Gesund beginnt im Darm
Seltsam, die Vorstellung: Knapp ein halbes Pfund von uns sind nicht wir selbst, sondern Bakterien und andere Kleinstlebewesen, die auf und in uns leben. Spätestens während der Geburt ist Schluss mit steril: Im Geburtskanal kommt das Neugeborene mit den Vaginalkeimen der Mutter in Berührung. Die Winzlinge lassen sich auf und in uns nieder und bevölkern fortan Haut, Mund, Ohren und Magen. Vor allem aber unser Dickdarm bietet Billionen von ihnen einen attraktiven Lebensraum.
Mikrobiom mit Potenzial
Insgesamt leben in unserem Darm ungefähr so viele Kleinstlebewesen, wie unser Körper aus Zellen besteht. "Solange das Gleichgewicht stimmt, machen sie uns nicht krank. Sie dringen nicht in uns ein, sondern sitzen da und sind unheimlich aktiv." Dirk Haller weiß, wovon er spricht. Der Professor für Ernährungswissenschaft an der Technischen Universität München ist einer der Pioniere auf diesem Forschungsgebiet, das boomt wie kein anderes.
Inzwischen interessieren sich nicht nur Mikrobiologen und Magen-Darm-Experten, sondern Ärzte sämtlicher Fachrichtungen, auch Psychologen und Pharmakologen und – nicht zuletzt – Alternsforscher für die Bakteriengemeinschaft im Darm. Experten sprechen vom "Mikrobiom". Und alle sind sich einig: Im Mikrobiom steckt Potenzial.
Womöglich lässt es sich für Diagnose oder Therapie nutzen, um Arzneimittel mit seiner Hilfe viel gezielter anzuwenden oder gar den Alternsprozess zu beeinflussen. Aber ist das berechtigte Hoffnung oder nur Hype?
Manche Bakterien fühlen sich in Fettpolstern wohl
Fest steht: Unser Darm wäre ohne Bakterien nicht das, was er ist. Die Mikroben bilden Vitamine, bauen ab, was körpereigene Enzyme nicht zu verwerten schaffen, und bringen den Darm in Schwung. Dafür bietet der Darm ihnen Kost und Logis. Kurzum: ein friedliches Miteinander mit bestens organisierter Aufgabenteilung.
Tina Schifelbein ist eine von vielen Forschern, die das geheimnisvolle Geschehen im Darm fasziniert. Die Ökotrophologin vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke befasst sich in ihrer Doktorarbeit damit, welche Rolle es bei Übergewicht spielt. Schon länger ist bekannt, dass Mikrobiom und Gewicht zusammenhängen. Bekamen Mäuse die Darmbakterien von Übergewichtigen übertragen, wurden sie ebenfalls dick.
Einen Rädelsführer hat das Potsdamer Labor schon dingfest gemacht: Clostridium ramosum. Das Bakterium kommt verstärkt im Darm übergewichtiger Menschen vor. "Wo es sich aufhält, wird besonders viel Fett aus der Nahrung verwertet, und die Fettpolster wachsen", erläutert die Forscherin die Ergebnisse von Tests an Mäusen. Wahrscheinlich spielt auch die Ernährung eine Rolle. "Das Bakterium vermehrt sich unter einer fettreichen Diät optimal", sagt Schifelbein.
Aber was ist zuerst: die Kilos oder die speziellen Darmbakterien? Gilt beim Menschen das Gleiche wie bei der Maus? Kann man "gierige Bakterien" durch eine bestimmte Kost ausbremsen? Jede Beobachtung wirft neue Fragen auf. Schifelbein versteht ihre Ergebnisse als Teil eines Puzzles, das vielleicht in fünf bis zehn Jahren ein fertiges Bild ergibt. Solange gilt: um abzunehmen sollte man Essmengen beachten, Zucker meiden,Vollkorn vorziehen, das richtige Fett wählen. Und sich viel bewegen, damit mit den Kilos nicht auch Muskeln schwinden.
