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Neulich kamen die medizinischen Handschuhe zum ersten Mal in Blau. Bisher hatte Stefanie Stoll* durchsichtige oder weiße. Die jüngste Lieferung brachte sie ins Grübeln: Verdeutlicht die leuchtende Farbe, dass ich keine gute Tochter bin?

Genau wie früher, als sie als Krankenschwester arbeitete, trägt Stefanie Stoll Einmalhandschuhe, wenn sie ihre inzwischen 96-jährige Mutter versorgt. Auch beim Haarewaschen, beim Nägelschneiden, beim Saubermachen der Hörgeräte. Weil sie sich ekelt – obwohl sie ihre Mutter liebt. Auch die Gerüche machen ihr zu schaffen. „Wenn meine Mutter ihre Inkontinenzeinlagen zu selten wechselt, riecht ihre Kleidung ganz schrecklich“, erzählt Stoll.

Mit ihrem Unbehagen und den damit verbundenen Schuldgefühlen ist die ausgebildete Krankenschwester keinesfalls allein. Bei der Pflege zu Hause stoßen manche Angehörige an ihre Grenzen. Den Intimbereich waschen, eine eitrige Wunde verbinden, muffige Laken wechseln, all das fordert ihnen viel ab, Einzelnen sogar so viel, dass sie ihren pflegebedürftigen Liebsten lieber nicht unter die Arme greifen.

Sich Ekelgefühle eingestehen

Dennoch schämen sich viele Betroffene für ihre Gefühle. Dabei kämpfen nicht nur Laien damit, sondern auch professionelle Pflegekräfte. Ein Tabu, über das kaum jemand spricht, sagt Dr. Christine Pernlochner-Kügler. „Vor 30 Jahren hieß es noch: Wer sich ekelt, hat in der Pflege nichts zu suchen“, sagt die Psychologin, die über Ekel promoviert hat und heute als Bestatterin arbeitet. Jahrelang hat sie auch Seminare für Pflege-Azubis gegeben, die lernen wollten, mit Ekel besser umzugehen und wie sie sich kritische Arbeiten erleichtern.

Erste Lektion für Pflegeanfänger: sich seine Ekelgefühle eingestehen. Die Seminarteilnehmenden sollten reichlich in einen Becher spucken und dann den eigenen Speichel trinken. „Besonders einige der männlichen Teilnehmer waren anfangs der Überzeugung, sie wären zu cool, um sich vor irgendetwas zu ekeln“, berichtet die Seminarleiterin. Als sie den Becher mit der eigenen Spucke auf ihre Aufforderung hin erst nach fünf Stunden austrinken sollten, hätte dies schließlich auch der Letzte verweigert.

Warum Ekel ein sinnvoller Schutz ist

Warum empfinden wir überhaupt eine solche uns selbst unbehagliche, unkontrollierbare Abneigung gegen dieses oder jenes? „Ekelgefühle helfen uns, Krankheiten zu vermeiden“, erklärt Dr. Anne Schienle, Professorin für klinische Psychologie an der Universität Graz, „in jeder Kultur.“

Abstoßender Geschmack und fieser Geruch warnten schon unsere Vorfahren vor verdorbenem oder giftigem Essen. Auch heute meldet das Hirn durch diese spontane Reaktion, was wir meiden sollten, weil es krank machen könnte. In der Pflege gehören dazu etwa offene Wunden, Auswurf oder Exkremente, die möglicherweise Erreger in sich tragen. Das ist auch praktisch, sagt Psychologin Schienle: „Ekel motiviert, uns und andere zu säubern.“

Selbstverständlich schreckt nicht jeder gleich stark und vor den gleichen Dingen zurück. Manche Menschen reagieren auf bestimmte Reize schneller und intensiver als andere. Laut Anne Schienle unterscheiden wir uns außerdem darin, wie effektiv wir Ekelgefühle regulieren können. Wer generell eine „hohe Ekel-Sensitivität“ hat, wie Psychologen es ausdrücken, hat es vermutlich schwerer im Umgang mit Pflegebedürftigen. Auch Tagesform und -zeit spielen eine Rolle, so Expertin Pernlochner-Kügler. Morgens nehmen wir Reize wie ein schlecht gelüftetes Pflegezimmer intensiver wahr als sonst.

Wie gehe ich mit Ekelgefühlen in der Pflege um? 5 Tipps:

1. Gut planen

Bereiten Sie alle notwendigen Utensilien vor, bevor Sie die eingenässte Bettwäsche wechseln. So halten Sie sich nicht unnötig auf.

