Durchs Raster gefallen: Jung und pflegebedürftig
Cornelia Zimmermann* gehört zu der Generation, die mit den Rolling Stones aufgewachsen ist. Aber wenn sie in der Kurzzeitpflege ist, läuft im Hintergrund meist Volksmusik. „Das ist nicht so mein Genre.“ Zimmermann, Ende 50, leidet an einer neurologischen Krankheit, die auch „Selbstmordkrankheit“ genannt wird – mitunter sind die Schmerzen unerträglich. Sie sitzt im Rollstuhl, ist inzwischen bettlägerig. Gepflegt wird sie von ihrer Tochter und deren Frau. Um ihnen eine Auszeit zu ermöglichen, geht sie einmal im Jahr in die Kurzzeitpflege.
„Mir graut da ein bisschen davor“, sagt sie. „Da ist das Durchschnittsalter 70, 80 – was will ich da? Ich fühlte mich deplatziert.“ Viele der anderen Bewohnerinnen und Bewohner haben Demenz, unterhalten kann sie sich mit kaum jemandem außer einer geistig fitten älteren Dame, die dauerhaft dort lebt. „Ich bin froh, dass ich die habe.“ Einmal hat sie einen jungen Mann getroffen, von Kopf bis Fuß gelähmt. „Der war todunglücklich, das ging mir richtig nah. Ich habe meine Familie, aber der hängt da drinnen und fristet sein Dasein.“ Zimmermann spricht von einem „Generationenkonflikt“. Sie möchte Ältere nicht diskriminieren, sagt sie, aber jüngere Pflegebedürftige hätten einfach andere Bedürfnisse.
Kaum spezialisierte Einrichtungen
Tatsächlich haben sie in Deutschland mitunter kaum eine Chance, passend versorgt zu werden. Woran liegt das? Vermutlich auch daran, dass die Gruppe vergleichsweise klein ist. Von rund fünf Millionen Pflegebedürftigen Ende 2021 waren laut Statistischem Bundesamt circa 820.000 (also 16,5 Prozent) jünger als 60 Jahre.[1]
Die Gründe, warum Jüngere pflegebedürftig werden, sind ganz unterschiedlich: Krebs, Multiple Sklerose, Schlaganfall, Aids, Trisomie 21, ein schwerer Unfall, seltene oder psychische Erkrankungen. Viele haben Lähmungen, Epilepsie, auch Intelligenzminderungen oder Entwicklungsstörungen. Der größte Teil wird zu Hause versorgt. Nur etwa 33.200 der Pflegebedürftigen unter 60, die Leistungen der Pflegekasse bekommen, leben in Heimen. Spezialisierte Einrichtungen gibt es viel zu wenig. Meist sind es keine eigenen Häuser, sondern einzelne Etagen.
Hoher Bedarf, wenig Personal
„Junge Pflege“ bedeutet oft alles unter 60 Jahre. Wie groß der Bedarf ist, weiß Carola Focke, Einrichtungsleiterin aus Berlin. 2011/12 wurde in ihrem Alten- und Pflegeheim ein eigener Bereich für junge Pflege eröffnet – eigentlich aus der Not heraus. „Wir haben uns gedacht: Mensch, wir haben so viele Jüngere, die gehen unter den 80-Jährigen unter.“ Wegen des Personalmangels könnten ambulante Dienste die Versorgung zu Hause oft nicht mehr stemmen, deshalb nehme der Anteil jüngerer Pflegebedürftiger zu. Nachdem sie das Angebot bei Krankenhäusern bekannt gemacht hatten, erzählt Focke, wurde es rasch zum Selbstläufer. „Der Bereich war in kürzester Zeit voll.“
Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der „Jungen Pflege“ sind zwischen 40 und 50 Jahre alt. Statt zum Schlagerabend oder zur Sitztanzgruppe würden diese gern mal ins Kino, zu einer Rockband oder zum Currywurst-Essen gehen. Die Betreuung sei mitunter aufwendiger, schildert Focke. Die Gruppengröße ist in dieser Abteilung deshalb kleiner. Hier gibt es nur 14 Betten statt wie bei älteren Menschen 27 bis 40. Auch der Kontakt zu Angehörigen sei intensiver. „Da kommen die Eltern oder kleine Kinder zu Besuch. Oder die Ehefrau will übernachten oder ungestört Zeit mit ihrem Mann verbringen.“
Spezielle Ausbildung notwendig
Pflegekräfte müssen mit jüngeren Patienten auch anders kommunizieren, sagt Focke. In Erinnerung geblieben ist ihr eine junge MS-betroffene Frau, die vor der Einrichtung der „Jungen Pflege“ im allgemeinen Bereich lebte. „Sie meinte: Man redet mit mir, als hätte ich Demenz.“ Gefordert sind Pflegekräfte nicht nur in der Ansprache. Sie müssten sich auch mit anderen Krankheitsbildern auskennen, die oft Jüngere betreffen – etwa Multiple Sklerose oder seltene Erkrankungen wie Chorea Huntington. Auch psychiatrische Erkrankungen seien häufig. „Wer in jungen Jahren pflegebedürftig wird, ist oft psychisch sehr stark belastet und leidet mitunter unter Angst oder Depressionen“, sagt Focke.