Bakterielle Heilkräfte
Das Mikrobiom von Übergewichtigen ist anders zusammengesetzt als das von Schlanken. Und bei Kranken anders als das von Gesunden. "Das gilt für fast jede Erkrankung", sagt Ernährungsexperte Haller. Und es weckt die Hoffnung, über das Mikrobiom auch Krankheiten beeinflussen zu können.
Mehr als eine Hoffnung ist es in den allermeisten Fällen bisher aber nicht. Haller nennt ein Beispiel, wo das schon gut gelingt: Nimmt der gefährliche Keim Clostridium difficile im Darm überhand – zum Beispiel nach einer Antibiotikatherapie –, führt das zu massiven, wiederkehrenden Durchfällen.
Versagt die Standardtherapie, greift man heute zu einem ungewöhnlichen Mittel: Man transplantiert Stuhl eines Gesunden in den Darm des Kranken. Der Krefelder Gastroenterologe Professor Thomas Frieling kennt die Methode aus eigener Praxis. "Ein enorm wirksamer Therapie-Ansatz", urteilt er. Trotzdem birgt er auch Risiken. Man weiß nicht, was alles im Mikrobiom schlummert. "Die Therapie ist daher auf diese spezielle Infektion beschränkt."
Einen Durchbruch erwarten Experten bald auch in der Darmkrebsvorsorge. Forscher kennen inzwischen ausgesprochene "Darmkrebs- Bakterien", die sich bereits vor oder in einem sehr frühen Stadium der Krankheit nachweisen lassen. Das ist der Grundstein für einen Stuhltest zur Früherkennung. Dieser wäre ein Riesenfortschritt, denn je früher Darmkrebs erkannt wird, desto besser die Heilungschancen.
Selbst bei Krankheiten außerhalb des Darms wie Typ-2-Diabetes, Rheuma, Leberschäden bis hin zu Demenz und Autismus zeigen sich Veränderungen in der Mikrobengemeinschaft. "Ob sie allerdings Ursache oder Folge der Krankheit sind oder nur zufällig zeitgleich auftreten, müssen wir für jede Krankheit einzeln beantworten", dämpft Haller die Erwartungen. "Das wird noch Jahre dauern."
Die Bakterien-WG richtig pflegen
Psychologen sind indes überzeugt, dass Denken und Gefühle von unserer Körpermitte aus mitgesteuert werden. Darm und Hirn stehen in Verbindung, erklärt der Ulmer Professor für Molekulare Psychosomatik Stefan Reber. Nicht nur über Nerven, sondern auch über Botenstoffe: "Wir wissen inzwischen, dass diese nicht nur vom Darm selbst ausgeschüttet werden, sondern in beachtlicher Menge auch von seinen Bakterien."
Dass die Bakterien-WG enorm wichtig ist für unsere Gesundheit, davon sind Mikrobiomforscher heute überzeugt. Da drängt sich die Frage auf: Wie sorgen wir gut für unsere hilfreichen Mitbewohner? Noch kann niemand sagen, welche Besiedlung normal ist. Sicher ist aber: Je mehr verschiedene Arten von Mikroben im Darm hausen, desto besser.
Unsere Lebensweise ist da nicht gerade förderlich. "Wir essen einseitig und nehmen zu unkritisch Antibiotika ein", beklagt Frieling. Menschen aus Naturvölkern haben ein wesentlich vielfältigeres Mikrobiom. Antibiotika kennen sie nicht. Ihre Kost enthält kaum Zucker, aber jede Menge Ballaststoffe.
Die wertvollen Fasern "stecken in pflanzlichen Lebensmitteln und sind Futter für die Bakterien", weiß Dr. Astrid Tombek vom Diabetes Zentrum Bad Mergentheim. Kurz gesagt heißt das: Statt auf Fleisch und Wurst lieber auf Vegetarisches, vor allem Gemüse und Hülsenfrüchte setzen. Und möglichst wenig Zucker.