2. Dazu stehen

Sagen Sie sich, dass es okay ist, Ekel zu empfinden. Fragt Ihr Angehöriger, ob Ihnen etwa die offene Wunde nichts ausmacht, spielen Sie nicht den Helden oder die Heldin. Sagen Sie: „Doch, aber ich kann mittlerweile damit umgehen.“

3. Sich gezielt ablenken

Nehmen Sie eklige Situationen mit Humor oder konzentrieren Sie sich auf den technischen Vorgang. Das lenkt ab.

4. Sich schützen

Erlauben Sie sich, sich kurz umzudrehen oder am offenen Fenster Luft zu schnappen. So geben Sie dem Fluchtimpuls nach.

5. Auszeiten

Erholen Sie sich mit neutralisierenden Düften wie Kaffee oder Aromen und wechseln Sie körpernahe mit körperfernen Aufgaben ab.

Und Sympathie? Welche Rolle spielt es, ob die Person, die wir pflegen, uns nahesteht? Stefanie Stoll treibt diese Frage persönlich um:

„Meine Mutter und ich stehen uns nahe. Wieso ekele ich mich, wenn ich ihr bei der Körperpflege helfe? Als ich mir als Baby in die Windeln gemacht habe, hat sie mich ja auch nicht mit Handschuhen angefasst.“

Pflege fällt leichter mit Zuneigung

Grundsätzlich könne Sympathie Ekelgefühle mildern, so Anne Schienle. „Verliebten macht es ja auch nichts aus, Körpersekrete auszutauschen“, sagt sie. Doch immun gegen instinktives Naserümpfen macht Liebe uns nicht, ob es um die Eltern oder die eigenen Kinder geht. Schienle: „Auch dass man sich vor seinem Baby etwa beim Windeln wechseln nicht ekeln kann oder darf, ist ein Ammenmärchen.“

Wie belastend das alles für motivierte, liebevoll pflegende Angehörige ist, weiß Marlene Becker*. Sie kümmert sich nicht nur um ihre 93-jährige Mutter, sondern auch um ihre Tante, die 91 Jahre alt ist. Beide leiden an Demenz. „Ekel vor der eigenen Mutter ist kein schönes Gefühl, aber es ist eben da“, sagt Becker resigniert. „Und anders als bei Kindern, die sich in die Hose machen, weiß ich, dass es mit den Jahren nicht besser, sondern eher schlimmer wird.“

Es falle ihr schwer, das auszuhalten und das Problem anzusprechen, ohne jemanden zu verletzen. Nicht nur die Demenz habe die Beziehung zu ihrer Mutter und Tante verändert. Sie ist froh, die beiden unter dem Vorwand der Pandemie mit einer FFP2-Maske besuchen und so unangenehme Gerüche von sich fernhalten zu können.

Was Marlene Becker jedoch an ihre Grenzen gebracht hat: „Die Unterhosen meiner Tante lagen eines Tages mit Inhalt ausgebreitet auf dem Schirm der eingeschalteten Tiffany- Lampe“, erzählt sie. Becker will nun professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Die Pflege strengt sie ohnehin immer mehr an. Doch besonders die starken Ekelgefühle hätten sie dazu gebracht, sagt die 71-Jährige.

Expertin Pernlochner-Kügler hält es für richtig, Profis hinzuzuziehen, sobald sich Familie oder Freunde mit der Pflege überfordert fühlen. „Man braucht deswegen keine Schuldgefühle zu haben“, sagt sie.

Negativen Gefühle bewusst gegensteuern

Keine gute Idee sei, Empfindungen zu unterdrücken, die Unwohlsein, Brechreiz, Schweißausbrüche, sogar Fluchtimpulse auslösen können. „Vielmehr müssen wir Methoden finden, mit denen wir es schaffen, die Pflegebedürftigen zu versorgen, ohne uns von Ekelgefühlen übermannen zu lassen“, so Pernlochner-Kügler (Kasten weiter oben).

Sonst käme Ekel unterschwellig anders zum Vorschein, warnt die Expertin. Etwa durch harsche Kommunikation, aggressives Verhalten, subtile Gewalt oder Vernachlässigung. Umso wichtiger ist, sich beizeiten Unterstützung zu holen. Ohne schlechtes Gewissen.

*Namen von der Redaktion geändert

Rückenschonende Pflegehandgriffe Aufstehen und Gehen

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