Ihr Personal bildet sich in diesem Bereich fort. Kleinere Gruppen mit mehr examinierten Pflegekräften: Sie machen das mit „Herzblut“, sagt Focke, aber rechnen würde sich das nicht wirklich. „Das ist immer ein bisschen unwirtschaftlich, da der Personalbedarf im Wohnbereich ‚Junge Pflege‘ höher liegt als in der allgemeinen Altenpflege und wir diese Mehrkosten von den Kostenträgern nicht finanziert bekommen.“ So manche Einrichtung hätte den Versuch wieder eingestellt. Focke wünscht sich eine gesonderte Finanzierung, damit mehr Anbieter in den Bereich einsteigen.
Das Gefühl, nicht dazuzugehören
Auch Theresa L., die früher jahrelang als Einrichtungsleiterin im Heim gearbeitet hat, weiß um die Probleme. Nun ist sie davon selbst betroffen: Ihr Mann Jörg, ein Lkw-Fahrer, erlitt mit 44 Jahren einen Schlaganfall und war rechtsseitig gelähmt. Da sie Vollzeit berufstätig ist, ging er anfangs in eine Tagespflege. „Er fand das grundsätzlich toll, aber das Umfeld war nichts für ihn“, sagt sie. „Als der Kopf klarer wurde, merkte er, dass er ausschließlich von Menschen im Alter seiner Eltern und Großeltern umgeben war.“ In der Tagespflege musste er sich überwiegend selbst beschäftigen. Einmal am Tag spielte jemand eine Viertelstunde Schach oder Skat mit ihm.
„Irgendwann bat er mich: Bitte nicht dorthin, das ist nicht meine Welt.“ Für Logopädie, Ergo- und Physiotherapie war er zunächst schwerer zu motivieren, weil er das Gefühl hatte, schon als junger Mensch so krank zu sein wie die anderen. Durch viel Üben musste er nach zwei Jahren nur noch drei Mal die Woche in die Tagespflege. Seitdem die Einrichtung in der Coronazeit schließen musste, lebt er zu Hause. Inzwischen kann er sich in der Abwesenheit seiner Frau dort selbst versorgen.
Lange Wartelisten
Passendes Betreuungspersonal zu finden ist schwierig, sagt Theresa L.. Viele Kräfte sind auf Demenz spezialisiert. Nach längerer Suche hat das Paar inzwischen eine gute Ergotherapeutin gefunden, die ins Haus kommt und auf die Interessen des Mannes eingeht – etwa Modellbauen. Mehrmals in der Woche bringt Theresa L. ihren Mann zur Physiotherapie und zur Logopädie.
Infolge des Schlaganfalls leidet er unter einer Sprechstörung. Familie L. hat sich zu Hause inzwischen gut arrangiert. Doch was ist im Notfall? 40, 50 Kilometer entfernt gibt es zwar ein Heim mit „Junger Pflege“. Doch die Wartelisten sind lang. Ein ungutes Gefühl bleibt, sagt Theresa L.. „Ich bin viel im Straßenverkehr unterwegs. Wenn mir etwas passiert, muss es für meinen Mann irgendwie weitergehen.“ Im Notfall würde ihre beste Freundin einspringen.
Betroffene mit einbeziehen
Die Wissenschaft beschäftigt sich kaum mit dem Thema. Caroline Schmitt, Professorin für Migrations- und Inklusionsforschung in Klagenfurt, hat gemeinsam mit einem Kollegen Kritik und Bedürfnisse zweier Betroffener ausgewertet. „Man muss junge Pflegebedürftige selbst zu Wort kommen lassen, sie sind Expertinnen und Experten in eigener Sache“, betont Schmitt. Aus der Untersuchung ergeben sich Dinge, die Heime besser machen könnten.
So quälte es die beiden Betroffenen zum Beispiel, fremdbestimmt zu sein. Wichtig sei für Bewohnerinnen und Bewohner, mitreden zu dürfen, sagt Schmitt. Etwa beim Essen: Weiche oder pürierte Gerichte, in Heimen oft aus Angst vor Schluckbeschwerden angeboten, wirken auf Jüngere mitunter wenig attraktiv.