"Auch Süßstoffe sind wahrscheinlich ungünstig", ergänzt Tombek. Naturjoghurt ohne Zusätze sollte man dagegen am besten täglich essen. Seine Milchsäurebakterien sind im Darm gern gesehen und siedeln sich im Idealfall auch dort an. Solch nützliche Bakterien, sogenannte Probiotika, gibt es auch in Kapselform als Arznei oder Nahrungsergänzungsmittel in der Apotheke (siehe Interview unten).
Medikamente können die gesunde Vielfalt stören
Den bei uns üblichen Antibiotika-Einsatz sehen Experten zunehmend kritisch. Das Problem: Die Mittel machen die unerwünschten Keime in der Blase oder im Rachen genauso platt wie die erwünschten Bakterien im Darm. Mit teilweise massiven Auswirkungen. Jeder, der nach Einnahme von Antibiotika schon einmal Durchfall bekommen hat, kennt das Problem.
Wiederholte Antibiotikatherapien schädigen das Mikrobiom nachweislich. Gastroenterologe Frieling wünscht sich deshalb von seinen Arztkollegen "mehr Zurückhaltung bei der Verschreibung von Antibiotika". Sie wirken nur gegen Bakterien, nicht gegen Viren und sollten in der Regel nur gegeben werden, wenn der begründete Verdacht auf einen bakteriellen Infekt besteht.
Pharmakologen gehen aufgrund aktueller Studien davon aus, dass nicht nur Antibiotika ins Mikrobiom eingreifen. Auch andere Arzneien können einen Effekt haben. Umgekehrt könnten die Darmbakterien auch Arzneien verändern. "Hier tut sich ein ganz neues Forschungsfeld auf", sagt Professor Martin Smollich.
Der Pharmakologe leitet die Arbeitsgruppe Pharmakonutrition an der Universität Lübeck. Er vermutet hinter einem Wechselspiel zwischen Arznei und Mikrobiom die Erklärung, warum manche Patienten auf ein Medikament ansprechen, andere nicht. Vielleicht lässt sich in Zukunft anhand einer Mikrobiom-Analyse vorhersagen, welche Arznei bei welchem Patienten wirken wird.
Welche Rolle spielt das Mikrobiom beim Altern?
Wenn das Mikrobiom so störanfällig ist, kann man sich kaum vorstellen, dass die Lebensjahre spurlos an ihm vorübergehen. Tun sie auch nicht. "Im hohen Alter endet das gute Zusammenspiel von Mensch und Mikrobiom", so der Kieler Professor für Medizinische Systembiologie Christoph Kaleta. "Das Mikrobiom verselbständigt sich." Bisher hielt die Darmschleimhaut dank der Bakterien dicht, nun schwächelt diese Barriere. Experten diskutieren, ob das der Startpunkt für Alterskrankheiten wie Diabetes sein könnte.
Kaleta versucht, herauszufinden, welche Stoffe uns das Mikrobiom im Alter schuldig bleibt. "Wenn wir die ergänzen", stellt er in Aussicht, "können wir womöglich eines Tages das Altern bremsen und Krankheiten zwar nicht heilen, aber aufschieben."
Mit Hilfe des Mikrobioms Krankheiten heilen, Arzneien gezielter einsetzen, das Altern bremsen – noch ist das bis auf wenige Ausnahmen Zukunftsmusik. Doch während die Forschung auf Hochtouren läuft, kann man eines schon festhalten: Unser Lebensstil bleibt nicht ohne Wirkung.
Regelmäßige Bewegung fördert wahrscheinlich die Bakterienvielfalt im Darm, Stress schadet ihr. Menschen auf dem Land zeigten in Tests ein bunteres Bakterienspektrum als Städter. Auf jeden Fall aber spielt die Ernährung eine zentrale Rolle. Bewusst einzukaufen und gesund zu essen – dafür gibt es nun einen guten Grund mehr.