
Dabei weiß Jentschke aus ihrer Arbeit in der Geriatrie, dass Ältere durchaus den Wunsch haben, über den Tod zu reden. In bester Absicht würden Kinder oder Enkel mitunter Sätze sagen wie: „Ach, Oma, du bist doch noch so gesund!“. Dabei könne ein Gespräch in der Familie über das Sterben Ängste nehmen und damit die Lebensqualität verbessern.
Leiser Abschied
Offen und ehrlich sollte die Kommunikation in der Palliativpflege sein, meint Fachfrau Eva Rössler. Belastende Dinge draußen vor der Tür mit Ärzten oder Pflegekräften besprechen hält sie für keine gute Idee: „Der Patient ist die Hauptperson. Es tut ihm nicht gut, wenn er denkt, wir haben Geheimnisse.“ Man sollte das Sterben nicht verleugnen, es dürfe aber auch leichte Themen am Krankenbett geben, so Rössler.„Oft tut den Menschen ein kleines Biografie-Gespräch gut, ein Rückblick auf schöne Erlebnisse.“
Pausen einlegen, Hilfen nutzen – Angehörige sollten auch an sich denken, betont Krankenschwester Luise Merz. Viele fürchteten, im Augenblick des Todes des geliebten Menschen nicht da zu sein. „Ich sage immer: Der Sterbende steuert es selbst.“ Meist gelte seine Sorge nicht sich, sondern dem Wohlergehen der Zurückbleibenden. Das mache es schwer loszulassen. Merz: „Die meisten gehen in einem Moment, in dem sie alleine sind. Ganz leise.“
„Viele sehnen sich nach Berührung“

Thomas Teichelmann ist ehrenamtlicher Hospizbegleiter beim Hospizdienst DaSein e. V. in München
© W&B/Max Kratzer
„Ein Paar Frotteesocken habe ich immer dabei, wenn ich zu einem Einsatz als Hospizhelfer fahre. Viele schwer kranke Menschen sehnen sich nach Berührung, das kommt viel zu kurz. Wir Menschen haben ja eine gewisse Scheu, wenn uns ein fremder Mensch anfasst. Daher ziehe ich die Socken über meine Hände, das Frottee hat eine leicht massierende Wirkung, und streiche über Arme oder die Füße. Ich vergesse nie, wie sich ein Patient einmal mit seinem Kopf in meine Hand schmiegte. Ich möchte einfach nur da sein. Manchmal schauen wir aus dem Fenster, manchmal ergibt sich ein ernstes Gespräch. Ich lasse da alles offen. Für die Angehörigen ist unsere Arbeit genauso wichtig, ist mein Eindruck. Sie haben mal eine Auszeit. Wobei viele in der Wohnung bleiben, es ist nicht leicht abzuschalten.“
„Das Gefühl geben, alles richtig zu machen“

Luise Merz ist pflegerische Leitung des SAPV-Team
© W&B/Max Kratzer
„Wenn ich mich vorstelle, sind die Leute manchmal erschrocken. ‚Palliativ‘, das verbinden sie gleich mit dem Tod. Ich sage: Gestorben wird zum Schluss – erst mal geht es um das Leben! Tatsächlich blühen viele Patienten auf, wenn etwa die belastende Chemotherapie wegfällt. Sie haben noch eine gute Zeit, auch wenn sie begrenzt ist. Die Spanne in der Palliativpflege ist groß, ich habe mich um 105-Jährige gekümmert, aber auch um 18-Jährige. Das ist ein riesiger Unterschied. Wir bieten Patienten und ihren Familien daher einen Blumenstrauß von Leistungen, medizinisch, pflegerisch, therapeutisch. Für die Angehörigen ist die psychosoziale Begleitung das Wichtigste: Sie brauchen jemanden, der ihnen das Gefühl gibt, alles richtig zu machen.“
„Nicht zum Essen nötigen“

Ulla Rose ist Geschäftsführerin von Home Care Berlin e. V.
© W&B/Kathrin Harms
„Ich habe schon viele Menschen in der letzten Lebensphase begleitet – auch meine Mutter, meinen Mann und meinen viel zu jungen Neffen. Sterben ist ein Prozess und Teil des Lebens. Jeder Laie kann dazu beitragen, ihn so angenehm wie möglich zu gestalten, erkläre ich in ‚Letzte- Hilfe-Kursen‘ für Angehörige. Dazu gehört, die Wünsche des Kranken oder Sterbenden frühzeitig in einer Patientenverfügung festzuhalten, damit sich Angehörige nicht am Sterbebett streiten, etwa um lebenserhaltende Maßnahmen. Dazu gehört, Sterbenden nicht zum Essen zu nötigen, weil selbst ein Löffel Joghurt wie ein Stein im Magen liegen kann. Dazu gehört auch, Lieblingsgestränke anzubieten, das kann Bier oder Prosecco sein, um den Mund zu befeuchten. Wer trinkt schon leidenschaftlich gerne Wasser?“
„Über Wünsche und Bedürfnisse reden“

Ute Hartenstein aus Weinböhla ist Hausärztin und arbeitet in einem spezialisierten ambulanten Palliativteam (SAPV-Team) mit
© Sven Döring / laif
„Wie lange habe ich noch? Diese Frage wird mir als Haus-
und Palliativärztin in der Palliativversorgung oft gestellt. Es ist eine schwierige Frage, die nur sehr selten klar beantwortet werden kann. In der medizinischen Versorgung von unheilbaren Erkrankungen steht die Lebensqualität und auch die Würde des Patienten im Vordergrund. Dies ist nicht immer mit Hochleistungsmedizin, mit mehr Diagnostik und Therapie vereinbar. Am Lebensende geht es vorrangig darum, belastende Symptome so gut wie möglich zu lindern. Mir ist es wichtig, dass Menschen mit fortschreitenden Erkrankungen früh über ihre Wünsche und Bedürfnisse reden, in der Familie und mit mir als Ärztin, auch, um die Angst zu nehmen vor dem, was kommen wird.“