Zentral seien häufig auch Freizeitgestaltung und digitale Anbindung. „Es braucht WLAN und Möglichkeiten, um mobil zu sein und Netzwerke aufrechterhalten zu können – zum Beispiel Transportmöglichkeiten.“ Prinzipiell sollten Heime nicht von der Gesellschaft abgeschottet sein, sondern soziale Begegnung ermöglichen. „Ein Interviewpartner hat uns gesagt, dass er auch deshalb so wenig Besuch bekommt, weil die Räume im Heim als bedrückend erlebt werden.“
Strukturelle Änderungen in der Pflege notwendig
Generell müsste sich auch das Bild der Pflege in der Gesellschaft ändern, das sich sehr auf Ältere konzentriert und in dem jüngere Pflegebedürftige oft nicht vorkommen, findet Forscherin Schmitt. „Unsere Gesellschaft muss erkennen, dass es jeden treffen kann.“ Gerade vor dem Hintergrund der Pandemie sei jetzt ein gutes Zeitfenster, um auch über die „Junge Pflege“ zu diskutieren. Wichtig sei es, grundlegend daran zu arbeiten, Heime offener zu gestalten, und für strukturelle Verbesserungen zusammenzustehen. Denn Kostendruck und Personalmangel führen dazu, dass Pflegekräfte zu wenig Zeit haben, um auf Bewohnerinnen und Bewohner einzugehen.
Auf Anfrage der Apotheken Umschau nennt das Bundesgesundheitsministerium keine eigenen Initiativen. Es verweist im Wesentlichen auf die Zuständigkeit der Länder und Pflegekassen. Den Bedarf für spezialisierte Einrichtungen müsse man sich vor Ort anschauen – etwa auf dem Land. Es gäbe für die Länder Handlungsspielräume, „um regional entsprechend der Bedarfe zu agieren“. Man verweist auf den AOK-Pflegereport 2022, in dem es zu neuen Wohnformen heißt: Es existieren derzeit wenig belastbare Informationen darüber, wie viele Angebote es gibt, wie sie genutzt werden und wie bedarfsgerecht sie sind.
Mehr Fortbildungen für Pflegekräfte
Theresa L. findet, dass zu wenig getan wird. Es brauche mehr Fortbildungen für Pflegekräfte, sagt sie. Und sie kann sich ein Modell vorstellen, bei dem eine Tagespflege zumindest einen Tag in der Woche für jüngere Pflegebedürftige reserviert wird – etwa am Dienstag nur für unter 60-Jährige. Das würde auch ihrem Mann guttun, glaubt sie. „Ich bin ja mindestens zehn Stunden am Tag weg.“ Sowohl ambulant als auch stationär brauche es mehr Angebote, sagt Thereasa L.. Mitunter würde man in einer Einrichtung vielleicht besser betreut als von manchen Angehörigen, sich selbst nimmt sie da nicht aus. Um halb sechs aufstehen, um 22 Uhr ins Bett, dazwischen Vollzeitjob und Pflege, da ist es nicht immer leicht, geduldig und liebevoll zu bleiben. „Manchmal ist es eine Zerreißprobe.“
Die Suche nach Angeboten speziell für Jüngere kostet Zeit und Energie. Auch Cornelia Zimmermann sieht das so. Ihre Tochter und deren Frau kümmern sich um sie, „Ich werde top versorgt.“ Aber eigentlich wollte sie nie von ihren Kindern gepflegt werden. „Ich muss ihnen das zumuten, ob ich will oder nicht.“ Zudem fehle der soziale Kontakt zu anderen. „Ich würde gerne mal wieder einen anderen Input bekommen als in meinem Pflegebett.“
Schwierige Suche nach der passenden Einrichung
Eigentlich wünscht sie sich eine WG, einen bunt gemischten Haufen von 35 Jahren bis zum Renteneintritt. Aber Wohngruppen gibt es in ihrem Umfeld nur entweder für Demenzbetroffene oder für psychisch erkrankte Jüngere. In einem Heim würde sie sich Leseabende wünschen, Malaktionen, Konzerte mit jüngerer Musik. Und Sport: „Schon als gesunder Mensch war ich sehr sportlich. Als ich im Rollstuhl saß, war ich zum Beispiel in einer Rollstuhlsportgruppe.“
Seit inzwischen über sechs Jahren ist sie auf der Suche nach einer guten Einrichtung. An der Nordsee, wo sie lebt, findet sie keine passenden Plätze. In Stuttgart oder in München hätte es Möglichkeiten gegeben. „Aber ich hab wirklich keine Lust, einen Wohnortwechsel von 800 Kilometern vorzunehmen.“ Die Suche gibt Zimmermann langsam auf. „Man verschwendet zu viel Zeit und Energie“, sagt sie. „Irgendwann werde ich ein Fall fürs Altenheim – und bis dahin bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten.“
* Name geändert
Quellen:
- [1] Statistisches Bundesamt: Pflege – Deutschlandergebnisse. https://www.destatis.de/... (Abgerufen am 26.01.2023)
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Schmitt C, Homfeldt HG. „Das hier ist wirklich am Abstellgleis. Toter als tot.“ Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. 2020-3, 231-49